Im Mittelpunkt der Novelle Mario und der Zauberer steht die Frage nach der Willensfreiheit. Nicht nur die zahlreichen hypnotischen Erfolge Cipollas thematisieren deren Grenzen, sondern auch das immer wieder (von ihm selbst) in Frage gestellte Verhalten des Erzählers, der eigentlich abreisen will, sich aber dennoch irgendwie mit einem merkwürdig gemischten Gefühl aus Angst, Spannung, Bewunderung, Neugier und Hass über seine eigenen Skrupel hinwegsetzt. Einem jungen Mann, der bei einem Kartentrick fest entschlossen ist, den hypnotischen Künsten zu widerstehen und seinen Eigenwillen gegen den Willen Cipollas durchzusetzen, antwortet dieser:
Sie werden mir … damit meine Aufgabe etwas erschweren. An dem Ergebnis wird ihr Widerstand nichts ändern. Die Freiheit existiert, und auch der Wille existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere. Sie sind frei, zu ziehen oder nicht zu ziehen. Ziehen Sie aber, so werden Sie richtig ziehen, – desto sicherer, je eigensinniger Sie zu handeln versuchen.
Die oft formulierte Reduzierung der Handlung auf eine bloße Faschismusparabel wird dem Werk nicht gerecht. Beschrieben werden die Grundkonstituenten menschlichen Handelns im Verständnis von Thomas Manns Weltsicht, z. B. die Verführbarkeit zum Tode und die Sehnsucht nach der Ganzheit. Hier lassen sich Verknüpfungen zur faschistischen Bewegung der 1930er Jahre erkennen, die, oberflächlich betrachtet, in einer ähnlich erscheinenden Geisteshaltung zu suchen sind. Außerdem sieht die heutige Forschung in Cipolla eine ex negativo überzeugend dargestellte Künstlerfigur, die ihre körperliche Verwachsenheit durch äußerste Willensanspannung mit zweifelhaftem Erfolg ausgleicht und erkennt insofern in Mario und der Zauberer in erster Linie eine weitere Variation der typisch mannschen Künstlerproblematik.
Angesichts des tödlichen Ausgangs der Novelle könnte man annehmen, Thomas Mann wolle den Lesern den Ratschlag geben, in einer Diktatur aktiv zum Befreiungsschlag auszuholen und sich notfalls auch mit drastischen Mitteln ihrer Demagogen zu entledigen. 1940 schreibt er in „On Myself“ über die von ihm gesehene Wirkung in Deutschland: „Die politisch-moralistische Anspielung, in Worten nirgends ausgesprochen, wurde damals in Deutschland, lange vor 1933, recht wohl verstanden: mit Sympathie oder Ärger verstanden, die Warnung vor der Vergewaltigung durch das diktatorische Wesen, die in der menschlichen Befreiungskatastrophe des Schlusses überwunden und zunichte wird.“
Dennoch sind aus einem Briefwechsel Manns mit dem Schriftsteller Otto Hoerth vom 12. Juni 1930 anfänglich andere Intentionen ersichtlich: „Da es Sie interessiert: Der ‚Zauberkünstler‘ war da und benahm sich genau, wie ich es geschildert habe. Erfunden ist nur der letale Ausgang: In Wirklichkeit lief Mario nach dem Kuß in komischer Beschämung weg und war am nächsten Tage, als er uns wieder den Tee servierte, höchst vergnügt und voll sachlicher Anerkennung für die Arbeit ‚Cipollas‘. Es ging eben im Leben weniger leidenschaftlich zu, als nachher bei mir. Mario liebte nicht wirklich, und der streitbare Junge im Parterre war nicht sein glücklicherer Nebenbuhler. Die Schüsse aber sind nicht einmal meine Erfindung: Als ich von dem Abend hier erzählte, sagte meine älteste Tochter: ‚Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er ihn niedergeschossen hätte‘.“
So behauptet Mann klar, dass er mit diesem Werk nicht politisch agieren wollte, sondern – im Nachhinein vielleicht unbewusst – ein Stück faschistischer Zeitatmosphäre eingefangen habe. In späteren Briefen 1932 schließt Thomas Mann politische Anspielungen allerdings nicht aus. So heißt es in einem Brief aus dem Jahre 1941 an Hans Flesch: „Ich kann nur sagen, dass es viel zu weit geht, in dem Zauberer Cipolla einfach die Maskierung Mussolinis zu sehen, aber es versteht sich andererseits, dass die Novelle entschieden einen moralisch-politischen Sinn hat.“
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Mario und der Zauberer – Ein tragisches Reiseerlebnis ist eine Novelle von Thomas Mann, die 1930 zunächst in Velhagen und Klasings Monatsheften publiziert wurde und anschließend im S. Fischer Verlag erschien. In psychologischem Realismus schildert Mann darin die Wirkungen eines im faschistischen Italien hereinbrechenden Dämons anhand der Figur des Showhypnotiseurs Cavaliere Cipolla.
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Über Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig findet sich hier ein Artikel. Zum 50. Jahrestag des Erscheinens liest Ulrich Bergmann Thomas Manns Doktor Faustus. War’s nicht auch bei dem von ihm geschätzten Thomas Mann so – im Kleid des vollendeten Realismus gebar er eine deutsche Variante des magischen Erzählens lange vor Marquez und Co. Und Bergmanns Überlegungen Zum Schluss des Zauberbergs.
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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.