Krim – Erkundungen

 

Der Zeitraum der Entstehung der vorliegenden Publikation (2014 bis 2021) über die Krim  als „einzigartigen multikulturellen Ort am Rand Europas“, und die angestrebte Teilnahme der Autorin an einem geopoetischen Bosporusforum bilden den Rahmen einer Erkundung, deren Umsetzung auf eine Reihe von Vorbehalten gestoßen ist. Die Autorin, in Sewastopol geboren, Übersetzerin, Ethnologin, Verfasserin mehrerer Publikationen über die Krim und die ukrainische Literatur, Slawistin an der Universität Zürich, seit mehr als ein Jahrzehnt in Deutschland und in der Schweiz lebend, versucht sie in einem langen Vorspann auszuräumen. In ihrem methodisch vielschichtigen Argumentationsstrang bedient sie sich historischer und geopolitisch belegbarer Fakten, die sie mit dem Blick auf die ethnisch gemischte Bevölkerung der Halbinsel differenziert, wie z.B. ihre Behauptung, dass –  „viele Menschen“ auf der Krim „sagen, die hätten -im Hinblick auf die Abstimmung Anfang 1991 – für die Gründung einer Autonomen Republik Krim] ihr Recht auf Meinungsvielfalt und Mitbestimmung gebraucht.“ Dieses Recht sei ihnen drei Jahr später durch einen Verwaltungsakt genommen worden, weil im Anschluss an die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung die eben gegründete Ukrainische Republik im Jahr 1994 den Posten eines Präsidenten der autonomen Republik abgeschafft habe. Dennoch bestand die Halbinsel Krim, so Hofmann, „auf ihrer Sonderbehandlung und erhielt 1998 sogar eine eigene Verfassung, ähnlich wie Südtirol 1948 und 1972“ (S. 13).

In ihren weiteren Ausführungen  verweist sie auch auf ihre sowohl in Deutschland (Berlin 2014) und in Russland (St. Petersburg 2017) Erinnerungen „Sewastopologia“, in denen sie ihre Kindheit und Jugend auf der Krim beschreibt. Nach dieser Publikation habe sie sich in ein „heilende[s] Schweigen gehüllt“, aus dem sie gerissen worden sei. Sie wollte nun ihre Erlebnisse aus dem Jahr 1990 mit den Bewertungen aus den Jahren 2017, dem zuletzt stattgefundenen Bosporusforum, vergleichen. Zu diesem Zweck reiste sie zunächst in Begleitung des Schweizer Filmemachers Cyril Venzin auf die Krim, wo sie Begleitung des dort lebenden Projektgestalters Igor Sid, des Fotografen Alexander Barbuch und des Dichters Aleksander Poljakow  ihre geopoetische Expedition zu den markantesten Orten der Halbinsel unternimmt. Die Voraussetzungen für ein solches, von den russischen Behörden erlaubten Unternehmens erweisen sich augenscheinlich als günstig. Hofmanns Begleiter und Mitgestalter des Projekts betonen, dass es nach 2014 auf der Krim keine Ukrainophobie gegeben habe. Auch Poljakow als Anhänger einer globalen Geopoetik betont, dass er seine Poesie ohne Einschränkungen verbreiten könne. Er erläutert auch die Idee des Bosporusforums, das auf dem postmodernen Spielplatz Krim die besten Voraussetzungen für einen ungehinderten Dialog schaffe. In seinen weiteren Ausführungen vertritt er, im Gegensatz zu den Ukrainern, „die sich eine enge Schachtel geschaffen haben“ (S. 77), eine weltoffene Literatur, in der viele berühmte russische Schriftsteller wie Nabokow, Belyj oder Schestow von der Offenheit der russischen Literatur zeugten. Seine weiteren Ausführungen, die von der Autorin kaum kommentiert werden, zeugen von einer verwirrenden und naiven Russland-Bewunderung, in deren Zentrum Poljakows Position steht, Russland brauche die Krim, weil sich nur dort ein globaler Dialog entfalten könne.

Die in neunundzwanzig Kapitel eingeteilte, geopolitisch abgestimmte und geopoetisch intendierte Reportage folgt unterschiedlichen Schwerpunkten. Mal setzt Hofmann sich mit fotografischen Techniken auseinander, mal beschreibt sie ihren Geburtsort Sewastopol, mal kommentiert sie ausführlich die Annexion der Krim aus der Position des konzeptualistischen Dichters Pawel Pepperstein. Auch mit den vielschichtigen Krimvisionen klassischer russischer Dichter setzt sie sich auseiander. Mehr noch: sie wandert in eie Rückblende durch die Moskauer Schriftsteller-Kolonie Peredelkino, kommentiert während einer ‚Hinrückfahrt‘ durch die Krim eine Reihe von Berichten, in denen die Annexion der Halbinsel sich als „notwendig“ erweist. Kurzum die Autorin möchte ein Forum der öffentlichen Meinung in Verbindung mit den vielen geschichtsträchtigen Orten auf der Krim präsentieren. Dazu gehöre auch eine Permanente Konferenz, an der sicherlich, wie sie versichert, gerne auch Josef Beuys teilgenommen hätte. Schließlich sei der nach seinem Absturz in einem Kampfbombers im März 1944 von einem Krim-Tataren geheilt worden, obwohl zu diesem Zeitpunkt alle krimtatarischen Bewohner bereits auf Befehl von Josif Stalin nach Usbekistan deportiert worden waren.

Zweifellos erweisen sich die multithematischen Erkundungen der Verfasserin in Begleitung ihrer Freunde, als Akteurin und Übersetzerin auf Empfängen mit diplomatischer Prominenz und als Kommentatorin der jüngsten ukrainisch-krimtatarisch-russischen Geschichte als lesenswert, wenngleich wesentliche Ausführungen oft sprunghaft auf einzelne Kapitel verteilt sind. So setzt in dem Kapitel Histblick (vgl. 157ff.) eine Rückblende in die Jahre 1993/94 ein, um Aktionen des Krimklubs als letzte ukrainisch-russisch-krimtatarische Veranstaltung zu kommentieren. Es folgt ein Bericht über den traditionsreichen Zürichclub in einem „halbzerfallenden tatarischen Dorf“, einem „Ort westeuropäischer Überlebenskünstler“ zwischen Simferopol und Feodossija. Und im nächsten Augenblick führt Tatjana Hofmann ihre Leser/innen durch das ehemalige geistige Zentrum der Krimtataren.

Die nun folgenden Ausführungen über den Bachtschikomplex (vgl. S. 281 bis 303) kennzeichnen die Art der Berichterstattung der Autorin über einen Gegenstand, der meist aus dem Blickwinkel des Westeuropäers wahrgenommen worden sei. Dieser Wahrnehmung widersetzt sich die Autorin unter Rückgriff auf drei Quellen. Die Erfahrung und das Wissen ihrer Eltern und Großeltern, authentische Quellen emigrierter russisch-jüdischer Autor/innen, wie z.B. Olga Martynowas „Der goldene Apfel der Zwietracht“, und ihre historischen und ethnologischen Erkenntnisse. Ausgestattet mit diesem fundierten Wissen würdigt sie ihren geopolitischen Gegenstand Krim am Rande Europas auf besondere Weise. Es ist ihr Blick auf die zwischen 2014 und 2018 von russischen Ingenieuren erbaute Brücke zwischen Kertsch auf der Halbinsel Krim und dem russischen Festland. Sie bezeichnet sie als einen nationalen Erinnerungsort, ungeachtet der Tatsache, dass sie vor allem als Objekt für die russische militärische Kontrolle der Krim benutzt wird. An dieser Stelle wundert sich der Rezensent über die naive Sichtweise einer erfahrenen Krimologin, die ihre Widerrede gegen die eigenwilligen Ukrainer und Krimtataren benutzt, um die „Eigenständigkeit“ der russischen Halbinsel-Bewohner auf der Grundlage ihrer geopoetischen Konzeption zu legitimieren. Bedauerlicherweise nimmt er auch zur Kenntnis, dass sie sich nicht mit den Auswirkungen der militärischen Besetzung der Krim im Jahr 2014 durch die russische Besatzungsmacht auseinandersetzt. Es bleibt daher die Frage, auf welche Weise eine vielschichtige geopoetische Bewertung eines brisanten Gegenstands umgesetzt werden kann, wenn die Verfasserin dessen Betrachtung einer so eingeschränkten Bewertung unterzieht.

 

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Krim – Erkundungen am Rand Europas, von Tatjana Hofmann. Mit Fotografien von Aleksander Barbuch. Berlin (Noack&Block) 2022.

Weiterführend → Der Absturz mit seiner Nachgeschichte diente Beuys als Stoff einer Legende, der zufolge nomadisierende Krimtataren ihn „acht Tage lang aufopfernd mit ihren Hausmitteln“ (Salbung der Wunden mit tierischem Fett und Warmhalten in Filz) gepflegt hätten. Diese Legende, die Beuys’ Vorliebe für die Materialien Fett und Filz erklären sollte und die Beuys in einem BBC-Interview ebenso beschrieb, hat auch sein Biograph Heiner Stachelhaus vertreten.