Jean Gionos Lächeln zu erwidern, fällt mir nicht mehr so schwer. Als er das Fenster öffnet, schaue ich hinauf zu ihm, von der Sonne geblendet, und lese in seine Augen. Hinter ihm die Schwärze seines Zimmers. Gionos Augen blitzen.
Ich steige die Treppe hinauf. Die Zeit bleibt im Dunkel. Mein Zimmer hat kein Fenster zur Straße. Oben schimmert Zwielicht vom Lichthof durch ein staubiges Glasfenster. Nur weg hier! Ich muss die Quelle des Lichts erfinden, die Farben des Himmels. Ich wollte nur zwei Sommertage in Paris bleiben … oder drei … höchstens eine Woche …
Die Bäume röten sich. Es beginnt etwas Neues oder der Ausstieg aus der Zeit. Wenn der Stillstand in die Unendlichkeit fällt, legt sich die Zeit schlafen, um Kraft zu gewinnen. Vielleicht für eine Zeit neben der Zeit oder eine Zeit in der Zeit, hineingeschachtelt in die Lichtlosigkeit.
Auf schmalem Pfad steige ich einen Berg hinauf, bald vom Wege abkommend, oft von Stein zu Stein springend, dann über Wurzelwerk und Sand und Steingeröll – zum Gipfel. Ich sehe eine dunkle Kontur vor mir. Sie sieht aus wie ich. Die Luft ist trüb, der Himmel bedeckt. Eine helle Nebelwand kommt auf mich zu. Ich steige weiter und stoße vor ins Licht der über mir brennenden Sonne. Ich bin oben. Ganz oben. Hinter mir nichts. Kein Nebel. Keine Landschaft … Ich schaue in die Tiefe, und ich denke, sie spiegelt sich im Himmel, wo ich mit dem Kopf auf sie gestoßen bin. Aber mein Kopf hat keine Füße … Vor mir eine weite Wasserfläche, eingefasst in Beton, halb überdacht. Ich stehe auf einem Ski mit Mast ohne Segel. Ich bin allein. Jetzt weiß ich es. Ich gleite übers Wasser, schneller, immer schneller, von Ufer zu Ufer, von Sonne zu Sonne.
Ich packe meinen Koffer, verlasse das Zimmer, steige die Serpentinentreppe hinunter ins Helle, lege meinen Schlüssel auf den Sekretär, durchquere den Flur und gehe durch die geöffnete blaue Pforte auf die Rue du Dragon.
Das Glück kommt nicht zu dir … Ich schaue hinauf. Das Fenster ist geschlossen. Das Hôtel du Dragon liegt im Schatten, die Sonne steht tief. Kein Abschied? Ich höre Gionos Worte hinter der Stirn: Geh deinen Weg, es ist der einzige, der zum Ziel führt. Ich gehe langsam weiter, Richtung Rue du St. Germain. Hinter mir schlagen die Fensterläden gegen die Mauer. Ich drehe mich um. Da steht er am Fenster. Er lächelt.
***
Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022
Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
Weiterführend →
Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.