Die Särge wohnten in einem kleinen Sargladen voll mit Gaslampen. Es war sehr zugig und kalt. Der Winter hörte in dem Laden nie auf. Und wenn draußen der Märzwind lärmte, dann wurde es im Laden November. Tote Blätter fielen ewig von oben herein, die sommers aus den morschen Balken gewachsen waren. Die Totenfrauen kamen zu Besuch. Man kochte Kaffee. Man unterhielt sich. Und die Leichentücher trockneten oben an dünnen Schnuren. Da waren öfters wunderbare Zeichnungen darauf, wo die Toten gelegen hatten. Kleine blaue Inseln, Kontinente, voll von Buchten mit Schiffen. Die Tücher wurden niemals trocken. Sie hingen wie große graue Himmelswolken an der Decke. Es war eine salzige Regenluft. Und eine Lampe hing darin wie ein großer Mond, an dem die Gewitter vorbeistürmten.
Der Ladeninhaber war ein uralter Mann. Er hieß Fakoli-Boli, oder Leben von tausend Jahren. Und sein Bart war so lang, daß er immer mit den Schuhspitzen darauf herumtrat. Wenn er frühmorgens in Unterhosen in den Laden kam, sagten die Särge ihm einen guten Morgen und klappten ihre großen Kinnladen auf und zu. Denn sie waren hungrig. Und dann nahm er die toten Ratten aus der Ecke, dort wo das Rattenkönigreich begann, (denn die Ratten können nichts Totes in ihrem Lande haben, und darum werfen sie ihre Gestorbenen immer über die Schlagbäume der Reichsstraßen) – und warf sie in ihre offenen Schlünde. Während sie verdauten und behaglich wiederkäuten, ging er wie ein Tierbändiger durch ihre Reihen, streichelte ihre großen braunen Leiber und sagte »wartet, wartet, bald gibt es mehr. Wartet. Wartet.« Und die Särge erhoben dankbar ihre großen silbernen Füße, und kratzten ihn wie Hündchen an seinen Unterhosen, und bei seinen Lieblingen – ein paar ganz kleinen Kindersärgen, die erst vor ein paar Tagen geboren waren, bückte er sich tief herunter, daß sein Bart die Kleinen ins Gesicht kitzelte, und sie zwinkerten wie kleine Katzen mit den weißen Augenliderchen, sagten: »Großpapa«, und gaben Pfötchen. Dann nahm er sie in seine Arme, schaukelte sie hin und her, bis sie wieder eingeschlafen waren. Und die ganz kleinen gab er den alten großen weißen Wöchnerinnen-Särgen an die Brust. Und wenn die kleinen Särge den Leichensaft aus deren Holz schmatzten klang es wie Musik und es war ein schönes Familienbild aus der norddeutschen Tiefebene.
So ging es Tag für Tag. Es konnten schon hunderttausend Tage vergangen sein, oder auch zehn. Ab und zu wurde einer der Särge fortgeschickt, um einen Toten abzuholen. – Aber es war immer sehr langweilig, – wenn die Trauerleute mit ihren schmutzigen Füßen und verweinten Gesichtern in den Laden kamen, und um den Sarg handelten. Die Särge waren dann sehr böse. Jeder drückte sich möglichst in die Ecke. Aber schließlich wurde doch einer genommen. »Ich möchte genau so einen wie bei Ramumpa-Mumpa, wissen Sie, wo die Großmutter starb, wissen Sie, die über sieben Jahre gelebt hatte, wissen Sie, die mit dem Orden für das lange Leben, der ihr nachher in die Gurgel eingewachsen war, wo soviel Dreck war, weil sie sich niemals gewaschen hat.« »Ach ja, so einen. Aber wollen Sie nicht lieber einen, wie bei dem Schaloila-Loilas. Der alte Präsident ist damals gestorben, der König ist noch selber mit zum Grab gegangen. Als er wiederkam, war an seinem Thron ein Stuhlbein zerbrochen, die Maden kamen schon an der anderen Seite wieder heraus, und hatten ganz staubige Barte. – Und nach drei Tagen war er tot. Und ich habe auch den Sarg geliefert, da oben auf dem Brett, so einen wie den mit der Krone und den allegorischen Darstellungen, vom Tod als Hirten, vom Tod als Feuermann, vom Tod als säendem Engel – alles aus der Bibel mit Sprüchen.« – Gott, das ging so ewig weiter und die Särge hätten sich gern die Ohren zugehalten. Aber das ging nicht. Das wäre gegen ihren Vertrag gewesen. Der § 8 lautete.
((§339 und §340 B.G.B.))
Jeder Sarg hat während der Besuche von Personen aus dem Publikum – ausgenommen die Familie Palipa-Lipas und Klikli-Liklis – (welche die Totenfrauen und Leichenwäscher stellten und Schmiergelder erhielten – Anmerkung des Verfassers) absolutes Stillschweigen zu bewahren bei einer Konventionalstrafe von tausend Mais- und siebzig Hirsekörnern. –
Endlich wurde dann ein Sarg vorgeholt. Er brummte gewaltig. Und die Leute sagten: »Der knarrt ja so.« »Ach, das ist nur eine optische Täuschung. Sie haben zu schlechte Ohrgläser.« Sagte der Ladeninhaber. – Schließlich lag er draußen auf dem Leichenwagen unter dem schwarzen Baldachin, winkte noch einmal mit dem Taschentuch – und verschwand. Dann kam er in das Trauerhaus, wo es nach Weihrauch stank. – Eine nasse Leiche wurde in ihn hereingelegt. – Man behandelte ihn jedenfalls äußerst roh, und entblödete sich nicht, große Nägel quer durch seinen Schädel zu treiben. Mit einem Gedonner, daß ihm die ganze Hirnschale knallte.
Später lag er eine Zeitlang mit dem Toten in der Erde – manchmal machte er noch ein bißchen Krach – besonders wenn es ein Scheintoter war, der ihm von innen die [Haut zerkratzte]. Scheußlich war das. – Dann wurden die Toten verdaut, was manchmal einen ganzen Winter dauerte, an der Leiche des Stefan George war sogar zwei Jahre gekaut worden, denn sie war so hölzern und dürr, daß der betreffende Sarg schon glaubte, sie hätte ein jahr der seele verschluckt.
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Der Dieb. Ein Novellenbuch von Georg Heym. (postum hg. 1913)
Bei Georg Heyms „Der Dieb, ein Novellenbuch“ handelt es sich um einen Buch mit expressionistischen Kurznovellen: „Der fünfte Oktober“, „Der Irre“, „Die Sektion“, „Jonathan“, „Das Schiff“, „Ein Nachmittag“ und „Der Dieb“. Wir lesen Porträts von Außenseitertypen, deren aufgestauter Lebenshass entweder in physische Gewalt umschlägt oder die an der psychischen Gewalt einer kalten Umwelt zugrunde gehen. Was der Mensch nicht dahinrafft, erledigt schließlich die Natur. Doch alle, ob nun verroht oder sensibel, scheinen sie eins zu suchen: Halt, Verständnis, Liebe. Der Irre sehnt sich auf seinem Rachefeldzug, in Momenten, in denen ihm seine Schreckenstaten bewusst werden, nach dem verhassten Arzt. Jonathan muss die Sehnsucht nach Wärme und Zuneigung mit seinen zwei Beinen bezahlen. Am abstraktesten wird die Sehnsucht nach Beachtung in der Liebe des Diebes zu da Vincis „Mona Lisa“, die ihre ablehnende Haltung und Arroganz gegen ihn mit der Vernichtung büßen muss. Dem Leser bleibt die Erkenntnis: „Wir alle sind Jäger und Gejagte, Täter und Opfer. Das Glück lässt sich ohne Leid nicht erfahren.“ Uns bleibt die Ungewissheit, ob man Heyms einziges Prosawerk großartig oder abscheulich finden soll.
Weiterführend →
In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.