Gezeitengespräch 1

Vorbemerkung der Redaktion: In diesem Jahr machen wir das vergriffene Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse auf KUNO recherchierbar.

 

Zeitfern: Da waren die großen Zementröhren, gelagert auf der Straße. Nebeneinander. Ich konnte als Kind darauf springen. Obendrauf. In kurzer Lederhose. Es war wie ein Rausch.

Zeitnah: Auf dem Feld zweimal nebeneinander je drei dicke Rollen Stroh. Zu Pyramiden gestapelt. Ein Spätsommertag. Vielleicht ein letzter unbeschwerter unserer Jugend, die uns verließ. An der wir krampfhaft klammerten. Die ersten Fragen kamen auf und später kamen wir nie wieder zusammen. So nicht. Ein Tag der tiefsten Freundschaft.

Zeitfern: Doch der Schnelligkeit meiner Gedanken folgten die Beine nicht. Ein Schritt zwischen den Röhren und fallen schmerzhaft, rau die Haut gerissen – Knie bluten. Ellbogenrot träufelnd. Ich verwirrt – erschrocken mit Schulranzen nach Haus. Wo warst du? Ich habe dir immer gesagt? Komm setz dich. Hör auf zu weinen!
Der Sommer brüllte, kurz vor den langen Ferien, die Röhren wurden eingegraben. Gibt es heute noch unter Erde. Transportieren Scheiße.

…und Rollen Stroh sollen sehr gefährlich sein, wenn Regen drauf fällt, sagt man. Du mit deinem Rollenstroh.

Zeitnah (ein Stück zumindest): Vom Risiko hatten alle immer wieder gesprochen, wollte es nicht wissen. Was auch immer geschehen würde, es war egal. Sie rollten nicht, die Dreierpyramiden, wir sprangen. Hin und her. Glück für Augenblicke und der Himmel ist bis heute grau. Ja, auch hier die Scheiße aber, denn das Stroh landete wohl im Stall, als Streu bei Kühen oder Pferden.

Zeitfern: Ich kann voll in der Erinnerung versinken. Doch lieber Zeitferne, muss nun die Verwirrungen kühlen. Abstand haben wollen. Der Geruch lockte schon wieder. Das Haar, die Haut. Wörter stammeln. Sich gehen lassen leise. Das Einsaugen der Luft. Wärme finden – wo bin ich – im Stall. Da waren Kühe. Sie standen sehr tief hinten im Gatter. Ich konnte die riesigen Köpfe sehen, jedoch die Körper nicht sinnlich erfassen. Der Bauer sagte: „Das sind Stiere.“ Sei vorsichtig. Sie wurden größer im Kopf. In meiner Erinnerung stierte mich Vater im Wohnzimmer, betrunken. Es regnete. Nass saß er da. Dieser Vater. Bis auf die Knochen.

Zeitnah (und wieder später): Ja, immer wieder alles, was mit Natur zu tun hatte, mit fünf kannte ich alle wichtigen Bäume und Pilze. Und konnte nicht verstehen, warum die anderen Kinder das nicht wussten. Jetzt schon. Das interessierte keine Sau. Wald eben, wen interessiert denn schon, wie die Bäume heißen? Die Pilze gibt es in der Dose. Frische Pilze? Auf dem Markt, da brauchste nicht in den Wald gehen – und das ganze über. Der Vater hat geprägt, in den guten Dingen, leider auch in den schlechten.

Zeitfern: Der Sommer ist vorbei. Herbst. Hast du den Bussard gesehen? Ist Luft blau, oder sieht das nur der Wattenwurm?

Zeitnah (sehr spät): Und der Matsch spritzt dir beim Radfahren ins Gesicht. Du wirst zum Dreckfresser.

Zeitfern: Dreck macht Schmerz. Hier schützt das Stammhirn seinen Joker. Schmerz lass nach. Nach Jahrmillionen. Du scheiß Bewusstseinstrüber. Fixiert auf Warnung. Meine Hände sind zu kurz, für meine Umschalter.

Zeitnah (nächster Tag): Und zwischen den Dingen und Zeiten sehen, was passiert. Und es dudelt die alte Schweineorgel, während irgendwelche Stimmen aus den Lautsprechern plärren. Sie erschrecken mich, verwirren. Welchen Umschalter meinst du, wovon sprichst du? Kannst du etwa noch immer ernsthaft daran glauben, du würdest etwas bewusst verändern können? Determiniert durch deine Vergangenheit. Uns bleibt keine Wahl – und das meine ich nicht nur unbedingt negativ.

Zeitfern (Jetzt): Oh, oh, mein nächster Tag, endlich hast du die Lust verscheucht und die Geselligkeit, durch höchst fremdartige Grillen. Mein Leben, bestehend aus vielen Tagen. Immer das Gefühl, die Zeit steht still. Aufbauend auf den Tagen und Nächten. „Immer wieder sind es dieselben Lieder.“ (die toten Hosen). Es sind immer die gleichen Pilze, die gleichen Bäume, der gleiche Dreck im Gesicht vom Fahrradfahren. Und der Himmel ist immer nah. Mal rot, mal sonnig, mal blau, mal dunkel. Und der Mond. Ja, da steht er. Kühl, ruhig. Seltsames Licht. Träume sind die Fortsetzung. Man kann alles anders sehen. Dafür sind wir geschaffen. Im Kulturkreis. Im inneren Kreis gefangen. Doch verdammt lieber „Mein nächster Tag“, es gibt auch andere Kreise auf unserer runden Welt. Keine Gespensterkreise. Die Frage bleibt plötzlich. Was wird verändert, weil ich lebe? Oder du?

Eine dritte Person taucht auf und fragt: Hat sich das alles denn gelohnt? Besteht denn alles nur aus Fragen ohne Antworten, Rapunzel, reicht dein allzu kurz gestutztes Haar nicht, emporzuschwingen und Dinge zu erkennen, die weit entfernt liegen? Der Blues kommt!

Zeitnah (so wieder): Dritte mögen sich immer wieder einmischen. Aber nicht die Antworten sind wichtig. Nichtig sind sie. Werfen neue Fragen auf. Beständiges und kindliches Wie und Warum. Immer nur auf eine Zeit begrenztes Wissen. Die Zeit schreitet voran und meint mit Meinungen ein Intermezzo geben zu müssen. Antwortenkataloge führen zur Autokratie, werden leicht zu leichtem Geschwätz. Worthülsen.
Ja, der Himmel ist nah, aber was stellt er dar. Gerade die Doppelbödigkeit von Realität und Erscheinung, von begrifflicher Fassung und Unfähigkeit zur Erkenntnis. Zur Wahrheit. Nicht suchen ist der Sinn der Befragung, sondern die richtigen Fragen, die auf der Straße liegen, wie eben jene viel beschworenen Nuggets im Dreck, zu finden, sie aufzulesen und zu stellen. Die Kunst daran ist das freie Mischen des Vorhandenen, die Kunst an sich ist das freie Mischen des Jetzt. So kommt das Neue als Prozess zustande. Ein unsicherer Tanz zwischen Gedanken, Gefühlen und Traum. Und letztlich vielleicht nicht die Frage nach dem „Woher kommst du?“, sondern „Wo stehst du?“

 

 

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Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse in der Edition Das Labor, Neheim 2014

Weiterführend

Eine Einführung zum Projekt Gezeitengespräch findet sich hier. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Künstlerbücher verstehen diese Artisten als Physiognomik, der Büchersammler wird somit zum Physiognomiker der Dingwelt. Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421