Im Mittelpunkt der Novelle steht die Begegnung des aussätzigen Einsiedlers Diastasimos mit Jesus in einer Höhle unweit von Bethanien wenige Tage vor der Kreuzigung. Aus dem Rückblick rekonstruiert der alte Weise auf Bitten seiner beiden Besucher, Jesus-Jüngern der zweiten Generation, die Ereignisse seiner Erkrankung und Heilung, mit dem erklärten Ziel, eine „Lehre“ zu erteilen. Neben der eigentlichen Botschaft Jesu steht die Problematik ihrer Überlieferung im Zentrum der Novelle, die den Übergang von mündlicher Erzählung zur schriftlichen Fixierung kritisch reflektiert.
Riverside ist eine Novelle klassischen Zuschnitts mit einer starken Tendenz zum klassischen Drama der Antike. Eine zeitlos-existentielle Problematik wird anhand eines Einzelfalls vor dem historischen Hintergrund der frühchristlichen Bewegung aufgerollt und einer Lösung zugeführt. Das herausgehobene Ereignis besteht im Verlust des Glaubens, modern gesprochen: im Verlust des Lebenssinns. Äußeres Anzeichen ist die tödliche Krankheit, die den Helden schicksalhaft ereilt. Initiator der Heilung ist Jesus, der – genau in der Mitte der Novelle und am Tiefpunkt der Krise – in Diastasimos‘ Höhle erscheint. Seine Botschaft ist die eigentliche Neuheit (ital.: „novella“), von der Riverside erzählt, das Nie-Gehörte bzw. „Unerhörte“, das Goethe der Novelle als konstitutives Merkmal zuschrieb.
Organisiert ist der Stoff nach dem Typus der Rahmenerzählung, einer charakteristischen Erzählform novellistischer Prosa, die eine mündliche Erzählsituation bewirkt. Diastasimos fungiert als Rahmen- und Binnenerzähler, der seine Geschichte in Form von vier Rückblenden entfaltet, die die Zeitspanne 28 bis 33 n. Chr. umfassen und stets wieder in den Rahmen zurückmünden. Bezieht man den zu Anfang und Ende der Novelle auftretenden anonymen Ich-Erzähler mit ein, der sich zuletzt als Tabeas enthüllt, wäre von einem zweiten Rahmen zu sprechen. Die doppelte Rahmung rückt das Mysterium der Heilung in eine objektive Distanz und verleiht ihr die Dimension des archetypisch Zeitlosen.
Ein weiteres Charakteristikum der Christusnovelle ist die poetische Verdichtung, die u. a. in der Durchwebung des Textes mit Dingsymbolen sichtbar wird, wie z. B. dem Gewand, das zu Beginn der Handlung aufgehängt und am Ende zugetragen wird, der zweifachen Waschung der Sichel, die den Ausbruch der Krankheit und deren Überwindung markiert. Eng mit der grundlegenden Erneuerungssymbolik verknüpft, die Riverside leitmotivisch durchzieht, ist die Ernte-Metaphorik. Sie erscheint zu Anfang im Bild der Leiter, die als Pflug fungiert. In diesen Zusammenhang gehört auch der Balken, den der Knecht in Präfiguration der Kreuzigung als Last auf dem Rücken trägt: Er ist aus demselben Stamm geschnitzt wie Leiter und Schwelle. Wie das Kreuz selbst repräsentieren diese Gegenstände traditionelle Symbole der Wandlung.
Riverside ist ein Beispiel für die enge Verwandtschaft von Novelle und Drama. Gemäß der dramentheoretischen Vorschrift des Aristoteles ist der Text nach dem Prinzip der Drei Einheiten konzipiert: Er besitzt eine einheitliche, geschlossene Handlung, die sich im Zuge eines Nachtgesprächs am Lagerfeuer der Höhle entfaltet. Der Stoff ist szenisch-dialogisch arrangiert und der Handlungsbogen folgt musterhaft dem Spannungsaufbau des klassischen Dramas – mit typischen Elementen wie Exposition, Peripetie, Anagnorisis und Lysis.
Der Plot ist nach dem Prinzip des analytischen Dramas konzipiert. Das Ereignis, das den Konflikt begründet, liegt in der Vergangenheit und wird mit Beginn der Handlung vorausgesetzt. Die vergangenen Geschehnisse werden im Verlauf der Handlung schrittweise rekonstruiert und einer Lösung zugeführt. Für das charakteristische Zusammenfügen der „Wahrheit“ etabliert die Novelle, die zugleich ein typisches Enthüllungsdrama ist, gleich zu Anfang das Bild vom „Zusammensammeln“ des Zerstreuten, das sich im wiederholenden Erzählen zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzt. Wie in der griechischen Tragödie führt die sinnsuchende Aufdeckung der Vergangenheit zu einer Veränderung der Gegenwart: Diastasimos gibt sich am Ende seiner Erzählung seinen Söhnen als Vater zurück.
Die außergewöhnliche Sprache von Riverside gleicht in Rhythmus und Tonlage dem späteren Roman Sunrise – Das Buch Joseph. Gemeinsames Kennzeichen ist der antikisierende und biblische Duktus der Rede. Der antikisierende Effekt zeigt sich in der Inversion der Satzglieder („Und sind jung, treten ein, Andreas und Tabeas, naßquerend die Ackerfurchen der Leiter“, 11), sowie im Heranziehen der Reflexivpronomen und Hilfsverben ans Verb. Der „Sound“ des Biblischen vermittelt sich in der Neigung zur Parataxe („Und taucht, so getan, aus dem Dunkel dort auf, und nähert sich der Glut des Feuers. Und hockt davor hin und bläst hinein in die Flamme und wärmt sich die Hände“, 10) und in charakteristischen Wendungen, die die Evangelien imitieren („Und siehe“).
Die für heutige Ohren fremd klingende Sprache stimmt auf das Nicht-Alltägliche, Heilige ein, von dem die Novelle im Kern erzählt. Allerdings ist die archaische Sprache auffällig mit Kolloquialismen durchmischt, Wendungen und Redensarten wie „Du bist gut!“, „Raus damit!“, jemanden „schlagen, daß die Fetzen fliegen“, eine „Lehre verpassen“ usw. Es handelt sich um ein rhetorisches Mittel, das Historisierende der Sprache ins zeitgenössisch Gegenwärtige zu brechen und altes Weisheitswissen als gegenwärtig und aktuell zu begreifen.
Die Geschichte des Diastasimos ist im Kern eine Variation auf die im Buch Hiob erzählte Geschichte des frommen Mannes aus dem Land Uz, den Gott eines Tages ins Unglück stürzt und einer schweren Prüfung unterzieht. Im Buch Hiob wie in Riverside äußert sich der grundlegende Konflikt zwischen Mensch und Gott in einem schweren Hautleiden. Das im Hintergrund liegende Bild einer widerspruchsvollen, dunklen Gottesfigur steht im Zentrum der Unterhaltungen in der Höhle des Diastasimos, in dem die Besucher die Rolle der „Freunde“ einnehmen; sie verteidigen Gott als gut und gerecht und sprechen dem Menschen die Alleinschuld an seiner Not zu. Neben dem Hiob-Mythos sind zahlreiche offene und verdeckte Bilder und Entlehnungen aus den Evangelien in die Darstellung eingeflossen, darunter wörtliche Zitate aus dem apokryphen Thomas-Evangelium.
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Riverside. Christusnovelle ist das literarische Debüt von Patrick Roth aus dem Jahr 1991 und bildet zusammen mit Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten (1993) und Corpus Christi (1996) den ersten Teil der Christus Trilogie (1998).
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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.