Konformismus und Totalitarismus

Freiheit, die Unfreiheit bedeutet –
Warum Günther Anders aktueller denn je ist

Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Günther Anders hielt 1958 vor der Lessing-Gesellschaft Hannover einen Vortrag, der in den euphorisierten Jahren des Wirtschaftswunders in seiner gegenläufigen Grundstimmung befremdlicher kaum sein konnte. In diesem Vortrag – Akustische Nacktheit, später unter dem Titel Die Antiquiertheit der Privatheit veröffentlicht (Anders 2013) – beschreibt er eine Entwicklung, deren furioses Finale wir derzeit beobachten können: Die Selbst-Aufgabe des modernen Menschen, seine konformistisch geprägte Schamlosigkeit, die Umwertung moralischer Werte, die Dialektik der Unfreiheit bedeutenden Freiheit, der fast widerspruchslos akzeptierte sanfte Totalitarismus privatwirtschaftlicher Mächte, an deren digitaler Leine wir hängen.

Über die Konsequenzen, die der Aufstieg der Nationalsozialisten für ihn als Juden haben würde, machte sich Günther Anders, im Gegensatz zu vielen anderen seiner Zeitgenossen, keinerlei Illusionen. Er erwartete das Unerwartete. Gleich nach dem Reichstagsbrand 1933 emigrierte er deshalb nach Paris, wo er mehr schlecht als recht, leidlich unterstützt von Hannah Arendt, mit der er zu dieser Zeit verheiratet war, sein Dasein fristete. Die Angst vor einem heraufziehenden neuen Weltkrieg trieb Anders, der in seiner Pariser Zeit lediglich einen Text, Pathologie de la liberté (Pathologie der Freiheit), publizieren konnte, 1936 weiter in die Emigration, dieses Mal in die USA. Dieser Text war aber, so Traugott König, von einiger philosophiehistorischer Bedeutung, hatte er doch maßgeblichen Einfluss auf Jean-Paul Sartre und die Entstehung des Existentialismus,

Das Amerika, das ihn erwartete, war ein Amerika, das sich bereits damals – Ende der 30er, Anfang der 40er – zu eben jener Medienlandschaft zu entwickeln begann, die wir in Europa in dieser Ausprägung erst viele Jahrzehnte bekommen sollten. In diesem Amerika wurden die Menschen konsequent zu Zuhörern und Zuschauern erzogen, wurde ihnen die Außenwelt medial durch Radio und Fernsehen in ihre Privatsphäre, in ihre intimsten Bereiche geschleust. Dadurch begegnete ihnen die Welt nicht mehr als unmittelbar selbst erfahrene Welt – sie begegnete ihnen zunehmend als eine mittelbar erlebte Welt, als medial vermitteltes „Welt-Phantom“.

Waren es zunächst die Nachrichten, die ihnen die Welt ins Haus holten, so wurden die amerikanischen Zuschauer bereits in den 50er Jahre von Reality Shows und Real Life Serien überschwemmt. Ein Massenpublikum konnte nunmehr schamlos und unbestraft in die Welt anderer eindringen, ihm wurde ein voyeuristischer Blick in fremde Wohn- und Schlafzimmer gewährt, deren Bewohner sich, vice versa, dem Voyeur gegenüber exhibitionistisch gerierten und dabei zum Konsummittel der Konsumenten degenerierten: Durch eine solch konsumorientierte mediale Vermittlung wurde für die Amerikaner schon seinerzeit die Warenwelt sukzessive zur wahren Welt.

Ob nun freiwillig oder geködert: Die Konsummittel, die Begafften, Abgehörten, lieferten sich aus, gaben ihre Intimsphäre preis. Die Konsumenten, die Gaffer, Zu- und Abhörer, wurden beliefert. In einer derart arrangierten Wirklichkeit wurde der Betrachter zum unverschämten Voyeur, der nur auf die nächsten schamlosen Entblößungen der seinem lüsternen Blick ausgelieferten Opfer wartete, sich an dessen privatester Privatheit, ja an ihm selbst weidete: Ich konsumiere den anderen damit, so Anders, in einer medial vermittelten Form des Kannibalismus.

2.

In diesem Kontext wussten die derart Konsumierten aber zumindest, dass sie Konsummittel waren und dem Zuschauer zum Fraß vorgeworfen wurden resp. sich ihm zum Fraß vorwarfen. An anderer Stelle jedoch ereignete sich dieser kannibalische Akt unbemerkt, da waren sie ahnungslos Ausgelieferte. Dabei handelte es sich, so Anders 1958, um die akustischen Lauschangriffe, die durch moderne Abhöreinrichtungen erst möglich gemacht wurden (und die, zumindest in den USA, für jeden jederzeit käuflich zu erwerben waren). Auch wenn dieser Befund heute, im digital transformierten Zeitalter gigantischer Datenspeicherung, fast schon putzig anmuten mag: Er beschreibt die strukturelle Blaupause für alle noch kommenden Ein- und Übergriffe in unsere Privatheit.

Wer unser Telefone überwacht, dringt, ohne dass wir davon erfahren oder es erlauben, in unserer Privatsphäre ein. Dies erfüllt strukturell den Tatbestand des Hausfriedensbruchs – eines Hausfriedensbruchs jedoch, bei dem physisch der Hausfrieden nicht gebrochen wurde: Der Täter, Einbrecher, Dieb ist nur virtuell präsent. Nichts ist zerstört, zerbrochen, in Unordnung gebracht. Aber wir sind, gerade weil wir völlig sorglos und nichtsahnend sind, in diesem Moment dem Lauschangriff schutzlos ausgeliefert. Was aber, wenn ich zwar nichts von dem konkreten Angriff, aber um die potentielle Gefahr weiß, dass ich überwachbar, abhörbar bin und jederzeit ein solcher Angriff erfolgen kann? Das wird mich nicht kalt lassen, mein Wissen darum wird rückbezügliche Auswirkungen auf mein Verhalten zeitigen. Ich modifiziere, auch ohne dass ich es mir bewusst mache, ganz automatisch mein Verhalten. Authentisches Verhalten mutiert so zu gestelltem, gekünsteltem, reproduziertem Verhalten.

Die Eindringlinge, die aus einer mir unbekannten, verborgenen Richtung kommen und sich von mir unentdeckt in meine Privatheit schleichen, sind da und nicht da. Sie sind, und dies ist neu in der Menschheitsgeschichte, an zwei Orten gleichzeitig: virtuell bei mir, physisch jedoch vor ihren Überwachungsgeräten hockend (ein elend langweiliger Job, den heute die digitalen Speichermedien und Algorithmen klaglos, mit größter Präzision und Zuverlässigkeit erledigen). Dem schnöden akustischen Hausfriedensbruch der 50er Jahre, der sich zumeist noch auf einen recht klar umgrenzten häuslichen Raum der Privatheit bezog, steht heute die totale digitale Entgrenzung der Privatheit gegenüber, einer Entgrenzung, die keinen privaten Raum mehr kennt: Durch die Allgegenwärtigkeit der Computer, insbesondere der mobilen Endgeräte, durch die technische Möglichkeit externen Zugriffs, durch GPS und digitale Spurensicherung qua Betriebssysteme wie Googles Android, das 2016 einen weltweiten Marktanteil von 87,5% hatte, sind wir potentiell immer und überall erreichbar. Greifbar. Dem Zugriff ausgesetzt. Zumeist ohne dass es uns bewusst ist. Schlimmer noch: oft genug ohne dass es uns interessiert – wir haben uns daran gewöhnt, nehmen es gleichgültig als zwangsläufige Begleiterscheinung der für uns damit verbundenen Vorzüge und Freiheiten hin.

3.

Damals wie heute werden keine physischen Objekte entwendet. Es fehlt faktisch nichts nach diesem virtuellen Hausfriedensbruch: Es werden ja keine Dinge gestohlen, nur Daten. Abbilder. Geräusche. Worte. Und weil das so ist, gibt es auch kein Unrechtsbewusstsein. Physisch bin ich weder irgendwo eingedrungen noch habe ich etwas entwendet. Ergo kann ich das, was ich erfahren und aufgezeichnet habe, mit Fug und Recht als mein Eigentum betrachten und es entsprechend behandeln.

So denken und handeln alle. Nicht nur Kriminelle. Totalitäre Staaten. NSA. Oder GAFA – Google, Apple, Facebook, Amazon. Auch wir selbst. Wir alle machen immer und überall Fotos (seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass 2017 weltweit 1.000.000.000.000 digitale Aufnahmen gemacht werden – 1 Billionen), zeichnen auf, lassen Bilder und Äußerungen anderer mitgehen – es ist für uns selbstverständlicher Normalfall geworden, allerdings einer mit hohem Suchtpotential, leben wir doch im Zeitalter der Ikonokleptomanie, der Selfiemania und Instagramisierung, der kommerzialisierten Blogger und Influencer.

Für uns ist dieser Diebstahl kein Eigentumsdelikt. Wir belassen ja alles schön brav an seinem Ort, lassen physisch nichts in unsere Taschen wandern. Wer abhört oder fotografiert, nimmt, so konstatierte bereits damals Günther Anders, die einmalige Chance wahr, „stehlend nicht zu stehlen“. Auf dieses ‚nicht’ berufen wir uns alle scheinheilig. Alles bleibt, wie es war, es wird dem „photographierten Girl (…) seine Jungfernschaft nicht geraubt“. Was dazu führt, dass Stehlende und Bestohlene in gewisser Weise ahnungslos bleiben: Es scheint mir ja nichts zu fehlen wie auch der andere nichts genommen zu haben scheint – „das Fehlen fehlt“. Wir können als Dieb unsere Hände immer in Unschuld waschen: Wo nichts fehlt, wurde nichts gestohlen. Zumal ich physisch nie am eigentlichen Ort des Geschehens war: Ich war immer anderswo, lat. alibi.

Mein Alibi: Ich, der Dieb, bin anderswo als mein Opfer: „Von einem Täter, einer Tat (…) einer Schuld, von Ursache für Scham oder Reue scheint überhaupt keine Rede sein zu können.“ Da, wo potentiell „alles, was er (: der Einzelne) tut und was in ihm vorgeht, dem Auge (: oder Ohr) der Macht ausgeliefert“ ist, liegt nach Anders eine Form des Totalitarismus vor. Dieser wurde von ihm damals noch als ein politischer gedacht, aber da hat ihn die Entwicklung längst überholt: Heute stellt sich der Totalitarismus auch und vor allem als ein privatwirtschaftlicher dar – man denke nur an die astronomischen Datenmengen, die allein Google sekündlich weltweit von den einzelnen Usern abgreift, speichert und, algorithmisch bearbeitet, ökonomisch nutzt. Datenmengen, die auch Amazon anhäuft. Oder Facebook. Deren Godfather gerade erst im Januar 2017 sein gesellschaftspolitisches Manifest verkündet hat: Einer der größten Datendiebe unserer Zeit, der mit dem kontinuierlichem Raub maßgeblich dazu beiträgt, dass die Privatheit des Einzelnen, für ihn perfider Weise zumeist unbemerkt, atomisiert wird – dieser geriert sich als Heilsbotschafter und stellt sein digitales Projekt als weltumspannende Maßnahme zur allseitigen Beglückung, zur Demokratisierung, Humanisierung und Egalisierung der Menschheit dar. Soviel Chuzpe muss man erst einmal haben. Chapeau!

Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt: In einer Gesellschaft, in der eine Mehrheit der Menschen bereit ist, den Vorzügen dieser Medien, Mechanismen und Geräte unkritisch den Vorzug vor einer reflektierten Auseinandersetzung und kritischen Distanzierung zu geben, da ist diese auch bereit anzunehmen, dass es sich bei der Auslieferung an die digitalen Machthaber, die eine Auslieferung des Ich und Auflösung der Privatheit bedeutet, nicht um ein individuelles wie gesellschaftliches Desaster, sondern um den lebensweltlichen Normalzustand handelt.

4.

Geräte zur Aus- und Belieferung der Menschen sind nie „moralisch neutral“. Ihnen wohnt immer schon ein spezifischer Gebrauch inne, von dem wir uns im Gebrauch der Geräte nicht lösen können. Wir sind den Geräten und ihren inhärenten Intentionen gegenüber nicht frei: „Jedes Gerät (spielt) durch die Tatsache seiner speziellen Arbeitsleistung immer schon eine präjudizierende Rolle“, es definiert ein bestimmtes Verhältnis zwischen uns, den Anderen und den Dingen: „Jedes ist seine Verwendung.“ So stellen sich TV und Radio als Belieferungsgeräte dar, bei der der Konsum einer Phantomwelt anstelle wirklicher Welterfahrung tritt, und Fotokameras und Abhörgeräte, die wir heute maximal um Handy, PC, Laptop, Tablet, Smart-Home, Smart-TV, Fitnessarmbänder et all. erweitert haben, als Auslieferungsgeräte: In dem Augenblick, wo der Mensch grundsätzlich und überall kontrollierbar ist, ist er auslieferbar. Damit leben wir prinzipiell in einem Modus der Unfreiheit, der uns nicht zuletzt durch das Versprechen maximaler Mobilität und Erreichbarkeit als Freiheit verkauft wird.

„Abhörgeräte (sind) ipso facto ihrer Verwendung (nach) totalitär.“ Denn sie sind strukturell darauf ausgerichtet, die Individuation zu eliminieren: Der Mensch, der „grundsätzlich ein discretum, etwas Vereinzeltes“ ist, wird eben dieser Möglichkeit zur Vereinzelung, seiner Privatheit, beraubt. Da unsere heutige Geräte-Generation, all die Handys, Laptops, Tablets, Smart-Watches eo ipso auch Abhörgeräte sind (man denke nur an My Friend Cayla, dies smarte Püppchen für die Kleinsten, das de facto eine perfide Spionin ist), leben wir in einem Zustand des ‚sanften Totalitarismus’. Gegen den wir uns jedoch nicht nur nicht auflehnen, sondern den wir auch noch nach Kräften fördern, fordern, als Freiheit begreifen.

Das Bestreben einer jeden totalitären Macht, sei es ein staatlicher, de facto krimineller oder auch privatwirtschaftlich organisierter Apparat, ist es, die Individuation, die „Unerreichbarkeit der Teile durch das Ganze“,Anders nennt sie „Binnen-Transzendenz“, final auszuschalten. Die Macht strebt eine „monolithische Gesellschaft“ an, eine feste, in sich geschlossene Gruppe, die keine Diskretheit, keine Initimität, keine Privatheit, keine Unterscheidung von öffentlich und privat mehr kennt. Es ist dies eine Gesellschaft, die keinen Wert auf den Wert des Individuums legt und stattdessen das konformistische ‚Ich’ als Ideal propagiert – denn ein ‚Ich’, das einheitlich strukturiert und entindividuiert ist, fügt sich klaglos ein in die amorphe Masse, in das Kollektiv, das identitätsstiftende ‚Wir’.

Dieses sich im Einzelnen nur notdürftig als Ich verkleidete Wir steht identitär geschlossen und kopfschüttelnd dem ihm Anderen, Fremden gegenüber – den Non-Konformisten, Diskreten, Intimen, Individuierten. Es erfolgt, ganz klassisch, über die Identifizierung mit dem geschlossenen Ganzen, der Masse, dessen Sicht der Dinge die einzige gültige Sichtweise ist, eine Identitätsstiftung für das einsame, orientierungslose ‚Ich’, das es satt ist, sich die Mühe zu machen, sich zu orientieren: Es ergeht sich lieber in der Komfortzone von Konformität und Uniformität. Entsagt damit in letzter Konsequenz der Errungenschaft der Zivilisation. Und begibt sich wieder auf den Weg in die Barbarei.

Das Ich jedoch, das auf sein Selbst-Sein beharrt, stellt sich der totalitären Macht und den vielen mit ihr sympathisierenden Jüngern, namentlich den Digital Natives, als Anachronismus, als Defekt oder gar als Skandalon dar: „Die Individuation (wird) also als eine Versündigung gegen ihren monolithischen Anspruch“ verstanden. Das Ich hingegen, das sich, wie ein Großteil der Digital Natives, ganz den gigantischen Möglichkeiten des technischen Fortschritts wie weiland die Futuristen verschrieben hat, sieht sich selber als wahrer Individualist inmitten seiner Kombattanten, vermeintlich anarchisch zusammengeschlossen in der Community, der weltumspannenden Gemeinschaft Gleichgesinnter.

Darin geht es auf. Geht konform. Geht in sich, zieht sich in seine digitale Welt zurück, die ihm längst zur realen geworden ist: Cocooning wird zu seinem Lebensprinzip. Ich igle mich in meinen vier Wänden ein. Ordere die Pizza online. Kommuniziere mit Vorliebe in der Filterblase meiner Community, erlebe die Außenwelt vornehmlich medial vermittelt, die so, von mir unbemerkt, zur Phantomwelt wird. Was in der realen Welt passiert, geht mich zunehmend weniger an; es ist nicht mehr meine Welt. Und was mich nichts angeht, dafür trage ich auch keine Verantwortung.

Es ist einer der Widersprüche unserer Zeit: Da spinnen sich die digitalen Enthusiasten auf der einen Seite mit ihresgleichen in der Wohlfühloase ihrer für sie real gewordenen virtuellen Privatsphäre ein – haben aber auf der anderen Seite kein Problem mit jenem digitalen Hausfriedensbruch, der durch die modernen mobilen Endgeräte jederzeit möglich ist. Haben kein Problem mit der Option permanenter Überwachung und lückenloser Speicherung aller Vorgänge. Und nicht mit der ständigen Erreichbarkeit und Greifbarkeit auch dank des möglichen akustischen wie optischen Zugriffs über externe Aktivierung der integrierten Mikrofon- und Kamerafunktion, ein Indiz des sanften Totalitarismus, der zur völligen Aufgabe der Privatheit und damit der individuellen Freiheit führt. Kein Problem mit nichts, nirgends (Ich höre sie schon sagen, was Günther Anders sie schon im Amerika der 50er Jahre hat sagen hören: „But I have nothing to hide“, ich hab’ doch nichts zu verbergen!).

5.

Chillen hieß einst schlicht Nichtstun. Die Ruhe genießen. Allein sein. Heute heißt Chillen Chatten. Permanent online, also verbunden, erreichbar, greifbar sein. Dieses Nichtstun ist das Gegenteil von Nichtstun. Sein Alleinsein ist das Dabeisein. Überall sein. Am besten gleichzeitig. Ständig präsent sein. Konsumieren. Nie den Kontakt verlieren, sonst ist man verloren, einsam, allein (eine persönliche Episode, die diese Verhaltensmodifikation veranschaulicht: In der Kinopause des, wie passend, dystopischen Blockbusters ‚Blade Runner 2049’ zückten ausnahmslos alle Zuschauer umgehend ihr Handy, um zu kontrollieren, ob nicht irgendwelche Nachrichten für sie eingegangen sind – auch ich…).

Weil die digitale Generation die ursprüngliche Form der Individuation nicht mehr aushält, nimmt sie billigend in Kauf, was gar nicht mehr so heimlich hinter ihrem Rücken geschieht: Abhören, Ausspähen, Aufzeichnen, Speichern. Ja: Sie wendet sogar das Blatt. Und wendet sich mitleidig gegen die in ihren Augen Ewiggestrigen, den Zukunftsverweigern und Technikskeptikern, die diese Schattenseite der permanenten digitalen Erreichbarkeit als jene Unfreiheit begreifen, die sich hinter der Freiheit verbirgt, die uns die technischen Möglichkeiten bieten. Und die, um diese Unfreiheit ein Stück weit zu begrenzen, ein Recht auf Vergessenwerden einfordern.

Dafür haben viele aber absolut kein Verständnis. In vorderster Front: Google-Chef Eric Schmidt. Seine Replik zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2014, das seinerzeit das Recht auf Vergessenwerden, also das Recht auf Löschung der Daten, bestätigte, hieß schlicht: Dies steht unserem „Recht auf Wissen“ entgegen. Denn ich entziehe mich als Individuum der sanften totalitären Macht durch Rückzug in die Anonymität der Privatheit. Damit entziehe ich ihr das Wissen über mich, das sie zu wissen beansprucht. Dieses Wissen ist aber nicht etwa Etwas-Wissen, sondern Alles-Wissen: die völlige Transparenz als Gegenentwurf zur Anonymität. Der Entzug von Wissen durch Rückzug in die Privatheit ist in den Augen der Macht illegitim: Ich breche nach ihrem Verständnis ihr Recht auf Wissen. Ergo ist dieser Entzug Diebstahl. Oder wie es Dave Eggers in seinem Roman „The Circle“ als Credo des imaginären Internetkonzerns, der seine Kunden mit einer einzigen Internetidentität und kompletten Transparenz ausstattet, prägnant formuliert: ‚Privatheit ist Diebstahl’.

Vergessen werden heißt Anonymität zurückgewinnen. Heißt eine gegen den Zugriff von außen geschützte Sphäre des Nicht-Wissens, der Privatheit zu wahren und zu schützen. Eine Sphäre, in der ich mich frei bewegen kann, ohne Angst vor Überwachung haben zu müssen. Vollständiges Wissen einzufordern hingegen heißt Eliminierung eben dieser Anonymität und Etablierung vollständiger Transparenz. Günther Anders sah diese perfide Argumentation der totalitären Macht voraus: Sie erträgt keine Individuation, ihr Ideal ist das kollektiv definierte, konforme Wesen. Der Einzelne unterschlägt aber nun allein schon durch die Tatsache seines lebensweltlichen Daseins als Individuum, lat. in-dividuus, also als unteilbares, unzertrennliches Ich der totalitären Macht den Betrag, den es ihr schuldet. Zu allem Überfluss sind einzelne von ihnen auch noch bestrebt, sich der Macht durch Rückzug in die reale Privatheit aktiv zu entziehen. Das gesamte Bestreben der totalitären Macht läuft deshalb darauf hinaus, ‚indiskret’ und ‚unverschämt’ zu sein, und alles tut, ihre Wissenslücken zu schließen, um so jegliche Individuation zu unterbinden.

Umgekehrt soll das Individuum seinerseits der totalitären Macht entgegenkommen, soll ‚schamlos’ und ‚indiskret’ werden und die a priori bestehende Schuld seines Daseins (das ist die moderne adamitische Urschuld, die Erbsünde unserer Zeit), seiner naturgegebenen Individuation „einzuräumen“: Das Individuum liefert sich der Macht aus, indem es ihr gestattet, in seinem privaten Raum Platz zu nehmen. Und sich häuslich bei ihm einzurichten (Anders nennt dies „Binnen-Expansionismus“). Diese Entwicklung erleben wird aktuell ganz konkret: In formschönen Geräten verpackt erobern Google Home, Alexa & Co. unsere Wohnzimmer. Sie sind nicht allein Lautsprecher, sie sind auch geduldige Zuhörer, die unsere Stimme erkennen, uns Rede und Antwort stehen. Sie treten nicht mehr als Eindringlinge auf, sondern als dienstbare Gehilfen, ‚Sprach-Assistenten’, die mit uns leben, bei uns wohnen und ohne Unterlass in gebotener Devotion bestrebt sind, unsere Wünsche zu erfüllen (Uns wird dabei glauben gemacht, wir seien Subjekt, Unterwerfende, Herrscher des Systems. Dieses ‚Subjekt-Sein’ wird aber durch die harten Fakten der Realität ins Gegenteil verkehrt: Wir sind als Menschen nicht nur immer schon in unsere Lebenswelt geworfen, mithin der Welt ‚unterworfen’, lat. subicere, wir sind auch Subjekt, Unterworfene, Beherrschte des Systems).

Wir leben im Glauben, wir würden unseren klaglos dienenden digitalen Assistenten Anweisungen geben. Würden über Alexa und ihre Nachfolger zukünftig unser Smart-Home, die digitalisierte Privatheit selbstbestimmt dirigieren. „Bosch bringt 2018 den per Alexa steuerbaren Staubsauger Roxxter auf den Markt, dem man auch aus der Ferne per Kamera zuschauen kann. Von Siemens gibt es Waschmaschinen, Trockner und Herde, die sich über Alexa steuern lassen“, so Claudia Gerdes in der ‚Page’, Ausgabe 11.17. Unsere Helferlein hören aufs Wort, begleiten uns nicht nur zuhause, sondern überall hin. Permanent. Hören uns aufmerksam zu. Speichern alles. Werden mit den Kommunikationsknotenpunkten, den mobilen Endgeräten vernetzt, so dass alle Informationen zusammenlaufen, algorithmisch koordiniert werden können. Und wir jederzeit überall Zugriff auf unsere treue Begleiterin Alexa haben, die mit Augen und Ohren, mit Kamera und Mikro, ausgestattet ist. Alles hört. Alles sieht. Nichts vergisst.

Und dann in einer nicht allzu fernen Zukunft, vielleicht schon 2030, ist der Ray Kurzweil’sche Break-Even-Point, die technologische Singularität, erreicht. Die künstliche Intelligenz wird zum selbstlernenden System, Alexas Daten werden eingespeist, das Mängelwesen Mensch wird posthumanistisch transformiert, die Herrschaftsverhältnisse final umgekehrt – Günther Anders schrieb seinen Aufsatz in der Ära der dritten industriellen Revolution, als deren Beginn er die Entwicklung der Atombombe datierte. Die vierte industrielle Revolution, die er prognostizierte, zeige sich im „Trend, den Menschen (…) überflüssig zu machen“ (aber das ist noch mal eine andere Geschichte: ‚Algorithmus und Spiritualität’).

6.

Spricht Günther Anders, noch ganz Kind seiner Zeit, von der Bedrohung durch den totalitären Staat, der versucht, durch das impertinente Eindringen in die Privatheit, der „integralen Schamlosigkeit“, sein „Ideal der perfekten Integralität“ und „monolithischen Gesellschaft“ zu verwirklichen, so haben wir es heute, neben staatlichen Instanzen, mit privatwirtschaftlichen Unternehmen zu tun, die dieses Ziel nicht minder konsequent, aber auf eine deutlich sanftere und damit perfidere Weise verfolgen. Wie zum Beispiel Google: Es pocht auf sein vermeintliches Recht auf Wissen. Und speichert mit programmierter Selbstverständlichkeit seines Android-Betriebssystems jede Tastenbewegung der User, so dass eine lückenlose Nachverfolgung der individuellen Eingaben möglich ist. Nur: „Wo Abhörapparate mit Selbstverständlichkeit verwendet werden, da ist die Hauptvoraussetzung des Totalitarismus geschaffen; und damit dieser selbst.“

Privatheit als Allein-Sein ist in diesem Augenblick nicht mehr gegeben. Aber auch gar nicht mehr erwünscht. Für den Abhörenden liegt die Privatheit des Abgehörten offen zutage, ist für ihn öffentlich. Und der Abgehörte seinerseits hat es sich in dieser scheinbaren Privatheit wohlig eingerichtet, zelebriert als saturierter Bürger den Aufbruch in die schöne neue Welt des Smart-Home, genießt die Vorzüge, die ihm Alexa & Co. bieten. Natürlich weiß er um den digitalen Hausfriedensbruch, um die Möglichkeit der permanenten Überwachung, um die astronomischen Datenmengen, die angehäuft werden. Nur versteht er das Ganze als genau das, als das es ihm verkauft wird: als einen großen Schritt hin zur maximalen Bequemlichkeit, die er als maximale persönliche Freiheit wahrnimmt.

Diese neue Form der totalitären, ja: totalen Macht ist im Begriff, virtuell überall dort anwesend zu sein, wo wir sind. So dass wir nie allein sind, nie eine ursprüngliche Privatheit erleben, ein auf unser Dasein zurückgeworfenes Sosein. Unsere Lebenswelt ist mittlerweile eine, in der alles gesehen, gehört, mitverfolgt und konserviert wird. Eine Welt, in der uns sogar, man erinnere sich an die Worte Eric Schmidts, von Seiten der Abhörenden das Recht bestritten wird, uns gegen unsere Abhörung zu wehren. Doch nur ohne Abhörung vermögen wir die Privatheit zu wahren, die wir benötigen, um uns beizeiten von dem Anderen diskret abgrenzen und ganz für uns sein zu können.

„Die Gefährdung der Privatheit“ als solche beginnt nach Anders also da, wo man es für möglich hält, kontrolliert zu werden. Ich fühle und verhalte mich anderes: konformistisch. Ganz automatisch. Denn „die unüberprüfbare Möglichkeit des Überprüftseins hat entscheidende Prägekraft. Sie prägt die Bevölkerung des Landes“. Wenn dies aber bereits bei den aus heutiger Sicht doch recht simpel anmutenden Abhörmethoden der damaligen Zeit der Fall war – wie muss es dann heute, bei den infernalischen Abhörmöglichkeiten digitaler Provenienz, die Bevölkerung prägen? Denn heute ist die Omnipräsenz des Lauschers gegeben. Wir leben im Zeitalter der Möglichkeit der totalen Überwachung: Die externe Aktivierung der integrierten Kameras oder Mikrophone ist ein Kinderspiel – wir können prinzipiell auch dann belauscht, beobachtet, kontrolliert werden, wenn wir nicht telefonieren, fernsehen oder am Laptop arbeiten.

Als sei dies noch nicht genug, werden auch Überwachungssysteme selbst überwacht. So rüstet der Sicherheitstechnik-Hersteller NetBotz seine weltweit vertriebenen Überwachungskameras seit Jahr und Tag mit einem digitalen Zugang aus, der es dem amerikanischen Geheimdienst NSA ermöglicht, „sich in sämtlichen mit NetBotz-Kameras gefilmten Bereichen ebenfalls umzusehen“ (http://www.ingenieur.de/Themen/Datenschutz/US-Geheimdienst-zapft-weltweit-Ueberwachungskameras-an). Eben jene NSA, die über Jahrzehnte unkontrolliert und unbeanstandet deutsche Ministerien ausgespäht haben, wie der Freiburger Historiker Josef Foschepoth belegen konnte. Und die seit 2006 auch die Inhalte von Telefongesprächen erfasst.

Diese, zumeist unbemerkt bleibende, Omnipräsenz bedeutet eine schleichende Auflösung der Privatheit. Der Lauscher kann jetzt auch visuell an Orten präsent sein, an denen er nicht präsent ist. „Sein“ heißt fortan nicht mehr „Hier-Sein“ – sondern zur gleicher Zeit „Überall-Sein“. Da wird die Ontologie quantenphysikalisch.

Für mich als Verbraucher und User bedeuten Errungenschaften moderner Technik wie das Smart-Home durchaus so etwas wie eine neue Freiheit. Aber sie bedeuten eben auch die dialektische Komponente: mehr Unfreiheit. Denn wenn ich nicht mehr weiß, ob ich allein bin, weil die Anderen in der Lage sind, sich unbemerkt von mir virtuell bei mir aufzuhalten, bin ich nicht mehr der ‚Monopolist’ meiner ‚Raumstelle’. Dann hat meine Privatsphäre aufgehört, privat zu sein: Sie gehört jetzt auch dem anderen.

7.

Meine Möglichkeiten, dem Anderen zu entrinnen, mich ihm zu entziehen, sind begrenzt. Zumal ich mich höchst verdächtig mache, wenn ich dies versuche: Es ist die nonkonformistische Flucht in meine Privatheit, die erst noch als harmlos altbacken, anachronistisch, dann aber zunehmend als technikfeindlich, subversiv, illoyal, gefährlich, gegen die Gemeinschaft gerichtet angesehen wird. Als ‚Diebstahl’ wird dann nicht mehr empfunden werden, wenn mir meine Privatheit durch totalitäre Mächte entzogen wird, als ‚Diebstahl’ wird empfunden werden, wenn ich den totalitären Mächten meine Privatheit entziehe – Eric Schmidts Pochen auf ein ‚Recht auf Wissen’ spricht da Bände.

Wo das Recht auf Privatheit bestritten wird, wo am Ende keine Privatheit mehr besteht, da besteht auch kein Unrechtsbewusstsein, keine Spur von Schamempfinden mehr, wenn diese Privatheit verletzt wird. Diese Abwesenheit ist aber keine Zukunftsmusik mehr, sie ist längst Realität geworden – als akustischer Hausfriedensbruch, der mittlerweile auch optischer und habitueller Hausfriedensbruch ist. Ganz besonders dort, wo wir uns nicht in privaten Räumen, sondern im öffentlichen Raum bewegen. Günther Anders machte hier auf die voyeuristische Komponente aufmerksam, die erst jetzt, im Handy-Zeitalter –„Vorhandensein von Geräten (schließt) deren Verwendung immer schon mit ein“ – der mehr oder weniger heimlich aufgezeichneten und ins Netz zur öffentlich-lustvollen Verfügung gestellten Videoclips von Mobbing-Opfern, von Vergewaltigungen, von kompromittierenden Vorgängen oder auch des Unfallspottings, in ihrer ganzen Tragweite erkennbar wird. Da trifft es sich gut, dass zahlreiche mobile Endgeräte mittlerweile über eine optische Aufzeichnungsqualität verfügen, die denen vieler konventioneller Kameras oder Fotoapparate überlegen ist.

Es ist verboten, Sendeanlagen oder sonstige Telekommunikationsanlagen zu besitzen, herzustellen, zu vertreiben, einzuführen oder sonst in den Geltungsbereich dieses Gesetzes zu verbringen, die ihrer Form nach einen anderen Gegenstand vortäuschen oder die mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs verkleidet sind und auf Grund dieser Umstände oder auf Grund ihrer Funktionsweise in besonderer Weise geeignet und dazu bestimmt sind, das nicht öffentlich gesprochene Wort eines anderen von diesem unbemerkt abzuhören oder das Bild eines anderen von diesem unbemerkt aufzunehmen.“ So der Wortlaut von § 90 Telekommunikationsgesetz zum Missbrauch von Sende- oder sonstigen Telekommunikationsanlagen. Verständlich, dass aufgrund dieses Gesetzes die smarte Cayla, die Spionin im Kinderzimmer, verboten wurde. Über eine ungesicherte, nicht verschlüsselte Bluetooth-Verbindung ist die Puppe mit einer Smartphone-App verbunden. Da sich jeder problemlos in diese Verbindung einschalten kann, stellt Cayla rechtlich gesehen damit eine verbotene Sendeanlage dar.

Verboten ist laut Telekommunikationsgesetz generell nicht allein der Betrieb, verboten ist bereits der Besitz solcher Anlagen für nicht berechtigte Personen. Eigentlich. Die technische Möglichkeit, digitale Endgeräte wie Smart-Phone, Laptop, Tablet oder das ans Netz angeschlossene TV-Gerät durch externen Zugriff zu akustischen oder auch optischen Aufzeichnungsgeräten werden zu lassen wie auch die Option, über mobile Endgeräte als Schnittstelle der im Smart-Home vernetzten Haushaltsgeräte an weitere detaillierte persönliche Informationen zu gelangen, wird jedoch nicht nur im doppelten Wortsinn klaglos hingenommen. Sie wird begrüßt. Und hemmungslos als Fortschritt gefeiert. Die Frage, ob denn eben diese technischen Möglichkeiten digitaler Endgeräte und die damit verbundenen „Akte des Abhörens“ so ohne weiteres im Einklang mit § 90 Telekommunikationsgesetz stehen, stellt sich ihnen offenbar nicht.

Der Spanner macht sich schon allein dadurch strafbar, dass er spannt. Wenn er zum Spannen entsprechende technische Aufzeichnungsgeräte besitzt, die womöglich auch noch als Sendeanlagen klassifiziert werden können, macht er sich ebenso strafbar. Sowieso, wenn er sie einsetzt. Und erst recht, wenn er das Aufgezeichnete, Aufgenommene, Geraubte verwendet – egal, ob zum privaten Vergnügen, im Netz der Öffentlichkeit präsentierend oder gar kommerziell. Das, was Google-Chef Eric Schmidt tut, unterscheidet sich strukturell nicht sonderlich von dem, was der Spanner tut. Aber er macht sich nicht strafbar. Im Gegenteil. Herr Schmidt besteht sogar darauf, dass seinem Unternehmen prinzipiell das Recht zusteht, zu spannen. Dass es ihm von Rechtswegen erlaubt werden muss, immer und überall spannen zu dürfen. Das heißt: ihn alles wissen zu lassen. Nicht Abhören wäre dann ein Rechtsbruch, sondern das sich dem Abhören entziehen.

8.

Was Google wissen darf und was nicht – diese Grenze will Eric Schmidt sich nicht von Gerichten ziehen lassen, die will er selber bestimmen. Und im Zweifelsfalle lautet seine Antwort darauf, was Google wissen darf, schlicht: alles. Dass hier ein „freiheitsberaubender Missbrauch der Privatheit des Anderen“ vorliegt, kommt ihm nicht in den Sinn. Dass dieses ‚Google-Ich’ dem Anderen ohne dessen explizite Kenntnis und Zustimmung zuhört oder zusieht. Dass es sich „bei dem Anderen“ aufhält, ohne dass er es merkt oder weiß. Dass die Entfernung zum Anderen „annulliert“ wird, „die Grenze zwischen ‚außen’ und ‚innen’“, zwischen privat und öffentlich vollends aufgehoben wird – all dies ist ihm nicht der Rede wert.

Das Perfide ist: Der Konformist, also der, der sich der totalitären Macht ergibt oder schon ergeben hat, der eine Mitgliedschaft in der monolithischen Gesellschaft anstrebt und bereits seiner Privatheit entsagt hat, wird den Tabubruch des Hausfriedensbruchs als legitim empfinden, die Schamlosigkeit und Indiskretion nicht als schamlos und indiskret: „Der Vulgäre, also der Konformist von heute, unterstellt als Selbstverständlichkeit, dass das Private nichts anderes sei als der Vorwand für die Unterschlagung verbotener Handlungen.“

Das schulterzuckende Argument der Konformisten lautete bereits im Amerika der 50er Jahre – und hier fühlt man sich augenblicklich in die Gegenwart katapultiert: „But I have nothing to hide“. Die Konsequenz dieses Denkmusters: eine Umwertung der Werte. Wer auf seiner Privatsphäre beharrte, also ‚schamhaft’ war, hatte etwas zu verbergen – etwas Verbotenes, Unmoralisches. ‚Schamhaft’ zu sein galt seitdem als „unmoralisch“, wer hingegen ‚schamlos’ war, also auf seine Privatsphäre verzichtete, als „moralisch“. „Weil Unrecht heimlich geschieht, Heimlichkeit und Privatheit eo ipso Unrecht beweisen“, bedeutet Privatheit nunmehr, „Verbotenes zu verstecken“. Und der Einzelne hält sich, so die Annahme, allein deshalb an die Moral und tut nicht das Unmoralische, Verbotene, weil er davon ausgeht, unter Kontrolle zu stehen. Damit wird „etwas Unmoralisches: die Bespitzelung (…) zur Bürgschaft der Moral gemacht“. Verkehrte Welt.

Die Eliminierung der Privatheit, die vollständige Deprivatisierung des Individuums, die „totale Unverschämtheit“ vulgo „Schamlosigkeit“ einer totalitären Macht, wird dann reibungslos gelingen, wenn die Bespitzelten „nichts Besonderes dabei finden“, bespitzelt zu werden. Und aktiv und voller Freude an ihrer eigenen Deprivatisierung mitwirken: „Integrale Unverschämtheit kann allein dort gelingen, wo ihr eine ebenbürtige Schamlosigkeit entgegenkommt: eine gleichfalls totale“. Die Umwertung der Schamlosigkeit zur Tugend. Was einst als amerikanisches Phänomen begann, hat heute die Welt erreicht.

In einer vollständig deprivatisierten Welt leben nur noch vollends transparente Wesen. Wesen, über die bestenfalls alle alles wissen. Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass das Wissen „in authorized hands“ liegen wird. Und wer autorisiert ist, wird kaum der Einzelne entscheiden, sondern eher die totalitäre Macht, die die Daten an sich gebracht hat. Die, gehen wir nur einmal vom harmlosesten Fall aus, Handel mit ihnen treiben wird. Denn Daten sind die neue Währung, die Datenbanken ihre Depots. Douglas Merrill, Gründer von ZestFinance und ehemaliger Chief Information Officer von Google, brachte es, so Evgeny Morozov 2014, einmal auf den Punkt: „Alle Daten sind letztendlich Kreditdaten“. Und die beeinflussen nun mal unsere Kreditwürdigkeit. Verkaufen Google & Co. nun ihr Wissen, verfügen bald nicht nur Geheimdienste oder andere staatliche Organe, sondern auch Kreditinstitute, Versicherungen oder Krankenkassen darüber.

Warum also haben wohl die beiden größten privatwirtschaftlich organisierten Datensammler der Welt, Google und Amazon, einen digitalen Sprachassistenten herausgebracht? Einen wie diese liebenswürdige Einbrecherin, die wir sogar wie eine gute, alte Bekannte bei ihrem Vornamen – Alexa! – anreden und die mit sanfter Stimme zu uns spricht, während sie dreist unsere privaten Daten abgreift. Die strukturell eine Abhör- und Überwachungsanlage ist, die, während wir ihr ‚Anweisungen’ geben, die sie devot zu befolgen scheint, von uns unbemerkt alle Daten in irgendwelche Datenbänke schleust, die wir nicht kennen und wo von ihnen ein Gebrauch gemacht wird, von dem wir keine Ahnung haben. Ja: Wo die entsprechenden Unternehmen sogar wie Zerberos über diese unsere Daten wachen, weil sie diese Daten jetzt ihr Eigentum ansehen.

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Für Günther Anders war dieser Prozess der schamlosen Deprivatisierung 1958 in den USA praktisch abgeschlossen. Wir hinken da in der Entwicklung, wie in vielen Dingen, etwas hinterher. Reality Shows, Real Life Serien und ähnlich konsumistisch strukturierte Sendungen sind für uns noch relativ neue Formate. So durfte sich Germany’s Next Topmodel erst 2006 in unseren Wohnzimmern seelisch entblößen, Big Brother eroberte 2000 unsere Bildschirme.

Diese Show nahm inhaltlich wie auch beim Titel bewusst Bezug auf George Orwells Dystopie eines totalitären Überwachungsstaats. Wurde, wie es in dem Wikipedia-Eintrag zur Show heißt, das „bei seiner Einführung heftig umstrittene Format zu Beginn als gesellschaftlicher Tabubruch erlebt“, wurde „die Zurschaustellung privaten Lebens in der medialen Öffentlichkeit und damit verbunden der als ethisch fragwürdig empfundene Eingriff der Fernsehsender in das Privatleben der Bewohner“ kritisiert, so nimmt heute keiner mehr an solchen Dingen Anstoß. ‚Der Bachelor’ sucht sich zur allgemeinen Belustigung bei einer öffentlich inszenierten Brautschau wie auf dem Viehmarkt das beste Weibchen heraus, während die Verschmähten einem Millionenpublikum zum Fraß vorgeworfen werden. Umgekehrt gilt dies auch für die Männchen, die von der Bachelorette verschmäht werden. Weniger glamourös geht es bei ‚Bauer sucht Frau’ zu, aber das Grundprinzip der öffentlichen Entblödung bleibt das gleiche.

Die Schamlosigkeit ist längst Normalität geworden – auf Seiten der Konsumenten wie auch auf Seiten der Konsumierten. Wen wundert es da, dass uns die Fiktion kaum noch als Fakt verkauft werden muss, ist sie doch für viele bereits Realität. So finden sie die ‚Wahre Liebe’ heute nicht mehr im wahren Leben, sondern auf Love Island, der aktuellen Dating-Reality-Show auf RTL 2, die in diesem Jahr auf Sendung gegangen ist. Paarungsbereite Männchen und Weibchen werden dort, wie weiland bei Heinz Sielmann Geparde, Otter oder Seemöwen, in allen Lebenslagen und in Großaufnahme observiert, damit sich ein voyeuristisches Publikum an den wenig kamerascheuen, promiskuitiven Pärchen, die ihrer Privatheit gänzlich entsagt haben, ergötzen kann.

Schamlosigkeit hat aber nicht nur eine solch sexuelle Dimension, sie kann auch eine fast schon hegelianisch anmutende dialektische Dimension haben. Die durfte Donald Trump in seiner 2004 ausgestrahlten Fernseh-Reality-Show ‚The Apprentice’ zelebrieren. Dort gab er den als mit totalitärer Macht ausgestatteten Herrn, der die devoten Knechte, die vor ihm zu Kreuze krochen, lustvoll vor einem Millionenpublikum desavourieren und ihnen ein nunmehr in Amerika geflügeltes Wort entgegenschleudern konnte: You’re fired!

Dumm nur, dass jener Trump aus dieser Verwechslungsschleife von Fakt und Fiktion nicht mehr herauskommt. Noch dümmer, vor allem für uns, dass er mittlerweile mit einer Machtfülle ausgestattet ist, gegen die eben jener Big Boss in ‚The Apprentice’ wie ein mittelloser Zwerg wirkt.

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Deprivatisiert wird aber nicht nur der so kannibalisch Konsumierte, deprivatisiert wird auch der Kannibale selbst, der Konsument. Und dies, ohne dass es ihm so recht bewusst wird. Er sollte deshalb, während er sich an ‚Big Brother’ labt, nicht zu entspannt auf seiner Couch herum lümmeln. Denn Big Brother is watching him too: „Überwachungskameras zur Videoüberwachung (…), Fernsehempfänger mit Großbildschirmen und integrierten Mikrofonen zur Entgegennahme von Befehlen sind überall, auch in den Wohnräumen, präsent und schaffen eine allgegenwärtige, fast lückenlose Überwachung der Individuen. Privatsphäre existiert so nicht mehr.“ So, wie auf Wikipedia Orwells düstere Zukunftsvision einer totalitären Gesellschaft beschrieben wird, klingt es – erinnert man sich der technischen Möglichkeiten, die einem die digitalen Sprachassistenten, die zu Computern transformierten Hybrid-Fernsehgeräte oder die mobilen Endgeräte heute bieten – doch eher wie eine recht nüchterne Beschreibung der Faktenlage.

Wir sind, so Günther Anders, auf der einen Seite anstandslos „bereit, anstandslos zu sein, das heißt: jedem anderen alles zu zeigen“ – und auf der anderen Seite sind wir anstandslos bereit, uns alles schamlos voyeuristisch mitanzusehen. Schamlosigkeit allenthalben. Die keinen Tabubruch mehr darstellt, sondern uns zur Tugend geworden ist. Der Zustand völliger Deprivatisierung ist erreicht: „Unser Leben ist Allgemeinbesitz geworden.“

Der Preis für diese Preisgabe der Privatheit und Individualität ist die Konformität, sie wird zur verbindlichen Moral. Doch als sterbenslangweiliger Konformist, als Gleicher unter Gleichen, will niemand gelten. Das ist doppelt plus ungut. Drum versucht man sich den Anschein des coolen Nonkonformisten zu geben. Und geht jenen Weg der medienöffentlichen Deprivatisierung. Oder den der Selbstvermarktung als Influencer in den diversen Sozialen Medien. Oder. Oder. Oder. Ihm wird als gewöhnlicher Mensch „eine ungewöhnliche Chance der Heuchelei zum Geschenk gemacht“, so analysiert Anders treffend. „Jeder John Doe (kann) die ihm entsprechende ‚self-expression’ finden“. Sie ermöglicht es ihm, sich aus der Masse abzuheben, „verschafft (ihm) die Genugtuung, hervorzuragen“: Wir, John Doe, Max Mustermann und Lieschen Müller, gehören „nunmehr zur Bruderschaft der ‚creative ones’, der Michelangelos, der Beethovens und van Goghs“.

Da, wo der „der sanfte Totalitarismus“ der digitalisierten Gesellschaft sein Werk heimlich, still und leise verrichtet, wo der Mensch sich und seine Privatheit in vermeintlich freier Entscheidung mit Freuden preisgibt, da muss er gar nicht mehr beraubt werden: Wir werden „zum Mitarbeiter an (unserer) eigenen Deprivatisierung“. Sei es nun als Teilnehmer bei ‚Big Brother’ oder ‚Love Island’, sei es als Zuschauer, sei es als User beim unreflektierten, unkritischen Einsatz von ‚Android’ (der Name des Betriebssystems ist wohl mit Bedacht gewählt, bezeichnet er doch die Maschinenwesen, die menschengleich agieren – wie schon den berühmten Schachtürken des 18. Jahrhunderts), der permanenten Aktivierung ergo Erreichbarkeit unserer mobilen Endgeräte, die eine Ortung, Nachverfolgung und Initiierung als Abhör- und Abseheinrichtung ermöglicht.

Die Umwertung der Werte führt dazu, dass sich unsere ‚Schamlosigkeit’ als Ausweis an Loyalität, als Treuebekenntnis zur Konformität, Privatheit hingegen als Treuebruch darstellt. Dabei ist die „Unverschämtheit“ der einen die „Schamlosigkeit“ der anderen: Spitzel und Exhibitionist sind Partner in einem Spiel – bis hin zum Rollentausch. „Die Figur des Zeitgenossen“, so Anders, ist schamlos, insofern er unverschämt ist – und umgekehrt. Der Schamlose empfindet die Unverschämtheit nicht mehr als unverschämt wie auch der Unverschämte den Schamlosen nicht mehr als schamlos, sondern als völlig normal empfindet. Was umgekehrt natürlich dazu führt, dass derjenige, der Scham empfindet, und derjenige, der nicht unverschämt ist, nicht mehr als normal, sprich: konform, empfunden wird. Mit allen nur denkbaren Konsequenzen. Und vielleicht dereinst auch den undenkbaren.

Diese Deprivatisierung, die eine Enteignung und Sozialisierung meiner selbst entspricht, wird als ebenso normal empfunden. „Unser Leben ist Allgemeinbesitz geworden“, doch was hier sozialisiert wird, ist nicht das, was ich habe, sondern das, was ich bin – Ich.

Ich gebe mich ab und damit meine Individualität auf. Was aber dem modernen Menschen kaum etwas auszumachen scheint, wurde er doch zuvor davon überzeugt, dass er sich über das Materielle, also über das, was er hat, was er besitzt, zu identifizieren und definieren hat und nicht über das, was er ist. Der Verlust meiner selbst wird so nicht als Verlust empfunden. Mir wurde ja nicht genommen, was ich habe, sondern nur, was ich bin.

Diese Form der Selbstdefinition hat der Mensch im Wesentlichen durchgängig akzeptiert. Es ist die ‚Konformismus’ genannte Variante des sanften Totalitarismus, die sich schleichend ausbreitet, einvernehmlich, ohne Gewalt, ohne Terror. Das Erschreckende dabei ist: Wir, die Bespitzelten, sind „Bundesgenossen der Spitzel“. Wir haben uns als Opfer mit den Tätern gemein gemacht, haben als Opfer längst unser Opfer gebracht, ohne dieses als solches zu erkennen: Wir haben unsere Autonomie, unsere Privatheit, unsere Individuation preisgegeben, ihr entsagt.

Das, was zu Anders Zeiten in den USA seinen Anfang nahm, ist heute im Zuge der Medialisierung und digitalen Transformation unserer Lebenswelten, und damit einhergehend unserer Gesellschaften, weltweit weitgehend umgesetzt. Aus der akustischen Leine ist die digitale Leine geworden, die weit größere Möglichkeiten bietet: Uns wird die Freiheit, „ungehört“ zu bleiben, ebenso geraubt wie die Freiheit, „unhörend“ zu leben. Wir müssen nicht nur mit dem Lärm leben, wir sollen es auch. Denn die Möglichkeit permanenter Berieselung und Beschallung, die zumindest potentiell permanente Erreichbarkeit und die damit verbundene Option, uns auch an den entlegensten Orten dieser Welt zu belärmen, zu berieseln und zu beschallen, hat eine normative Funktion:

Im Prozess der akustischen bzw. digitalen Freiheitsberaubung und Deprivatisierung, die uns als gigantische Errungenschaft, als einzigartiger Fortschritt und Zuwachs an Freiheit verkauft wird, stellt dieser Lärm „eines der Hauptinstrumente des Konformismus“ dar.

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Theoretisch könnten wir auch GPS-tauglichen mobilen Endgeräten entkommen, könnten wir das Unmögliche möglich machen: könnten weghören. Wir müssten die Geräte nur zuhause lassen, entsorgen. Aber das verführerische digitale Substitut des Lärms besitzt ein immenses Suchtpotential. Wir erleben die Unerreichbarkeit nicht mehr als Genuss, sondern als Bedrohung. Die permanente Erreichbarkeit ist längst Teil unseres Selbstverständnisses und damit Teil unseres Selbst geworden. Ohne sie mutieren wir zu einem hysterischen Zellhaufen, verhalten uns wie ein Junkie auf Turkey: Wir fühlen uns beraubt, das Band zur Zivilisation – zerschnitten. Erst wenn wir aus dem Funkloch kriechen, wenn wir den nächsten Schuss gesetzt haben, wenn der sehn-süchtige Blick aufs Handy die gewohnte Balkenstärke zeigt und wir wie gewohnt Informationen abrufen und menschliche Stimmen vernehmen können, erst dann normalisiert sich unser Puls: Hier zeigt sich, wie sehr wir Menschen mittlerweile an der digitalen Leine hängen.

Das, was uns als größter Fortschritt, als größtmögliche Freiheit verkauft wird, erweist sich als größtmögliche Unfreiheit: Dieses Substitut des Lärms hält uns Individuen fest im Griff, lässt keinen Platz auf der Welt mehr zu, an dem wir wir selbst sein können. Ganz allein, nur für uns. Die integrierten Kameras und Mikrophone, die GPS-Tauglichkeit, sie alle stellen ein Mit-Sein sicher, einen Anschluss an die von uns mit konstituierte konforme Zivilisation. Dieser Anschluss eliminiert unsere Chance auf eine nicht öffentliche und nicht veröffentlichte Privatheit: rein technisch ist immer sowohl ein gewolltes Hören als auch ein ungewolltes Mithören inkludiert. Doch diesen Tabubruch, diesen ‚Hausfriedensbruch’ nehme ich liebend gerne in Kauf – ich habe ja nicht nur nichts zu verbergen, ich verliere ja auch nichts. Nur mich selbst, mein Selbst. Doch diesen Verlust empfinde ich durch die Umwertung der Werte nicht mehr als Verlust.

Das Handy wird zum verlängerten digitalen Arm des Megaphons, Lautsprechers und Abhörgeräts, der integrierte Videoassistent zum Orwell’schen Teleschirm. Ich bin immer erreichbar, immer greifbar. Kann dem Zugriff nicht entrinnen: „Erreichbarkeit und Greifbarkeit werden dann zu (meiner) zweiten Natur“. Ich degeneriere zum Sklaven der technischen Möglichkeit, der seine „Versklavung sogar selbst kultiviert, so dass er sich, wenn er zufälligerweise einmal nicht greifbar ist, verloren fühlen wird“.

Mit dem Faktum der ständigen Erreichbarkeit durch das digitale Substitut des Lärms „ist das De-privatisierungsideal des Konformismus erreicht“, der Prozess vollendet: Ich bin hörig. Gehöre nunmehr zu dieser Welt, ja: gehöre dieser Welt. Ich habe mich freiwillig deprivatisiert, mich der ständigen Erreichbarkeit und damit der Überwachung ergeben. So sehr, dass ich meine Unfreiheit als Freiheit empfinde und meine Freiheit als Unfreiheit: Reißt die digitale Leine, und sei es auch nur für einen Moment, gehöre ich keinem Wir mehr an. Bin beziehungslos. Kann nichts mehr hören, nicht mehr mithören, nicht mehr abgehört werden. Bin alleine, nur noch auf mein Ich geworfen. Lost in space. Dieses Allein-Sein ist für den modernen Menschen und sein konformistisches Ich der Super-GAU. Denn für ihn ist das Dabeisein der einzig akzeptable, ihn definierende Seinszustand:

Ich bin dabei, also bin ich da, also bin ich“.

 

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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2022

Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend. Daher verleihen wir Stefan Oehm den KUNO-Essaypreis 2018.

 

Literatur

Anders, Günther (2013): Die Antiquiertheit der Privatheit, in: Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, München: Verlag C.H. Beck, S. 210-246