Die Novelle ist die kleine Schwester des Dramas
Theodor Storm
Mit unserem diesjährigen Schwerpunkt hat die KUNO-Redaktion angeregt, klassische, sowie moderne Novellen zu lesen und sich dieser Kunstform zu widmen. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.
Was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit.
Johann Wolfgang von Goethe zitiert durch Johann Peter Eckermann
Unabhängig vom KUNO-Schwerpunkt hat Thomas Hettche ebenfalls ganz unterschiedliche Autorinnen und Autoren zu einer Re-Lektüre großer Literatur eingeladen, die zu ihrer Zeit mit sämtlichen Konventionen brach. Die Auswahl der drei Texte, die von jeweils vier Autoren ganz subjektiv unter die Lupe genommen werden ist interessant. Da ist zum einen Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili, die auf verstörende Weise, nämlich ohne jede Sinnstiftung von einer Katastrophe erzählt. Des weiteren die Erzählung Zum wilden Mann des völlig zu Unrecht vergessenen Wilhelm Raabe, der das Romantisch-Biedermeierliche in die Moderne des Realismus überführt. Sowie Gottfried Benns Erzählzyklus Gehirn, der hier vom jungen Arzt Rönne erzählt wird. Es geht um Modernität, aber auch um eine Literatur, die in ihrer Trostlosigkeit und wenig identifikatorischen Erzählweise zeigt:
Die Schönheit von Literatur ist daher immer auch die ihrer Vergeblichkeit.
Der Arbeitsauftrag von Hettche an die Autoren war eine Bestandsaufnahme dessen, was es heute bedeutet, modern zu sein. Entstanden sind zwölf Essays, die dem Leser die Gelegenheit bieten, u.a. Monika Rinck, Durs Grünbein, Ingo Schulze, Felicitas Hoppe und Daniel Kehlmann dabei zuzusehen, wie sie in der Auseinandersetzung mit den Vorbildern ihr eigenes Schreiben reflektieren. Wir lesen, wie sich die herkömmlichen Gattungsgrenzen mit Beginn der literarischen Moderne an Geltung verlieren, so sind dem novellistischen Erzählen in der Regel folgende Merkmale gemein: Die eigentliche Geschichte mittlerer Länge (in Abgrenzung vom Roman, aber auch der Kurzgeschichte) wird straff, oft einsträngig und linear erzählt, wobei der Erzähler objektiv berichtet, ohne sich ins Geschehen einzumischen. Häufig eingebettet in eine Rahmenhandlung, stellt die Binnenhandlung eine tatsächliche oder mögliche Begebenheit dar, der sogenanten Realitätsbezug. Zudem prägen oft psychologische Vorgänge die Handlung, allerdings werden die Figuren nicht in epischer Breite charakterisiert. In seinem Vorwort geht Thomas Hettche den überraschenden Verbindungen nach, die sich dabei ergeben und macht deutlich, was Erzählen zu allen Zeiten bedeutet hat, es bezeichnet es als eine „Emphatischen Lektüre“. Mitlesen kann man auch die klassischen Textvorlagen, die in kleinerer Schrifttype in der Mitte der Seiten durchlaufen. In den Essays verwendete Zitate sind durch Fettdruck hervorgehoben. Der in Leinen gebundene Band ist typographisch recht abwechslungsreich und erlaubt so eine vergleichende Lektüre.
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Es ist recht sehr Nacht geworden. Kleist, Raabe, Benn. Essays von Thomas Hettche (Hg.). Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022
Weiterführend →
Während die Redaktion mit diesem Artikel auf das novellistische Jahr zurückblickt, wagen wir eine Vorschau auf den nächsten Schwerpunkt. Wir begreifen die Gattung des Essays als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auch ein Essay handelt ausschliesslich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit. Wir betrachten Michel de Montaigne als einen Blogger aus dem 16. Jahrhundert. Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommentierung der Weltlage zur Dauerbeschäftigung erhob. Seine Zeitschrift „Die Fackel“ war gewissermaßen der erste Kultur-Blog. Die Redaktion nimmt Rosa Luxemburg beim Wort und versucht in diesem Online-Magazin auch überkommene journalistische Formen neu zu denken. Enrik Lauer zieht die Dusche dem Wannenbad vor. Warum erstere im Spätkapitalismus – zum Beispiel als Zeit und Ressourcen sparend – zweiteres als Form der Körperreinigung weitgehend verdrängt hat, ist einer eigenen Betrachtung wert. Ulrich Bergmann setzte sich mit den Wachowski-Brüdern und der Matrix auseinander. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein weitere Betrachtungen von J.C. Albers. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.
Im Blick auf den Geistreichtum eines guten Essays kann man den Essay ganz im Sinne Theodor Storms als den großen Bruder der Twitteratur auffassen.