Ein fliehendes Pferd entstand im Sommer 1977 als Nebenarbeit innerhalb weniger Wochen. Die Novelle schildert das Aufeinandertreffen zweier Paare mittleren Alters im Urlaub am Bodensee. Die beiden Männer, ehemalige Schulfreunde, haben einen ganz unterschiedlichen Lebensweg hinter sich. Während der Gymnasiallehrer Helmut Halm sich mit seiner Ehefrau Sabine von der Welt zurückzieht und sein Glück darin findet, von der Welt verkannt zu werden, jagt der Journalist Klaus Buch dem Erfolg und der gesellschaftlichen Anerkennung hinterher und sucht die Selbstbestätigung auch bei seiner deutlich jüngeren Frau Helene. Im Lauf der Novelle werden beide Lebenseinstellungen in Frage gestellt. Ihren Höhepunkt findet die Auseinandersetzung der Schulfreunde in einem Segeltörn auf dem stürmischen Bodensee, bei dem einer der Kontrahenten über Bord geht.
Ein fliehendes Pferd war in Walsers Werk in mehrfacher Hinsicht ein Wendepunkt. Die Novelle erwies sich als der Bestseller, auf den Walser, obwohl längst ein etablierter Schriftsteller, lange hatte warten müssen. Der Erfolg bei Publikum wie Kritik brachte Walser die finanzielle Sicherheit, sich vollkommen auf seine schriftstellerische Tätigkeit konzentrieren zu können.
Inhaltlich wurde die Novelle vielfach als Abkehr von Walsers früheren politischen Positionen hin zu einer Neuen Subjektivität gewertet. So urteilte Marcel Reich-Ranicki in seiner lobenden Rezension, Walser habe „offenbar nicht mehr den Ehrgeiz, mit der Dichtung die Welt zu verändern. Er will nur ein Stück dieser Welt zeigen. Mehr sollte man von Literatur nicht erwarten.“ Jörg Magenau übersetzte dies als: „Er hat sich vom Sozialismus losgesagt und bekommt dafür nun den Lohn.“ Walser selbst verwahrte sich gegen eine solche Wertung. „Wo, wo hätte ich diesen Ehrgeiz ausgedrückt, wo? Ich habe immer gesagt: Ein Autor verändert im besten Fall dadurch, daß er schreibt, sich selber.“ Gleichzeitig sei Ein fliehendes Pferd durchaus kein unpolitisches Buch: „Wenn ich die Novelle anschaue, dann scheint mir das kein privater Befund zu sein, wie diese beiden Männer, Halm und Buch auf verschiedene Weise Schein produzieren, Konkurrenzhaltungen leben, die gewissermaßen die Person auffressen.“ Der politische Hintergrund der Novelle sei, dass sie sich nur in unserer Gesellschaft auf diese Weise abspielen könne.
Auch stilistisch bedeutete Ein fliehendes Pferd eine Wende im Werk Walsers. Gerald A. Fetz konstatierte in der Novelle „die diszipliniertere Sprache, die größere Überschaulichkeit der Handlung, die klar nachvollziehbare Fabel – es gibt sogar ‚Action‘! – die abgeschlossenere Form und die allgemeine Verständlichkeit“ gegenüber Walsers früheren Romanen. Joachim Kaiser vermisste deren „tausendmal anfechtbareren, tausendmal herrlicheren Seelen- und Wort-Dschungel“ in der Novelle. Und Martin Lüdke konstatierte, der „stetig steigende Unterhaltungswert“ von Walsers Prosa fordere einen hohen Preis: „Walsers Rückgriff auf die überlieferten literarischen Formen [Novellenform] läuft einher mit dem Rückgriff auf eine längst zerdepperte Bewußtseinsform. […] Martin Walser bewegt sich auf die fließende Grenze zu, die ‚Literatur‘ von ‚Unterhaltung‘ trennt.“
Wie in vielen anderen Werken Walsers ist auch der Protagonist aus Ein fliehendes Pferd mit Zügen seines Autors ausgestattet. So schrieb Paul F. Reitze in einer Rezension der Novelle: „Sein Hauptthema heißt Walser. Die eigene Person wird zerlegt, wird mit dem spitzen Aperçumesser in Viertelstücke und Hälften tranchiert.“ Die Nähe Walsers zu Helmut Halm reicht von dessen Midlife Crisis – Walser selbst war wenige Monate vor Entstehung der Novelle 50 geworden – über die räumliche Umgebung – Walser wohnt in Nußdorf am Bodensee – bis zur kleinbürgerlichen Perspektive Halms. Walser erklärte zur Figurenkonstellation in Ein fliehendes Pferd: „ich war, als ich das Buch schrieb, der Meinung, ich vertrete mit meiner Spielfigur Helmut Halm einfach meine eigene Position gegenüber einer Reihe von Figuren, die ich in Wirklichkeit kenne und die ich zusammengefasst habe in der Figur Klaus Buch.“ Andere Leser sahen in den beiden männlichen Protagonisten zwei Seiten von Walsers Persönlichkeit. Laut Hans-Erich Struck sei Walser wie Klaus Buch ein guter Segler und er besitze wie dieser eine besondere Empfindlichkeit gegen Abhängigkeit und Beleidigung. Für Michael Zimmer spaltete Walser seine Biografie als Germanist in die Alternativen Gymnasiallehrer und Journalist auf, die er in der Novelle durchspiele.
Der Handlungsort und das Personal der Novelle kehren in Walsers Werk mehrfach wieder. Die besondere Beziehung des Autors zu seiner Heimat am Bodensee drückte sich im zweiten 1978 erschienenen Buch Heimatlob aus, das Texte von Walser mit Aquarellen des Malers André Ficus verband. 1985 schrieb Walser mit dem Roman Brandung das Leben von Sabine und Helmut Halm fort und versetzte sie vom heimischen Bodensee nach Kalifornien, wo Halm eine Gastprofessur an einem amerikanischen College annahm. Gottlieb Zürn, der Vermieter der Ferienwohnung der Halms, ist die Hauptperson von Walsers Romanen Das Schwanenhaus, Jagd und Der Augenblick der Liebe.
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Ein fliehendes Pferd, Novelle von Martin Walser, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978
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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.