Bracks Untergang ereignete sich so langsam, dass alle, die das Auf und Ab der Stimmungen und Rauschphasen beobachteten, glaubten, Brack werde sich noch fangen. Wenn ihn Amphetamine und Wodka beherrschten, war er wochenlang nicht ansprechbar. Aufputschmittel reizten Brack, immer schneller zu reden, bis sich die Worte überschlugen, dann stotterte er, und ich verstand kaum, was er sagte. Wodka machte ihn langsam, er sprach dann sehr stockend, formulierte aber immer noch richtige, sinnvolle Sätze. Wodka machte seine Augen schwarz, Amphetamine färbten sein Gesicht kalkweiß.
Eines Tages schrieb Brack Kerners Lied von der Sägmühle ab, das er sehr liebte, und schickte es mir mit der Post. Als ich die Verse las, sah ich das zerbrochene Leben des Freundes.
Vier Bretter sah ich fallen,
Mir ward’s um’s Herze schwer,
Ein Wörtlein wollt’ ich lallen,
Da ging das Rad nicht mehr.
Brack schluckte Thomas Bernhard wie eine Droge. Er fühlte sich den Untergangsgedanken dieser Prosa nahe. „Er wollte Künstler sein, Lebenskünstler genügte ihm nicht, obwohl doch gerade dieser Begriff alles ist, das uns glücklich macht“, heißt es im Untergeher. Was er hatte, genügte Brack nicht, da wollte er lieber unglücklich sein. Er hatte die Freun-din, mit der er alles teilte, aber am Ende verlor er sich in ihr und dachte alles nach, was sie vordachte. Er besaß nicht die Kraft des Genies, das die Schranken mit der Tat durchbricht. In dem Maße, wie er sich von mir entfernte, verlor Brack sich selbst.
…
„Du und Gorki, das passt nicht zusammen“, wiederholte Brack. Na gut, von mir aus, dachte ich. Er lehnte sich zurück: „Kennst du Gorkis Lied vom Sturmvogel?“ „Nein“, sagte ich. „Du kennst Gorkis Sturmvogel nicht?“ „Nein.“ Brack blickte mich an und hob langsam den Kopf: „So schwebt der kühne Sturmvogel stolz zwischen Blitzen dahin über zornbrüllendem Meer; und es ruft der Siegeskünder: O daß der Sturm gewaltiger noch erbrause!“
„Die Metapher der Revolution …“, sagte ich. Brack schwieg. Ich rührte Zucker in den Espresso. Im Russischen sind die Sturmvögel Sturmboten, in französischen Sagen sind sie die toten Seelen der Kapitäne, die ihre Matrosen schlecht behandelten und verdammt wurden, auf den Meeren herumzuirren … „Du hältst es nicht mit der Wahrheit“, sagte Brack. Ich war gelähmt. Ich spürte, wie Brack zu einem großen Schlag ausholte, den er mit kleinen Stichen vorbereitete. „Ich weiß, warum du dich für Michael Jackson interessierst.“ Ich blickte auf Bracks halb geschlossene Augen. „Du hast eine gefährliche Neigung, wie er“, sagte er. Ich fror. „Du verlierst dich in der Form“, höhnte er mit schneidender Stimme, „dein Leben ist ein einziger Moonwalk!“ Totentanz, dachte ich. „Ich suche das Leben, du findest dich im Nichts“, sagte Brack. Ich stand auf, zahlte meinen Espresso und ging, ohne mich noch einmal umzudrehen. Da rief er mir nach: „So überwindest du nicht den Tod!“
Das war im letzten Sommer. Die graublaue Straße, das Eismeer zwischen Brack und mir ließ mich wie-der frösteln, als ich Holgers Totenlied las, das er mir vor Tagen nach Paris schickte:
sitz ich im offnen grab des schädels komm ich
ans tor der wunden wiegt mich der knochentanz
in den schlaf vertieft in das zucken der glieder
vor augen schwarzgefleckt die haut mein toten-
hemd …
***
Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022
Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
Weiterführend →
Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.