Kleists erste gedruckte Prosa

Er bestrich sich Stirn und Brust, unwissend, was er aus seinem Zustande machen sollte, und ein unsägliches Wonnegefühl ergriff ihn, als ein Westwind, vom Meere her, sein wiederkehrendes Leben anwehte, und sein Auge sich nach allen Richtungen über die blühende Gegend von St. Jago hinwandte.

Man kann es sich heute nicht mehr vorstellen, auch Heinrich von Kleist war einmal ein Jungautor. Seine erste Veröffentlichung war die Novelle Das Erdbeben in Chili. Sie erschien zunächst 1807 in Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“ unter dem Titel Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647. 1810 erschien sie erneut unter dem nun bekannten Titel im ersten Band der Erzählungen.

Das Grundgerüst der Handlung geht auf den Roman Les Incas. Ou la Destruction de l’Empire du Pérou (1777) von Jean-François Marmontel zurück; dort ist es Alonzo Molina, ein spanischer Konquistador, der eine eingeborene, der Sonnengottheit geweihte Jungfrau, Cora, begehrt. Molina will in Peru die Indios zum Christentum bekehren und sie vor Plünderungen seitens der Konquistadoren schützen; aber erst durch ein Erdbeben, das den Tempel, in dem Cora festgehalten wird, zerstört, kommen beide zusammen. Cora wird schwanger; als dies erkannt wird, soll sie hingerichtet werden, denn sie hat gegen das Keuschheitsgelübde verstoßen. Molina stellt sich dem Gericht und hält ein Plädoyer für christliche Vergebung und die Gestattung von natürlichen Gefühlen, wie der Liebe zu Cora. Die Indios werden davon überzeugt, Alonzo und Cora heiraten; doch bei einem Überfall der Konquistadoren unter Pizarro fällt Alonzo, Cora stirbt mit ihrem Kind auf dem Grab ihres Mannes vor Gram.

Während das Erdbeben von 1647 in Santiago de Chile (bei Kleist „St. Jago, die Hauptstadt des Königreichs Chili“) die historische Vorlage für den Text bietet, ist ideengeschichtlich vor allem das Lissabonner Erdbeben von 1755 für Kleist Anlass gewesen. Auch andere zeitgenössische Philosophen und Dichter, wie Poe, Voltaire, Rousseau und Kant, verwendeten dieses Thema, um unter anderem das Theodizeeproblem zu diskutieren. Die Theodizee, die Frage also nach einem allmächtigen und guten Gott angesichts von Leid und Ungerechtigkeit in der Welt, wurde in der Aufklärung prominent von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) behandelt, der zum Schluss kam, die existierende Welt sei die bestmögliche Welt. Das Erdbeben von Lissabon stellte diese Formulierung erneut stark in Zweifel. Neben der Theodizee-Debatte ist auch der Diskurs über den Naturzustand für Kleists Gedankengang bedeutsam. Rousseaus These, dass in einer ursprünglichen, eigentumslosen Urgesellschaft der Mensch edel und gut sei, forderte die traditionelle Auffassung des von Geburt an bösen Menschen die Erbsündeheraus:

Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben; […] Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.

Rousseaus These war, dass der Mensch, wenn er in den Naturzustand zurückkehre, wieder moralisch gesunden werde. Dies wurde kontrovers debattiert und heftig von kirchlicher und konservativer Seite abgelehnt. Kleists Erzählung ist sowohl eine Antwort auf die Frage nach der Theodizee als auch auf die Frage nach dem natürlichen Gut-Sein des Menschen.

Konkreter auf die Biographie Kleists bezogen war der Hintergrund die Niederlage Preußens im Krieg gegen Frankreich 1806 (Schlacht von Jena und Auerstedt), verbunden mit einer katastrophalen, kurzzeitigen Außerkraftsetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Kleist verfasste die Arbeit wahrscheinlich in seiner Königsberger Zeit (Mai 1805 bis August 1806). Er war von Januar bis Juli 1807 in französischer Kriegsgefangenschaft; während dieser Zeit vermittelte sein Freund Otto August Rühle von Lilienstern (1780–1847) das Werk an den Verleger Cotta.

 

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Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist erschien zunächst 1807 in Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“ unter dem Titel Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647. 1810 erschien sie erneut unter dem Titel Das Erdbeben in Chili im ersten Band der Erzählungen.

Heinrich von Kleist, Reproduktion einer Illustration von Peter Friedel, die der Dichter 1801 für seine Verlobte Wilhelmine von Zenge anfertigen ließ

Weiterführend

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.