Wenn unser Leben Wahn und Fraß ist, dachte ich, dann ist der Wahn Leben ohne Fraß, und Fraß ist Leben ohne Wahn, ja, das Leben wird zur tödlichen Sucht. ‚Und die Kunst?’, fragte ich Großvater, ‚ist sie auch ein Wahn?’ ‚Nun ja’, sagte er zögernd‚ ‚in einem gewissen Sinn ist ein Künstler, von seinem Werk her gesehen, wahnsinnig. Der eigentliche Wahnsinn liegt darin, dass der Wahn des Künstlers, der in sein Werk eingeht, wahr ist.’ Ich schwieg. ‚Das Wunder der Zeugung ist bei den Ausscheidungsorganen angesiedelt … Feuer und Wasser … Wahn und Fraß … zwischen diesen beiden Polen liegt alles, was wir Leben nennen.’ ‚Also auch die Religion’, sagte ich. ‚Ja, auch die Religion’, sagte er. ‚Und die Religion und die Kunst sind derselbe Wahn?’ ‚Ich weiß es nicht’, sagte er, ‚ich weiß auch nicht, ob ich es hoffen soll.’ ‚Aber deine geistlichen Motetten, Kantaten, Orgelmessen –’ ‚Ich komponiere in den Formen der geistlichen Musik, aber ich schreibe mit meinen Noten kein Credo. Ich bin ein Künstler, ich glaube nur an mich selbst – und an mein Werk, das ist vielleicht dasselbe. Mein Verstand sagt mir, dass Gott nicht existiert. Mein Gefühl sagt nichts anderes. Gott ist eine Variable für das, was wir nicht verstehen. Gott ist nur eine Idee.’ ‚Vielleicht eine Idee in uns – von ihm’, sagte ich. Großvater lachte. Er legte sich aufs Bett: ‚Gott gibt es nicht’, sagte er. ‚Es hat ihn nie gegeben. Es kann ihn nicht gegeben haben und es wird ihn nie geben, der nie war, der nicht ist, der nie sein wird. Ich habe nie an ihn geglaubt.’ Nach einer Weile dann: ‚Der Tod ist die stärkste Kraft.“ Großvater streckte den Arm aus und deutete mit der flachen Hand auf den Stuhl neben dem Bett. Ich las seine schwarze Filzstifthandschrift: ‚Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten.’ ‚Das ist Gott egal’, sagte ich. Großvater lächelte. ‚Wenn es ihn gäbe, wäre er auf meiner Seite.’ Wir schwiegen. ‚Ich glaube, du willst mit dem Leben abschließen’, sagte ich dann. ‚Kann sein’, sagte er. Er erzählte mir von der Glocke, die er der Kirche vor vielen Jahren stiftete. ‚Den Klöppel haben die Damen des Puffs beigesteuert. Die sind ehrlicher als die Kirchenleute’, sagte er. ‚Die Priester sind eitel, noch eitler als ich. Ich muss ja als Künstler sein wie Gott. Aber die Priester müssen Gott die-nen, am besten lassen sie die Finger von der Kunst.’ Der kunstsinnige Pater von ‚St. Chillida’, erzählte er, habe den alten Altar seiner Kirche in die Sakristei tragen und einen aus drei weißen Marmorblöcken bestehenden Altar aufstellen lassen, im Dienst an der Kunst, aber dann auf Verlangen des Erzbischofs ins Seitenschiff versetzen müssen. Ein Altar sei ein ungeteilter Opfertisch, so der Erzbischof. Die Deutung, die Dreiteilung spiele auf die Dreieinigkeit an, habe die Kurie nicht gelten lassen, es bestehe auch die Gefahr, dass die Gemeinde in dem zerstückelten Altar eine brüchige Kirche sehe. Una sancta eccclesia catholica! Da habe der Pater einen neuen Opfertisch im Altarraum aufgestellt, wieder aus weißem Marmor, aber dünnwandig und hohl – ein Campingtisch. Den habe der Pater dem Großvater voller Stolz gezeigt. Man sehe, habe er zu dem Pater gesagt, wie hohl die Kirche sei … Nun ja, habe der geantwortet, jedenfalls una, also ungeteilt, aus einem Stück, und sancta – und catholica allemal. Großvater forderte mich auf, ihm vom Spinett in der Mitte des Zimmers ein Exemplar seiner Biographie zu bringen, die sein Nachfolger im Organistenamt kürzlich geschrieben hat. Er schlug das Buch auf und schrieb auf die Innenseite des hinteren Buchdeckels mit schwarzem Filzstift. Ich schaute ihm von der Seite dabei zu. Er malte Buchstabe für Buchstabe. Die Augen schienen zu lachen, aber der Mund blieb ernst. Großvater gab mir das Buch zurück: ‚Ich will eingeschläfert werden.’ Ich erschrak. ‚Das ist mein Testament’, sagte er, ‚in Wahrheit auch nur ein Wahn.’ Testament? Auf dem Nachttisch eine weiße Schachtel Valium. Ich schüttelte den Kopf. Der Tod – nur ein Wahn? Der Tod ist das Nichts. Aber das sagte ich nicht. Großvater wies auf einen Zeitungsartikel neben den Tabletten. Ein Bericht über sein letztes opus. Auf dem Stuhl lagen die gedruckten Noten der Motette ‚Ja, ich komme bald.’ ‚Ich sitze am Tag zwei Mal für ein paar Stunden am Fenster und komponiere. Ich habe nur noch das Spinett. Mir fehlt die Orgel. Aber ich kann mit den wunden Füßen nicht mehr spielen.’ … Schwälende Tage … ‚Mir fehlt der Blick auf das Maßwerk von St. Peter. Jetzt schaue ich aus dem Kellerloch, in dem ich hause, auf die Astern vor meinem Fenster, auf mein Grab.’ … Noch einmal das Ersehnte, den Rausch … ‚Meine Augen sind schwach, ich sehe die Noten nur verschwommen. Manchmal improvisiere ich auf dem Spinett.’ Seine Kompositionen höre er im Kopf. Vom Bett aus könne er die Fernsehbilder ahnen und sich den Film vorstellen. ‚Aber meistens lasse er den Fernseher ausgeschaltet.’ … Und streife die Fluten und trinke Fahrt und Nacht … Ich dachte immerzu an Benns Gedicht, an den nahenden Tod, als ich Großvater mit seinem langen weißen Bart im Bett vor mir liegen sah, die eingewickelten Füße in dicken Pantoffeln steckend, der sterbende Gott Gottes. Eine bizarre Predella. Darüber das Nichts der weißen Wand … Großvater wurde müde. Als wir uns verabschiedeten, gab er mir die Hand und sagte: ‚Das ist das Ende.’“
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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022
Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
Weiterführend →
Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.