Stella schreibt mir einen Brief

 

Der Portier im Dragon gibt mir den Umschlag. Ich war gerade bei ihr. Warum schreibt sie mir, wenn wir uns täglich sehen?

Erster Eintrag. Ich träumte letzte Nacht von dir, Janus, ich träumte von einem Bild in Blautönen und einer feurigen Farbe oben. Blau der Waldsaum (mit kleinen weißen Tupfern), davor ein zerscherbter See, chamois flimmernd, darüber helle Wolkenfetzen und oben die Sonne … am Ufer ein schwarzer Angler. Ich malte das Bild nicht mit Ölkreide oder Tusche, sondern Sprühfarbe, Hochglanz. Du spottetest, als ich dir das Bild schenkte. Du nahmst es lachend und zündetest es mit einem Streichholz an.

Zweiter Eintrag. Während ich schreibe, fällt mir wieder der Zusammenhang ein, warum ich das Bild malte. Willst du das wissen? Ich fuhr in einem weißen Transporter. Ein Mann, schön wie du, aber Ende vierzig, saß am Steuer. Schwarze, schulterlange Haare fielen auf sein weißes Hemd. Er erzählte mir von seiner verstorbenen Liebe, da geriet der Wagen durch heftiges Gestikulieren aus der Bahn. Der blaue Fluss kam auf uns zu. Ich schrie: Achtung!, aber der Mann reagierte nicht. Dann war es ganz still, wir saßen starr, und während wir ins Wasser tauchten, sah ich am anderen Ufer einen dunkel gekleideten Mann, der angelte. Ich will dich angeln, äugiger Fisch … Suche ich den Mann, der mich mehr liebt als du? Die Scheiben platzten vom Druck des Wassers. Salzschnee füllte den Raum.

Dritter Eintrag. Ich hatte Angst. Die Hand des Fahrers packte mich. Wie er blau anlief, als er sich nicht losschnallen konnte! Der Transporter sank immer tiefer. Ich riss den Gurt auf und schwamm zum Fenster hinaus … Ich hatte Angst, zu spät zur Vorlesung zu kommen (genau, so war es!). Dabei tauchte ich auf, als der Morgen graute. Ich hörte Glocken in der Ferne. 8 Uhr. Schnell stieg ich aus dem Fluss. Als ich auf der Straße war, konnte ich nicht laufen (ich konnte nicht mehr gehen). Ich kroch auf allen Vieren über glühende Kohlen. – Am Tor standen die Studenten, die frei hatten. Ich stieg auf steilen Treppen empor, lief durch enge Gänge und klopfte endlich an die Tür. Nass und stinkend betrat ich den Saal und setzte mich neben dich. Ich wollte mich entschuldigen, aber du sagtest, zur Strafe zeichnest du ein Bild deiner Verspätung! Du bist doch so von deiner künstlichen Ader überzeugt (Du sagtest künstliche Ader!). Das waren deine Worte. Das warst nicht du, es war dein Körper. Also tat ich, was du verlangtest. Ich male mein Bild …

 

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.