Die Entdeckung der Currywurst

Das Hohelied auf ein unspektakuläres Frauenleben […] Der Autor versteht es, das Geflecht menschlicher Beziehungen auszuleuchten. Sinnlichkeit, Heiterkeit, Bitternis und Trauer sind in dieser Geschichte so ineinander verwoben, dass sie zum nachhaltigen Lektüreerlebnis wird.“

Ursula Reinhold

Ein nicht mehr ganz junger Mann fährt nach Hamburg, der Stadt seiner Kindheit. Dort besucht er siebenmal Frau Brücker, die ehemalige Besitzerin einer Imbissbude, im Altenwohnheim und lässt sich von ihr eine längere Episode ihres Lebens erzählen.

Ausführlich werden die letzten Kriegstage ab dem 29. April 1945 und die zeitgeschichtlich geprägten privaten Erlebnisse der zu diesem Zeitpunkt 43-jährigen Frau geschildert:

Bei einem Kinobesuch lernt Frau Brücker den Bootsmann Hermann Bremer kennen, sucht zusammen mit ihm in einem Luftschutzkeller Schutz und nimmt ihn nach der Entwarnung mit zu sich nach Hause, wo er auch als Fahnenflüchtiger bleibt. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder, 16 und 20 Jahre alt. Er ist verheiratet und hat ein neugeborenes Kind. Diese Tatsachen verschweigt er ihr allerdings, was sie später immer wieder als Ausflucht dafür benutzen wird, ihm ihrerseits das Kriegsende verschwiegen zu haben. Bremer versteckt sich in Lena Brückers Wohnung. An den Abenden und nachts widmen sie sich ihrer Liebe. Obwohl Bremer vom Fenster aus den Einmarsch der Engländer sehen kann, dichtet er sich eine Wunschwelt, in der die Engländer mit den Deutschen gemeinsam gegen die Russen ziehen. Zu Bremers Konstrukt muss Lena Brücker nur einige „Notlügen“ beisteuern.

Als Lena Brücker dann Bilder vom Massenmord an den Juden in der Zeitung sieht und dies Bremer etwas verändert erzählt, kann sie sich nicht zurückhalten. Sie schreit Bremer an und teilt ihm mit, dass der Krieg verloren ist. Später ist Bremer fort.

Nach dem Krieg muss Lena Brücker eine neue Methode zum Überleben finden, und im Zuge ihrer Anstrengungen und als Folge zahlreicher Verwicklungen und Zufälle wird sie schließlich die Currywurst erfinden. Die Erlebnisse mit Bremer haben den Schlusspunkt für ihre Liebesmöglichkeiten gesetzt, und ihre Imbissbude wird die Grundlage für ihren weiteren Lebensunterhalt, die Currywurst ihr Markenzeichen. Als der Erzähler Frau Brücker zum letzten Mal besuchen will, erfährt er, dass sie verstorben ist.

Von großem symbolischen Wert ist das Motiv des Strickens: Die Protagonistin Lena Brücker fertigt während der Erzählung einen blauen Pullover an, dessen Farbe für ihre Verbundenheit mit Bremer steht. Der Leser erfährt mit fortschreitender Handlung, dass sie aus nostalgischen Gründen versucht, die ebenfalls blaue Uniform ihres einstigen Geliebten nachzustricken. Mit der Vollendung des Pullovers endet schließlich die gemeinsame Geschichte von Bremer und Lena Brücker – wie auch die Rahmenhandlung des Werks.

In der Novelle werden die großen politischen Ereignisse mit den privaten Beweggründen der Protagonisten verbunden. Die im Krieg selbstständig gewordene Frau nimmt ihren zurückkehrenden Ehemann zwar zunächst wieder in die Wohn- und Lebensgemeinschaft auf, wirft ihn aber bald hinaus und schlägt sich weiter zusammen mit ihren Kindern, aber ohne Ehemann, durchs Leben. Es wird beschrieben, dass die Nachkriegszeit nicht unbedingt ein Wiederaufbau sein musste, sondern dass auch neue soziale Strukturen entstanden. Ob die Entdeckung der Currywurst tatsächlich wie beschrieben stattfand, ist dabei eher nebensächlich.

 

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Die Entdeckung der Currywurst, Novelle von Uwe Timm, Kiepenheuer und Witsch, Köln 1993

Weiterführend

Regelmäßig wird im Zusammenhang mit der Novelle die von Paul Heyse formulierte „Falkentheorie“ angeführt, die die Kategorien der Silhouette (Konzentration auf das Grundmotiv im Handlungsverlauf) und des Falken (Dingsymbol für das jeweilige Problem der Novelle) als novellentypisch benennt. Photo: Ph. Oelwein

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.