Kristallin

 

„Die Menschen sind so seltsam“, sagte ich. „Einmal lief ich in der Nacht auf dem Glatteis, das unter der dünnen Schneedecke lag, nach Hause. Da hörte ich hinter mir Schritte, die immer näher kamen, und eine Stimme sagte: ‚Kann ich Ihnen helfen?’ Die Worte kratzten in der eisigen Luft. So sprechen Schauspieler, wenn sie ihre Rolle memorieren. Die im Netz der Kälte eingefrorene Stimme kam mir bekannt vor. Ich wagte nicht, mich umzudrehen, obwohl ich sehr neugierig war zu erfahren, wer mir da behilflich sein wollte. Ich hatte Angst zu fallen, mit jedem Schritt spürte ich die Drohung der Gravitation. Ich erblickte die an mir vorbei stoßende Wölkung des im Laternenlicht glitzernden Atems, als eine Hand meinen Arm ergriff und mich festhielt, dann schob sich ein lächelnder Kopf vor – es war Toussaint, mein Nachbar im ‚Dragon’! Er starrt mich an und zieht ruckartig seine Hand wieder zurück, seine Augen vereisen und, den Mund aufstülpend, schubst er mich auf dem Glatteis von sich weg und rennt auf und davon.“ Stella schloss die Augen und schwieg kopfschüttelnd. „Und dann?“, fragte sie. „Ich weiß es nicht“, sagte ich leise, „ich glaube, er war so überrascht, mich zu treffen, dass er seine Enttäuschung nur dadurch überwand, dass er im Moment des Erkennens für immer mit mir brach.“ Stella schaute mich an: „Das kann ich nicht glauben.“ „Ich habe keine bessere Erklärung“, sagte ich und schaute mit halb geschlossenen Augen ins Leere, „anders kann ich ihn nicht retten.“ „Muss das sein?“, fragte sie. „Ja“, sagte ich, „es geht ja auch um mich.“

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.