joanna lisiak reflektiert in ihrem buch »Der Faden im Kopf« über wahrnehmung, vorbilder, intuition, bewußtsein, musik, gesang, stimme, schauspiel, literatur, malerei, zeichnung und objektkunst. die texte sind, den jeweiligen gegenständen entsprechend, verschieden in kontext und blickwinkel. sie denkt über ursprünge und techniken der kreativität und des künstlerischen arbeitens nach und plädiert für ein ganzheitliches wahrnehmen. »Das Naturell des Spielerischen und Kreativen ist jedoch in ein entkrampftes Umfeld zu betten. Nur so ist ein solches Denken flexibel und offen für jene anderen Einflüsse außerhalb, die sich aus diesem Prozeß erst ergeben.« »der Flugwind selbst spielt mir manchmal die Ideen förmlich unter die Flügel.« in der symbolik des flugs, der leicht macht, ist die schwerkraft aufgehoben. jean paul kannte ein »springfedriges Wesen«.
im text »Vorbilder« heißt es: »Nicht zuletzt stellen die Eltern die ersten Vorbilder (oder je nachdem Anti-Vorbilder) dar, an denen wir uns orientieren / orientiert haben. Auch können dies andere Bezugspersonen sein, die uns in der Kindheit oder Jugend geprägt haben.« häufig würfelt die natur freilich beliebig und die eltern passen nicht zu ihren kindern, und umgekehrt. auch die kombination der eltern ist wichtig. ob sie sich gut oder schlecht verstehen und vertragen, hat für ihre kinder konsequenzen. man lernt eher unbewußt von älteren und merkt das vielfach erst nach jahren. eltern, lehrer und andere ratgeber und anreger sollten das besondere, die naturelle, begabungen und sichtweisen, eines menschen erkennen und achten und zugleich durch ermutigungen und anreize das bekannte vertiefen und den horizont erweitern. so kann das vorbild auf pfade im labyrinth der welt führen, die man zuvor noch nicht betreten und gesehen hat. bei klassentreffen bemerkte ich, daß die frühere lehrer weniger nach ihren fachlichen qualitäten beurteilt wurden, sondern danach, inwieweit sie menschlich vorbild waren.
joanna lisiak schreibt, es wäre sinnvoll, vorbilder zu wählen, die grundlegende übereinstimmungen mit einem selber haben, sich aber soweit unterscheiden, daß mit einer beiderseitig belebenden beziehung begonnen werden kann. »jemanden zu erfassen, bedeutet, dadurch auch sich selber besser zu verstehen. So wie es einem leicht fällt, sich durch die Augen des anderen zu betrachten.« es gäbe aber auch vorstellungen vom vorbild, die es unerreichbar machten. wer ein solches vorbild suche, könne träumerisch oder selbstquälerisch veranlagt sein. sie sieht jedoch auch, und durchaus nicht ironisch, die paradoxen vorteile eines überfordernden vorbilds. das unerfüllbare als vollendetes götzenbild, das man sowieso nicht erreichen könne, mache, indem man es nicht nachahmen müsse, das eigene leben sowie die suche nach dem sinn erträglicher. »Nicht zuletzt ist es ein beständiger, in sicherem Abstand gehaltener Impuls und Motor für die eigene Motivation.«, die zu einer inneren reise ermuntert. motor und motivation sind verwandte worte, die bewegung meinen, hier die zum eigenen und wesentlichen hin.
»Das Leben, oder bestimmte Teile davon, nach falschen Vorbildern auszurichten, kann fatal sein, wenn wir ohne kritische Reflexion unterwegs sind. Sind wir allerdings in der Lage, eine für uns eher ungünstige Vorgabe in eine Art Gegenentwurf zu übersetzen, können wir aus einem Anti-Vorbild ähnliche Schlüssen ziehen, wie aus einem optimal und selbst gewähltem Vorbild.« wer spürt, was er, oder sie, nicht will, stellt kritische fragen und sieht besser, wie man ist und werden könnte.
die vorstellung von verwandtschaft, oder wahlverwandtschaft, in der das überraschende das vertraute als basis braucht und das vertraute das überraschende als impuls, prägt joanna lisiaks differenzierendes und nuancierendes denken insgesamt. die gleichzeitige begegnung mit bekanntem und unbekanntem kann eine aura schaffen. wer verwandtschaften erkennt, nimmt zugleich ähnlichkeiten und kontraste wahr, die etwas ganzes offenbaren, und das ferne, das im nahen aufscheint, und umgekehrt. diese texte enthalten auch zeitlose wahrheiten, sofern man wahrheit nicht für einen vormodernen begriff hält. es bereitet freude, zu spüren, wie gedanken sich durch ihre bewegungen im denkenden wandeln und daß es zu jedem gedanken gegengedanken gibt. so wirkt das denken zeitübergreifend und wird nicht verformt und entwertet durch aktuell vorherrschende lebensumstände, weltbilder und befindlichkeiten.
in »Die reife Männerstimme« erklärt sie: »Die stimmliche Reife überdies erweckt das Vertrauen des Zuhörers auch deshalb, weil sie zweifellos eine Aura von Sympathie umgibt, die wiederum nicht auf einer sympathisch klingenden Stimmfarbe, sondern in allererster Linie auf Empathie aufbaut.« die aura stammt aus kultischen zusammmenhängen. »Die Anziehungskraft des Fremden und doch stets so Vertrauten kann bisweilen bis zu den erotischen Gefilden führen, auch wenn diese Form von Erotik wohl weniger die Leidenschaft weckt, als dass sie ihr Vorhandensein ‒ künftiges, vergangenes, hier wie dort oder in der Menschheit selber eben ‒ unprätentiös und verständnisvoll offenbart.« vielleicht ist die musik, neben dem theater, am meisten noch dem kult nahe, aus dem die kunst ursprünglich hervorging.
»Des Sängers Arbeit ist nicht die eines Handwerkers, der vor der Aufgabe die Möglichkeit hat alles auf einen Plan zu zeichnen, seine Werkzeuge bereitzulegen.« auch das darstellen und interpretieren verlangt eine kreative haltung. »Gerade im Jazz ist dieses Tanzen auf dem Seil etwas Gewohntes und Routiniertes, das aber dennoch vor allem als Einstellung geübt werden kann.« so spricht ein künstlerischer mensch und kein einseitig begriffsgeprägter theoretiker oder allein auf äußerliche zwecke und effekte ausgerichteter kunst-vermarkter. für manche ist das denken allerdings bloß ein hammer oder eine kneifzange.
im text »Die Stimme // Blicke auf Stimmen / Worte für Stimmen«, wo joanna lisiak hörundauftrittseindrücke von jazzsängernundmusikern zwischen 1948 bis 2011 beschreibt, die in ihren eigenschaften gleichermaßen real und erfunden sind, bemerkt sie: »Der Personenkult um Sängerinnen und Sänger ist gelegentlich derart groß, dass man, abgelenkt durch Visuelles oder die Art, wie die Stimme zum Ausdruck kommt oder wie sie in Szene gesetzt wird, das eigentliche Hören vergißt.«
bei ihr hat der leser das gefühl, daß sie, selber jazzsängerin, die musik anderer wie ihr unmittelbares und eigenes erleben beschreibt und die auftritte wirklich nacherlebt, als ob sie vor ort, oder in der phantasie, dabei gewesen wäre. damit korrespondiert, was sie über energieströme und etwa das lampenfieber vorm eignen auftritt sagt. sie konzentriert sich auf die jeweiligen besonderheiten der musik und des gesangs sowie der auftrittsformen der künstler. der jazz entstand um 1900, praktisch parallel zur klassischen moderne anderer künste.
im rahmen des literaturundjazzherbstes konstanz arbeitete joanna lisiak, unterstützt vom »Europäischen Kulturforum«, mit der sängerin und komponistin barbara balzan beim projekt »Wort. Klang« zusammen, das 2009 auf dem schloß mainau aufgeführt wurde. die illustrationen von barbara balzan im buch, die aus wenigen strichen bestehen, wirken dezent und zart. »Skizzen sind Wünsche.«, meinte freud. das wort strich, also das gestrichene, ist von streichen abgeleitet, der strichpunkt das semikolon. mit streicheln gehört die bedeutung des berührens zu diesem wortfeld. auf dem cover »Unter freiem Himmel« von mariola lisiak ist der freie himmel bewölkt, also entweder schützend, etwa vor grellem und die haut verbrennendem sonnenlicht, oder drückend.
der faden im kopf folgt den assoziationen, die das wahrgenommene auslöst, und ordnet sie zugleich. der rote faden bezeichnet einen pfad im labyrinth. bei goethe vergleicht mephisto die gedankenfabrik mit einem webermeisterstück. allerdings muß man warten können, bis die einfälle kommen. denn inspirationen sind, so plötzlich und wild sie auftreten mögen, scheue wesen. vielleicht gibt es, bildlich gesprochen, auch einen tanz auf dem faden oder den fäden im kopf. jean paul erklärte: »Trillionen Spinnenfäden der Wahrscheinlichkeit spinnen sich zum Ariadnestrick im Labyrinth.« er dachte die verwirrung mit, ja machte sie teils zur struktur seiner texte. wer nicht immer wieder staunen kann, findet keinen faden in die tiefe.
der schicksalsoderlebensfaden ist der faden in der hand der drei moiren. bei hesiod heißen die moiren klotho, die spinnerin, lachesis, die loswerferin, zuteilerin, und atropos, die unabwendbare. klotho spinnt den lebensfaden, lachesis erhält ihn und teilt die länge zu, atropos durchschneidet ihn und trennt ihn ab. die moiren umfassen so die gesamte lebensdauer eines menschen. im antiken mythos hing sogar das schicksal der götter von den moiren ab.
in »Ein Strich« betont sie den wert des sammelns. sie sammelt dinge in schachteln. »Ein Sammler sammelt nicht, weil er jagen geht. Er geht vermeintlich jagen, aber faktisch wird er selbst eingesammelt, sprich er wird eingenommen ganz und gar, während er gleichzeitig nichts anderes tut als zu flanieren.«, schreibt sie, und: »Die Schachteln sind Verwandte von Fotografien und Fotoalben.«, die man beispielsweise auf dem boden der großeltern findet. schachtel ist verwandt mit kasten und mittellateinisch scatula = büchse, (geld)schrein. »Sammler sind Physiognomiker der Dingwelt.«, vermerkte walter benjamin. zugleich sammeln schöpferische menschen ideen.
die autorin beschreibt die vorbereitung einer ausstellung mit kunstobjekten, die intensität, mit der sie diese gestaltete, indem sie sich der arbeit daran hingab, und das zeitfenster, in dem soetwas entsteht. frühe magische gegenstände waren ihr steine und bernstein von der polnischen ostsee. »Kostbar ist ein krummer Nagel, aber ebenso eine glatt geschliffene, grün schimmernde Achatscheibe. Schön finde ich ein Stück Wandputz von einem Kloster, so wie ich auch eine formvollendete Koralle für sehr apart halte.« sie verwandelt künstlerisch, was andere nicht beachten oder wegwerfen. so erhalten dinge durch ihren blick und die arbeit ihrer hände einen ästhetischen wert unabhängig von ihren früheren zwecken. mein vater hat krumme nägel gerade geklopft und, falls er sie einmal brauchen würde, in leeren margarineschachteln aufbewahrt, neben schachteln mit schrauben und muttern. er wäre nie auf die idee gekommen, daß margarineschachteln mit nägeln auch kunstobjekte sein können. das ist der unterschied zwischen technikern und künstlern.
neues entsteht vielfach aus abfallprodukten. umgekehrt geht verloren, was nicht erneuert wird. die bewahrung der dinge verlangt die errettung ihrer substanzen und die erlösung von ihren versehrungen. zivilisatorisch abgefallenes und verworfenes kann durch künstlerische neugestaltung auferstehn. susan sontag registrierte: »Aus unserem Trödel ist Kunst geworden; aus unserem Abfall Geschichte. Da im Verlauf der neueren Geschichte die Traditionen ausgehöhlt und jene festgefügten Lebensbereiche, in denen kostbare Gegenstände ihren festen Platz hatten, zerschlagen wurden, kann sich der Sammler jetzt guten Gewissens ans Ausgraben der noch einigermaßen reizvollen und für ihre Zeit sinnbildhaften machen.«
joanna lisiak lebt ihren gestaltungswillen ganz aus. auch hier ist ihr besonders das einzelne, konkrete und kleine wichtig, das ihre kreativität anregt. originelle formen haben wesen und charakter, die sie erspürt. bei voller kreativer konzentration auf die gegenstände kann man freilich zeitweilig auf andere wie abwesend wirken. wenn die seele im traum reisen unternimmt, ist sie ebenfalls anderswo, und muß dann rechtzeitig wieder zurückkehren. heimkehren kann man wohl nicht sagen. denn womöglich ist die andere welt die heimat der seele.
das gestalten von joanna lisiak hat etwas von der unbefangenheit der kinder. sie weiß, oder ahnt, was sie macht, aber im kreativen prozeß wird das ausgeblendet. der vergleich mit kindern ist natürlich positiv gemeint. kinder sind ganz natürlich spontan und entspannt schöpferisch. die zweckhaft effizient handelnden erwachsenen verlieren solche fähigkeiten meist, die künstlerische menschen brauchen, oder müssen sie sich mühsam wieder erarbeiten. heraklit verglich die weltbildende kraft mit einem kind, das spielend steine hin und her setzt und sandhaufen errichtet und wieder zerstört. friedrich nietzsche erklärte: »Das Kind wirft einmal das Spielzeug weg: bald fängt es wieder an in unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft, fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen. So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Notwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen.« und: »so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Äon mit sich.«
bei walter benjamin heißt es: »Die Kinder verfügen über die Erneuerung des Daseins als über eine hundertfältige, nie verlegene Praxis. Dort, bei den Kindern, ist das Sammeln nur ein Verfahren der Erneuerung, ein anderes ist das Bemalen der Gegenstände, wieder eines das Ausschneiden, noch eines der Abziehen und so die ganze Skala kindlicher Aneignungsarten vom Anfassen bis hinauf zum Benennen.« und: »Kinder nämlich sind auf besondere Art geneigt, jedwede Arbeitsstätte aufzusuchen, wo sichtbare Betätigung an Dingen vor sich geht. Unwiderstehlich fühlen sie sich vom Abfall angezogen, der sei es beim Bauen, bei Garten- und Tischlerarbeiten, beim Schneidern oder wo sonst immer entsteht. In diesen Abfallprodukten erkennen sie das Gesicht, das die Dingwelt gerade ihnen, ihnen allein, zukehrt. Mit diesen bilden sie die Werke von Erwachsenen nicht sowohl nach als daß sie diese Rest- und Abfallstoffe in eine sprunghafte neue Beziehung zueinander setzen. Kinder bilden sich damit ihre Dingwelt, eine kleine in den großen, selbst.« vielleicht bildet joanna lisiak mit ihren kunstobjekten auch erfahrungen und wahrnehmungweisen ihrer eigenen polnischen kindheit nach und vollendet sie so.
sie betrachtet dinge und kunstobjekte wie familien. »Erstaunlich wie sich gewisse Arbeiten wie von selbst zueinander stellen und andere sich solitär hervortun.«, schreibt sie, »Alles fließt durch meine Hände und durch meine Blicke. Das Bild potenziert sich überdies, wenn ich beginne zu arrangieren. Dann entstehen ganz neue Chancen und die Dinge interagieren, kommunizieren miteinander. Manche fallen aus dem Rahmen, andere sehen kombiniert aus wie Geschwister, obschon sie ganz anderen Ursprung haben.« und: »Ach, diese Vielfalt und das Heterogene, die sich durch mein Leben ziehen!«
»Wichtig ist mir, dass die Dinge zueinander sprechen und sich so etwas wie eine eigene Bildsprache bildet, der man sich nicht entziehen kann und auf die man sich vielleicht sogar einlässt. Dass sich alles miteinander verbindet, eine Ganzheit ergibt.« indem die empathie im betrachten und gestalten auf das unbelebte übertragen wird, wandern seelen in die dinge ein, während andere menschen, die sich nicht mehr einfühlen können, zugleich verdinglichen. »Es sind keineswegs fremde Objekte, die bloß hergestellt werden. Sie sind geschichtlich verankert, befinden sich auf der Durchreise.«, wie menschen. »Ich verfremde, damit es sich mir auf neue Weise erhellt. Ich breche auf, damit die Gegenwart sich offenbart. Ich gehe dem Erbe nach, das ein Gegenstand mit sich herumträgt.« »Also erkunden, untersuchen, ausprobieren und zusammenstellen, kleben, bemalen, kratzen, formen, spachteln.« tastsinn und formsinn gehen ineinander über. sie nennt ihre stücke elaborate. laborieren bedeutet auch als alchemist arbeiten. mittellateinisch laboratorium hieß werkraum, werkstatt, im 16. jahrhundert deutsch alchemistenküche. die kunst der alchemie ist eine der verwandlung.
es entstanden 79 kunstobjekte mit titeln, die sie gern erfindet, weil sie dabei mit worten spielen und auch den betrachter oder leser dazu anregen kann. die objekte heißen unter anderem »Fänger kreisender Gedanken«, »Als das Schaukeln noch Programm war«, »Karneval der Tiere«, »Geflügelte Giraffe vor Würfel«, »Alle meine Kühe«, worin die kinderliedzeile »Alle meine Entchen« anzuklingen scheint, »Glockenwurm«, »Ringeltanz«, »Nierenschälchen mit Leberfleck«, »Dinner: Achate im Dialog mit goldenen Löffeln«, »Zerknuspert«, »zipfelehrlich + zahnradtreu«, »Taschenmaschen« und »luschen laschen«. manche der titel lassen an wortschöpfungen von jean paul denken, der das bizarre, skurrile, groteske und witzige mochte: »Schwanzstern«, »Windfisch«, »dicker Schlaf«, »blitzwunderlich«.
die geflügelte giraffe erinnert an geflügelte sonnen, menschen, löwen, panther, elefanten, stiere, pferde, hirsche, steinböcke, antilopen, einhörner, drachen, schlangen, schildkröten und skorpione. giraffen, die man griechisch und lateinisch kamelpanther, lateinisch camelopardalis, nannte, sehen aufgrund ihrer sonderbaren form wie phantasietiere und mischwesen aus. das einhorn wirkt dagegen geradezu gewöhnlich. für mich als kind waren giraffen, oder elefanten, auch wegen des klangs ihrer namen, im zoo geheimnisvoller als wenn ein streicheleinhorn, oder streicheleinhörnchen, da gewesen wäre. christian morgenstern erfand walfischvogel, pfauenochse, tagtigall, sägeschwan und gänseschmalzblume.
joanna lisiak gestaltete ihre kunstobjekte, beschrieb deren entstehung und erfand spielerisch titel für sie, verband also auch hier verschiedene begabungen. sie brachte die dinge durch ihre gestaltung, in der sie ihre eigenarten offenbaren, zum sprechen, so indem sie mit gold, der farbe des göttlichen und heiligen, bemalt wurden. »Ein von Holzwürmern zerfressenes Holzstück, ein Überbleibsel vom Eisenscharnier einer Kommode, ein Puppenfuß aus weißem Biskuit-Porzellen können genauso würdevoll strahlen und ihre Wirkung nicht verfehlen, wie ein versteinerter Wal-Zahn«. »Meine kleinen Korallen auf geschwärztem Untergrund sind jetzt kleine Goldnuggets und ein glattes Holz gewinnt durch das neue Schimmern auf der goldenen Haut an Leichtigkeit«.
einst bekamen kinder in indien, verbunden mit wünschen für ein langes leben, aus einer goldenen schüssel und mit einem goldenen löffel, sonnensymbolen, honig, butter, geronnene milch und wasser, die indisch auch opfergaben waren, vom vater gereicht, der dazu sprach: »Ich lege Dich in die Erde, ich lege Dich in den Luftraum, ich lege Dich in den Himmel.« diese speisung bedeutete die künftige vereinigung mit dem all-leben, dem brahman. das gerade geborene kind wurde so in einen kosmischen zusammenhang gestellt. honig, butter und milch sind symbole des weltalls. indisch wird bis heute bei der geburt eines kindes honig geopfert. alchemisten wollten, unter anderem von der gnosis angeregt, durch transmutation und reifung unedler metalle gold schaffen und analog geist und seele transformieren und läutern und von den schlacken der materie befreien. die koralle war alchemistisch aus dem urwasser stammende urmaterie. zu ihrem objekt »Bonjour«, einer wandskulptur, schreibt joanna lisiak, sensibel nuancen empfindend: »Bonjour singt dir freundlich zu, es flüstert zärtlich, es ermuntert sanft, es kündigt an, es frohlockt, zirpt anmutig, es vibriert un petit peu. Es nimmt dich wahr mit Respekt, direkt. Es übermittelt mit einer Lebenslust, mit Flair, im Ansatz leicht, nicht ohne Verve. Bonjour. Der Tag kann kommen.«
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Der Faden im Kopf, Aufsätze und Reflexionen von Joanna Lisiak, 2018, mit Illustrationen von Barbara Balzan 236 Seiten, isbn 978-3-74816-716-7
Joanna Lisiak hat sieben längere Aufsätze in ihrem Buch „Der Faden im Kopf“ gebündelt. Es sind Texte über die Kreativität und deren Prozesse, ihre Fallen und Verführungen, ihr Spektrum an Möglichkeiten.
Weiterführend →
Lesenswert ist gleichfalls das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verlieh der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.