Heißzeit

 

Seine Sehnsucht, die in südlicher Richtung verläuft, wo Neapel liegt am Meer, hinter Dieselzügen und Tonbandgeräten, eine europäische Müllhalde. Quallenschwärme bevölkern den Golf und vergiften das Wasser, der Hafen liegt seit Jahren geschlossen. Die Menschen durch­suchen das Strandgut und feiern den Untergang ab, hoffen darauf, dass ihnen Europa nicht ausgeht. Anders als die Engländer, die am Rande des Kanals, in ihrer überfischten Nordseepfütze, die Kreidefelsen tünchen und dänische Namen abschaffen. Eigenständigkeit, zum Uferkiesel gerollt, zu gallertigen Körpern gerundete Feuersteine. Ihren Geburtstag zu feiern mit Shortbread, Blutwurst und Hafergrütze kommen alle gereist, die noch wissen, wo die Ratten einst an Land gingen, die alten Freunde in Sorge. Von Florida aus reisen sie an. Aus Tuvalu, Kiribati und Antarktika. Die Neuseeländer nehmen den längsten Weg. Die Migranten sind als Staat ohne Territorium vertreten. Vielleicht kommt Voss auch. Aber wann kommt das Ende? Die Flaschenpost aus Grönland wird nicht mehr zugestellt, die Menschen, heißt es, seien geflohen. Endlich, das Nichts im Rücken, die Beschlüsse und ewigen Ausreden, traten sie zurück. In seiner Hand hält Voss die Beweise. Vertrocknete Erde, Kot, Abfall. Eilig begrabene Hunde. Mit den Tieren starben die Märchen aus. Auf den steilen Hängen hört er die Ziegen scheppern, kein Regen, der Film ist gerissen. Überall Einbahnstraßen. Zeit, Vorräte anzulegen. Um wieviel besser alles in deutscher Mark. Ein Feldstecher hilft da überhaupt nichts.

 

 

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Heißzeit, von Ralph Pordzik erscheint in der École Noire (Würzburg, 2020)

Heißzeit ist ein Stück experimenteller deutscher Endzeitliteratur im Stil von Jörg Steiners Schnee bis in die Niederungen (1973) oder Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän (1979) und schließt selbstbewusst an diese Tradition an. Sein Protagonist Ludwig Voss ist ein thymotischer pharmazeutischer Kleingeist, engherzig und hasenfüßig, der zu viel Zeit über alternativen Fakten verbringt und sich am Ende in einer paranoischen Deutung der Welt verrennt (die im Text selbst allerdings in sehr differenzierter und satirisch abgezogener Form materialisiert). Möglicherweise ist er für das Attentat auf eine populäre Klimarebellin verantwortlich; vielleicht ist es seinen Anhängern aber auch gelungen, seine Interventionen rückwirkend so umzudeuten, dass er in der Nachzukunft als moralischer Sieger dasteht und sich profitabler für ihre politische Agenda vereinnahmen lässt. Unter Umständen hat er sich die Ereignisse rund um seine Verfolgung eingebildet, und sie sind nur Ausdruck einer Psychose als Spätfolge eines nicht verarbeiteten Trennungsschocks. Voss ist offensichtlich labil.

Die Erzählung verfährt in der Art einer Montage: experimentell, multiperspektivisch, szenisch, auf der Basis von Berichten, (authentischen) Zeitungsmeldungen, Photographien, Depeschen, inneren Monologen und Tagebucheinträgen. In der Art einer Brennlinse fasst ein Ausstellungskatalog in der Zukunft alle Ereignisse unter einem Titel zusammen und fungiert dabei als äußerster Erzählrahmen, der den Vorgängen einen scheinbaren Zusammenhang andichtet. Statt einer objektiv-summarischen Wiedergabe von Wirklichkeit verzichten die darunter wirksamen Erzählstränge jedoch ganz auf die Realität, sammeln vielmehr Zwänge und Phobien, Redensarten, Merkmale und Phantasien anstelle ihres Helden ein: Voss ist nur ein Name, eine Chiffre, für die gefühlte Ambiguitätsintoleranz und Meinungsanfälligkeit unserer Zeit. Die verrätselte Figur wird in ein Labyrinth gesteckt, glaubwürdige Angaben über Raum, Zeit und die Ereignisse selbst finden sich auf Spuren reduziert oder fehlen ganz. Das Beschriebene erklärt sich nicht selbst, der Leser soll scheinbar keinen festen Boden unter den Füßen bekommen. Schließlich geht es ja um nichts Geringeres als die Alternative Wahrheit! Wo der Text Zusammenhänge oder gar Anzeichen einer Fabel zulässt, sind sie mikroskopisch kurz und bitter. Diese Zerstückelung hat allerdings System: Der Protagonist erfährt die Welt mit der ganzen Wucht ihrer Hässlichkeit, Brutalität und Kälte, mehr noch: er ist ihr vollkommenes Symptom. Neben den zwanghaften Gedanken, den Wiederholungen und Ritualen, den Reisen und Fahrten rund um den Globus, ist es die Bewusstheit, mit der sich hier einer einrichtet, inmitten der globalen Erwärmung in der Kälte zu leben, die schockiert. Eine Lösung ist nicht in Sicht, und der Beobachter oder Chronist der Ereignisse hält sich bedeckt: Die Erzählung gibt sich äußerlich die Form eines Begleittextes zu einer Ausstellung, die Projektunterlagen und Notizen des „Pioniers“ Voss mit Fakten zum Klimawandel vermischt (die dabei zunehmend in einem fragwürdigen Licht erscheinen) und nur vereinzelt einen Ich-Erzähler dazwischenschaltet, dessen Autorität aus dem Strang der laufenden Erzählung weder glaubwürdig begründet wird noch an und für sich Anzeichen der Zuverlässigkeit an den Tag legt. Heißzeit verweigert seiner zynisch-lakonischen Berichterstattung und Anlage der Ereignisse damit jede Unterstützung durch Kommentar, Bekenntnis, Erklärung, möchte provozieren und beunruhigen, denn Voss’ Gedanken sind natürlich auch unsere eigenen: eine Melange aus ungerichteter Wut, Angst, Trauer und Vergeblichkeit. Die Erzählung weist ihnen einen wilden und unsortierten Platz in besprochenem, gesinnungsethisch und haltungsjournalistisch überreguliertem Gelände zu. Vielleicht sind Ungewissheit und Ambivalenz, Aggressivität und Mutlosigkeit nie entschiedener in Sätzen formuliert worden, die – ein jeder für sich – wie Seufzer oder Nachrufe klingen und sich gerade deshalb besser einprägen als jede zusammenhängende Geschichte.

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