Der Nonkonformist als Prüfstein für eine tolerante Gesellschaft

Nonkonformisten sind in ihrer Zeit Verkannte, Unvollendete, deren spektakulärer Misserfolg oder früher Sturz ihr Werk und Wirken vor der Profanierung schützt.

Die dienende Funktion der Kulturnotizen (KUNO) besteht seit 1989 darin, Formen für die heutige Welt zu finden und auf dem Schrottplatz des www das Herausragende neben dem Abseitigen zu entdecken. In diesem Online-Magazin schätzt die Redaktion seit jeher Nonkonformisten die außengesteuerte Mitmenschen verachten, Normopathen, die nur als Herdentiere leben können. Es geht diesen Nonkonformisten darum, nicht ­mitzumachen. Die Zuschreibungen und Normen, die gesellschaftliche Rollenbilder ausmachen und an Gruppenzugehörigkeiten geknüpft sind, weisen die Nonkonformisten harsch zurück. Den sozialen Status verachten sie, weil „die gute Gesellschaft“, die ihn verleiht, nicht ihre Anerkennung findet, sondern es ihnen von als degoutant empfunden wird, sich danach zu richten, „was andere Leute“ denken. Die Herdenmenschen (die Normalmenschen, Konformisten) verachten ihn ihrerseits zuerst, dann bewundern sie doch heimlich. Sobald sich so viele Nonkonformisten auf demselben Abseitsweg befinden, und damit einen neuen Trend markieren, entwickelt sich ein Konformitätsdruck dorthin, dem die Masse nur zu allzugern folgt. Nonkonformisten kümmern sich nicht darum, wie die Welt normalerweise funktioniert. Der Druck, der eigenen Persönlichkeit zu folgen, ist größer als der Druck der Umgebung nach Anpassung. Nonkonformisten setzen ihre Leser auf ein politisches und philosophisches Karussell, von dem sie nie wissen können, wann es je wieder anhalten wird. Nonkonformisten sind Ewigsuchende, sie geben sich nie zufrieden mit dem, was ist. Sie will das Ende von Gewalt und von Herrschaft. Sie wollen ein unwiederbringliches Leben. Und das möglichst vor dem Tod.

Diversität bedeutet auch auch Divergenz. Die konsequente Verschiebung bekannter Frontlinien wird damit zu einer der wichtigen Einsichten von KUNO. Der Nonkonformismus ist weniger eine geschlossene Schule als einen repräsentativer Knotenpunkt im Denken der Moderne.

Michel de Montaigne, ein Blogger aus dem 16. Jahrhundert

KUNO versteht sich als komplexe Gegenerzählung zum herrschenden Kulturbetrieb. Nonkonformität verstehen wir als zweckrationalen Normbruch und definieren den Nonkonformismus als handlungsleitende Gesinnung, die sich negativ auf eine geltende Ordnung bezieht und die Grundlage wertrational motivierten Handelns im Sinne einer unvollendeten Utopie bildet. Die Spuren führen dabei weit in die Literaturgeschichte zurück, sie verästeln sich nicht allein in den mal intellektuellen, mal realen Begegnungen der Protagonisten miteinander, sondern beziehen ein Nebenpersonal ein. Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen,die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Wir machen einen zeitlichen Sprung mit dem Versuch einer Rekonstruktion des flatterhaften Jahrzehnts zwischen 1967 und 1977. Auf den Spuren des legendären V.O. Stomps hatten die Autoren keine festen Strukturen, sie agierten dezentral und für ein zahlenmäßig sehr kleines, und meist gleichgesinntes Publikum. Was die Protagonisten miteinander verband, war ihre nonkonformistische Haltung gegenüber dem vorherrschenden Literatur-Betrieb. Sie erzählen von der Sprachlosigkeit und der Unfähigkeit zur Trauer im Nachkriegsdeutschland und sind dabei in lauter Ambivalenzen verstrickt, die zwischen „Wissen und gleichzeitigem Nicht-Wahrhaben-Wollen“ switchen. Scham- und Schuldgefühle sowie gesellschaftliche Tabus sind Themen der nonkonformistischen Literatur. Trotz der Entnazifizierung sehen sich diese Freaks mit einem  vulgären Chauvinismus verbunden mit einem Alltagsantisemitismus konfrontiert, der wieder zum Vorschein kommt.

 V.O. Stomps ist der Klassiker des Andersseins

Porträt V.O. Stomps © Minipressen-Archiv

Rabenpresse war der Name des Verlages, der 1926 von Victor Otto Stomps und Hans Gebser in Berlin zusammen mit der Druckerei Stomps & Gebser. Buch- und Kunstdruckerei – Verlagsanstalt gegründet wurde. Sie bot zu Beginn der Zeit des Nationalsozialismus einen gewissen Freiraum für einige Autoren, die den Machthabern missliebig waren.Im Gegensatz zu den etablierten Großverlagen konzentrierte sich die Rabenpresse auf die kleine Form und produzierte geringe Auflagen in hoher handwerklicher Qualität. Sie wandte sich besonders der Lyrik und Erstlingswerken junger Autoren zu.

Die eigentliche Verlagsproduktion der Rabenpresse begann erst 1932, bis dahin hatte der Verlag nur neun Bücher herausgebracht. Viele der in der Rabenpresse erschienenen Werke stammen von expressionistisch geprägten Autoren. Stomps sah als Verleger sein Vorbild in Alfred Richard Meyer, genannt „Munkepunke“, der seit 1907 in eigenen Verlagen und Zeitschriften insbesondere die expressionistische Lyrik gefördert hatte. Meyers Werk Munkepunkes fünfzig törichte Jungfrauen erschien in der Rabenpresse, ein weiteres Beispiel ist Terzinen für Thino von Paul Zech, wobei mit Thino Else Lasker-Schüler gemeint ist. Insgesamt war der Verlag aber keiner bestimmten literarischen Tendenz verpflichtet.

Zu dem besonders gepflegten äußeren Erscheinungsbild der Ausgaben der Rabenpresse gehörte auch, dass die meisten Bände mit Illustrationen oder wenigstens einer Titelzeichnung von teilweise bekannten Künstlern ausgestattet waren, die diese unentgeltlich zur Verfügung stellten. Für Oschilewskis Gesang der Sterne stellte Frans Masereel einen Holzschnitt her, Hannah Höch lieferte Illustrationen zu Scheingehacktes 1935 von Til Brugmann, ihrer langjährigen Lebensgefährtin. 1933 erschien Horst Langes Erzählung Die Gepeinigten mit Original-Holzschnitten des mit ihm befreundeten schlesischen Bildhauers Joachim Karsch, und 1936 trug Alfred Kubin die Titelzeichnung zu Stomps’ Fabel von Paul und Maria bei.

Stomps experimentierte außerdem gerne mit Schriften und anderen typographischen Elementen, zum Beispiel mit ungewöhnlichen Papiersorten. So druckte er von Zechs Terzinen für Thino eine Sonderausgabe auf Büttenpapier, und die beiden Nummern der Reihe Das Mundtuch sogar titelgerecht auf Serviettenpapier. Auch die ersten Bücher des Schriftstellers Werner Helwig erschienen bei ihm (Die Ätna Ballade 1934 und Nordsüdliche Hymnen 1935).

Im Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus hatte der Verlag in der Berliner Literaturszene eine besondere Bedeutung, da er anfangs noch einen begrenzten Freiraum bieten konnte. Stomps passte sich nicht dem Geschmack der Machthaber an und kümmerte sich auch nicht darum, ob die Werke seiner Autoren bereits den Bücherverbrennungen anheimgefallen waren.

Seit 1931 veranstaltete die Rabenpresse regelmäßig Leseabende mit Autoren wie Horst Lange, dessen Roman Ulanenpatrouille später durch die Nationalsozialisten verboten werden sollte, Hermann Kasack, Oskar Loerke, Paul Zech, Werner Bergengruen, Herbert Fritsche, George A. Goldschlag, A. N. Stenzel, Max Herrmann-Neiße und vielen anderen. Diese Veranstaltungen waren den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge und ein Grund für den zunehmenden Druck, den diese auf die Rabenpresse ausübten.

1933 erschien die Erzählung Die Gepeinigten und 1935 ein weiterer Text von Horst Lange, 1934 der Gedichtband Preußische Wappen der Jüdin Gertrud Kolmar, die 1943 von den Nationalsozialisten ermordet wurde.

Die finanzielle Situation der Rabenpresse war stets prekär, selbst nach der sehr erfolgreichen Veröffentlichung im Jahre 1934 der Briefe an R. M. Rilke von Lisa Heise, deren Erstauflage von eintausend Exemplaren bereits weit über den für die Rabenpresse normalen drei- bis fünfhundert lag. Im Mai 1937 musste Stomps auf Druck der Nationalsozialisten und aus finanziellen Gründen den Verlag verkaufen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in der Rabenpresse 112 Bücher erschienen. Der Verlag wurde bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges von Ernst Winkler weitergeführt. Diese Bücher haben dann nicht mehr das eckige Rabenpressensignet, sondern ein kursives R in einem Kreis. Victor Otto Stomps stellte bis 1943 noch Privatdrucke her, wie zum Beispiel zwei kleine Veröffentlichungen von Oskar Loerke 1938 und 1939.

Der nonkonformistische Geist der Rabenpresse wurde von Josef „Biby“ Wintjes in die BRD transferiert

Josef „Biby Wintjes. Porträt: Bruno Runzheimer

Die Urzelle der Nonkonformistischen Literatur in der BRD ist das INFO. Noch als Angestellter in der EDV-Abteilung der Firma Krupp gründete er 1969 in Bottrop das „Literarische Informationszentrum“ (ursprünglich: Nonkonformistisches Literarisches Informationszentrum), das er – überwiegend als Einmannbetrieb, zeitweise unterstützt von seiner jeweiligen Ehefrau – bis zu seinem Lebensende führte. Das Literarische Informationszentrum funktionierte als Versand- und Vertriebsstelle für Zeitschriften und Bücher aus der Nonkonformistischen Literatur. 1974 kündigte Wintjes seine Stellung bei Krupp und machte das Literarische Informationszentrum sowie die Herausgabe seiner Zeitschriften zu seiner „Fulltime-Aufgabe“. Von 1969 bis 1990 gab er erst monatlich, die längste Zeit dann jedoch zweimonatlich, die Zeitschrift Ulcus Molle Info heraus, die sich als Mitteilungsblatt und Diskussionsforum der literarischen, spirituellen und politischen Gegenkulturszene verstand. Ab 1987 legte Wintjes zudem die ebenfalls zweimonatlich (später vierteljährlich) erscheinende Zeitschrift Impressum vor, die sich in erster Linie der Förderung von Nachwuchsautoren verschrieben hatte und nach seinem Tod von Bruno Runzheimer und Monika Laakes bis Ende 1999 weitergeführt wurde. Daneben stemmte Wintjes auch noch die Herausgabe verschiedener Buchanthologien zur Underground- und Alternativpresse der 1970er Jahre (Szene-Reader 1972 ff.). In der Literaturszene der 1970er und 1980er Jahre galt er vielen als Integrationsfigur, bildete Wintjes mit seinem Versanddienst eine wichtige Anlaufstelle für ihre Angebote und Nachfragen. Sein umfangreicher Nachlass an der Nonkonformistischer Literatur aus dieser Zeit wird im Archiv für Alternativkultur an der Humboldt-Universität zu Berlin verwahrt.

Heutige Linke wissen mit Nonkonformismus nichts mehr anzufangen, der damit einhergehende Individualismus gilt sogar als Schimpfwort. Dabei ist der Nonkonformismus eng mit dem Begriff von Kritik verbunden – und das beste Mittel gegen autoritäre Tendenzen.

Oliver Schott

Der Urvater des Social-Beat: Hadayatullah Hübsch. Photo: Masroor-ahmad

Paul-Gerhard Hübsch besuchte in Laubach die Paul-Gerhardt-Schule, aus der später das Laubach-Kolleg hervorging. Zwischen 1965 und 1967 war er als Mitglied im Hessischen Ausschuss des Ostermarschs politisch aktiv und leitete Ostermarsch-Gruppen sowie Anti-Vietnamkrieg-Demonstrationen. Hübsch verweigerte den Kriegsdienst und war während der Studentenunruhen der APO in der linken Szene aktiv, unter anderem in der Kommune I, und machte in dieser Zeit zahlreiche Drogenerfahrungen, vor allem mit LSD.

1969 trat Paul-Gerhard Hübsch – nach einer spirituellen Erfahrung während einer Reise nach Marokko – in die islamische Reformgemeinde Ahmadiyya Muslim Jamaat ein und hieß fortan Hadayatullah (ھدایۃ ﷲ ‚der von Allah geleitete‘). Als Imam Dschuma wirkte er an der Nuur-Moschee in Frankfurt-Sachsenhausen, wo er die Freitagspredigt auf Deutsch hielt. Hübsch galt als einer der bekanntesten deutschen Konvertiten.

Um 1970 erschienen noch unter dem Namen Paul-Gerhard Hübsch mehrere Gedichtbände bei Luchterhand, im Maro Verlag und in der Verlagsedition Dittmer. Acht Jahre war Hübsch für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tätig, die auch seine Gedichte veröffentlichte, bis er 1979 nach seiner Konversion zum Ahmadiyya-Islam eine bekannt gewordene Kündigung bekam, in der es zur Begründung heißt, Hübsch sei „eine außergewöhnliche, jeglichen bürgerlichen Rahmen des Abendlands sprengende Erscheinung“. Er war Mitbegründer des linksalternativen Club Voltaire in Frankfurt und eröffnete im Mai 1968 den „Heidi loves you shop“ in Frankfurt-Bockenheim, einen Headshop für die Hippie-Szene, der allerdings nach wenigen Monaten von den Behörden wieder geschlossen wurde.

Im kulturellen Kontext spricht man von Zugehörigkeit zu einer Underground-Bewegung. Einzelne nonkonforme Handlungen, die gegen Rechtsnormen verstoßen, jedoch aus Gewissensgründen vollzogen werden, um symbolisch auf eine Unrechtssituation hinzuweisen, werden als Akte des zivilen Ungehorsams bezeichnet. Die gilt sowohl für die Beat Generation als auch für den Anfang der Gruppe 47.

Man lässt Texte lesen, man lässt sie kritisieren. Es ist unwichtig, ob die Texte etwas besser oder schlechter sind, ob die Kritik brillant oder nicht brillant ist, es entsteht, so oder so, Kommunikation, es entsteht, setzt man dies Jahr für Jahr fort, ein literarisches Zentrum, ein literarischer Existenzmittelpunkt, es entsteht das, was ich den indirekten Einfluss nenne. Er muss sich – in einer demokratischen Gesellschaft – auch politisch auswirken. Dieser Einfluss ist unmerklich, kaum wahrnehmbar. Dennoch bewirkt er mehr als alle Programme, alle Manifeste, mehr als jeder Versuch unmittelbar Einfluss zu nehmen.

Hans Werner Richter

Das Tagebuch von Hans Werner Richter ist voller Invektiven. Reich–Ranicki ist ein Schwätzer, Jens ein Feigling, Walser ein gefährdeter Psychopath, der bei Schreibkrisen politisch werde, Böll ein Mitläufer der Gewalttätigen, der gegen die Geldwirtschaft sei, aber das Geld liebe und sich in Russland feiern lasse, Enzensberger ein internationaler Abenteurer und literarischer Playboy, Harlekin am Hof der Schein–Revolutionäre und  Paul Celans pathetischen Singsang verglich er mit Goebbels. Richter hat diesen Ausfall bedauert. Das hielt ihn nicht ab, Vigoleis Thelen abzukanzeln, man brauche dieses Emigrantendeutsch nicht.

Helmut Böttiger erzählt die Geschichte der Gruppe, es basiert auf einem breiten, zum Teil noch nicht herangezogenen Materialfundus, es ist gut geschrieben und strukturiert, erweitert sich zudem zu einer ganz eigenen, plastischen Literaturgeschichte der alten BRD. Er liefert biografische Miniaturen der Protagonisten Aichinger, Andersch, Bachmann, Celan, Eich, Höllerer und anderen. Sie sind sie doch stets informativ und um ein klares Urteil ist der Kritiker nicht verlegen. Lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Würdigung des Autors durch Jutta Ludwig, der in Princeton die Gruppe 47 versenkte.

Der interessanteste „Autor“, den der Social Beat hervorgebracht hat, ist eine Frau

Ní Gudix, immer mit dem Blick aufs Wesentliche

Vom sogannten Social Beat ist nicht mehr viel übrig geblieben, wer erinnert sich noch an Ingo Lahr, Andi Lück oder die von HEL so benannte „Einmannsekte“ Tom de Toys? Der interessanteste Autor, den diese Bewegung hervorgebracht hat, ist eine Frau, Gudrun Rupp aka Ní Gudix. Sie arbeitet vor allem als freie Literaturübersetzerin und betätigt sich zudem als Schriftstellerin, Theaterautorin und Rezitatorin. Als Ní Gudix veröffentlichte diese vielseitige Autorin zahlreiche Texte (wie etwa den Hausaffentango), Essays und Übersetzungen in verschiedenen Anthologien und Literaturzeitschriften. Der Dialog zwischen Text und Übersetzung ist jedoch nicht die einzige Dimension der mannigfaltigen Auseinandersetzung mit Sprache und ihres Transfers in unterschiedliche Medien. All diese Gattungen besitzen für diese Autorin uneingeschränkte Relevanz.

LaborBefund – Literatur aus der Wirklichkeit

Wir stellen auf KUNO hin und wieder Literaturzeitschriften vor, zuletzt die Matrix. Auf diesem Weg gilt es einen weiteren Irtum auszuräumen, es herrscht die Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene. KUNO konsultiert den Wert des Analogen und dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck. Gern weisen wir daher auch auf den LaborBefund – Literatur aus der Wirklichkeit hin. Diese Lit.-ZS wartet mit Informationen, Deutungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen auf, der den Zustand der Unsicherheit einer Welt gegenüber zeigt, die sich dem Verständnis entzieht. Seit 2013 ist Ní Gudix als Verlegerin und Chefredakteurin der neu gegründeten Berliner Literaturzeitschrift tätig. Im Gegensatz zum sogannten Social Beat stimmen sowohl Texte als auch Bilder nicht in den Abgesang auf das Subjekt ein, das all seine Stabilität verloren hat, sondern reproduzieren und kommentieren diese Effekte durch die zahlreichen intertextuelle Verweise und die verschiedenen miteinander verbundenen Ausdrucksmodi. Das Sammeln und Auflesen verschiedener Gegenstände aus der Tradition bis hin zu brandaktuellen Medienerscheinungen sowie ein gewisses Maß an Verrätselung werden hier zum Prinzip des editorischen Schaffens. Diese ZS ist, wenn man so will, der einzig legitime Nachfolger des Ulcus Molle Infos.

Das Plebejische war ein Alleinstellungsmerkmal des DDR-Undergrounds

Der genialische Stadtstreicher und Punkpoet „Matthias“ BAADER Holst aus Halle/S., geboren am 17. Mai 1962 in Quedlinburg, ab 1984 hielt er Lesungen und Aktionen mit Peter Winzer und Heiko Beige ab. 1988 folgte der Umzug nach Berlin und ab dann nahm er an künstlerischen Aktionen mit Peter Wawerzinek teil. Er verlor nach einer Lesung und einer versumpften Nacht das ungleiche Kräftemessen mit einer Straßenbahn. Er starb am 30. Juni 1990, dem letzten Tag der DDR-Mark, im Alter von nur 28 Jahren anonym in der Berliner Charité.

Es sollte bis zum Jahr 2010 dauern, bis  eine umfassende Sammlung seiner Texte im Hasenverlag Halle („Matthias“ BAADER Holst: hinter mauern lauern wir auf uns. Drei Textsammlungen und verstreute Texte aus den inoffiziellen und offiziellen Publikationen bis 1990. Neu herausgegeben von Tom Riebe. 274 Seiten + DVD) erscheint.

In 2011 widmen die Herausgaber BAADER das zweite Heft der Lyrikheftreihe VERSENSPORN, welches u. a. zehn bis dahin unveröffentlichte Texte enthält. Im Februar 2015 erfolgt die Übergabe des Großteils seines Nachlasses an das Deutsche Literaturarchiv Marbach.

André Schinkel, porträtiert von Jürgen Bauer

In seinen  Gedichten, die den Nachfolger seines 2007er Bandes Löwenpanneau bilden, sieht man André Schinkel mit der Vertiefung seiner poetischen Sichten befasst. Wir erinnern uns: Löwenpanneau ein aus der Fülle und dem Abraum gewachsenes Buch, keines mehr aus der Notwendigkeit des Zukleisterns der Leere. Auch die Texte von Bodenkunde entstanden in einer bewegten Phase des Autors und sprechen über den Zweifel an der und die Hoffnung auf die Liebe, sie reden in Amouren und Rondellen über die Schönheit und den Schrecken der Welt, ihrer Gegenwart als zu entdeckendes Paradies, berichten von inneren wie äußeren Reisen, Gestirnen, vom Licht und der Sehnsucht. Lesen Sie zur Vertiefung der Thematik auch Holger Benkels Rezensionsessay über den Lyriker André Schinkel.

Der Bildungsbürger, verkleidet als Nonkonformist?

Ulrich Bergmann in der „Buchhandlung 46“ in Bonn

Seit über 30 Jahren verfügt Ulrich Bergmann als intensiver Beobachter über die Begabung, noch die alltäglichsten Details in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, um etwas über das Leben und die menschlichen Beziehungen zu erzählen. Er bevorzugt eine Poetik der polyphonen Ich-Erzählung. Bergmann besitzt das Geschick, aus einfachen Fäden, dem Alltäglichen und Unprätentiösen, einen filigranen und faszinierenden Erzählteppich zu weben, ein klares und doch letztlich geheimnisvolles, melancholisches und doch schwebend leichtes Bildnis eines Lebens zu wirken. Daß diese Welt brüchig ist, zeigt sich im Detail. Wenn er sein Leben in seinen Texten dialektisch paradox durch Spiel, Theater, Phantasie erweitert, weiß er, daß die ungedachten Gedanken und die unrealisierten Pläne immer besser als die gedachten und gelebten sind und der ideale Text eigentlich ein Liebesakt (wie wir in seinen Schlangegeschichten nachlesen können), der Geburt und Erleuchtung vereint. In Bergmanns Splitter-Prosa herrscht die Ästhetik der Fernbedienung, der Autor zappt von einer Szene zur nächsten und die Episoden sind ebenso phantasievoll wie nachdenkenswert. Mit all ihren Stärken und Schwächen ist diese Prosa so ambivalent wie das Leben, das dieser Autor einzufangen versucht.

Es gehört zu den Erfahrungen von Hans-Ulrich Prautzsch, unter schwierigen umständen zu leben, denen er sein kämpfernaturell sowie seine Solidarität der Solitäre entgegensetzt.

Weit davon entfernt als Preussischer Ikarus abzustürzen verfügt Hans Ulrich Prautzsch über eine abgehangene Lässigkeit im Bluesschema. Man mag ihn sich vorstellen, wie er zur blauen Stunde in Cafés und Kneipen sitzt und sich Situationen für spätere Notizen vormerkt. Gesättigt vom Leben kommen diese Gedichte daher. Der Leser begibt sich mit diesen Gedichten an Orte, die von der so genannten Pop-Lyrik nicht aufgesucht wird. Holger Benkel stellt auf KUNO das „Lyrik Heft 27“, von Hans-Ulrich Prautzsch vor.

Wie ein Archäologe hebt Holger Benkel Dinge, Gedanken, Zusammenhänge, die begraben wurden von der Zeit, ans Licht unserer Tage. Und belässt ihnen dabei doch ihr Geheimnis.

Covermotiv von Gedanken, die um Ecken biegen, Uwe Albert, Technik: Aquarell / Feder

Holger Benkel beweist als Lyriker in seinem Band Seelenland ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen. Seine Gedichte amalgamieren Mythologisches mit Gegenwärtigem, verbinden die Frage nach der Vernunft oder deren Abwesenheit. Benkels Beharren auf der ehemals kultischen oder liturgische Funktion der Poesie ist wohltuend.

Holger Benkels Gedanken, die um Ecken biegen gehen weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen. Benkels Aphorismen folgen keinem linearen und systemischen Denken, sie entfalten sich vielmehr assoziativ und labyrinthisch.

Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft, seine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, daß die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin liegen, nie alles wissen zu können.

Dem Gesang der Zikaden aber kann sich auf jenem Eiland keiner entziehen.

Ingeborg Bachmann

Stridulation, eine spezielle Form der Lauterzeugung

Bei einem Titel wie die gezirpte Zeit liegt eine onomatopoetischer Assoziation nahe, besonders in diesen Tagen, da ein neuer Zikadensommer anbricht. Analog zu ihrer Arbeit auf der Bühne versucht Reyer die Sprache nicht in abbildender beziehungsweise inhaltlich-bezeichnender Funktion, sondern auch als Lautmaterial anzuwenden. Bei allen Vorgängern bedient sich Reyer mit der Ungeniertheit des Naturtalents und macht daraus etwas ganz eigenes. Sie experimentiert quasi mit ihren eigenen Erfahrungen. Im Prozess des Ausformulierens kann sich Reyer schon mal verlieren, daher holt sie sich für ihre Live-Auftritte auch Gäste hinzu. Wie in der Lautpoesie, die gleichzeitig die Töne aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, macht sie in ihren Gedichten Techniken aus, die nach dem Prinzip des Collagierens und der Simultaneität verfahren. Ihre Lyrik nähert sich in dem Maße, in dem Semantik verschwindet und der Klang in den Vordergrund tritt, der Musik an. Jede Dichtung spricht über die Situation ihrer Herkunft. Natürlich vernetzt sich Sophie Reyer mit Ingeborg Bachmann (Die gestundete Zeit) und beispielsweise Paul Celan (Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun) oder Rainer Maria Rilke (Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt in euch?). Und selbstverständlich ist die Gutenberg-Galaxis ein Referenzuniversum, das Schreiben wird durch das schreibende Analysieren gebrochen.

Für Patricia Brooks zählt das Unterwegssein in der Sprache, es bleibt für sie ein Abenteuer mit offenem Ausgang.

Porträt der Autorin: Daniela Beranek

Schreiben bedeutet eben auch, die Fluchtimpulse vor dem Schreibtisch und die Panik vor dem leeren Blatt zu bewältigen. Durchzuatmen und sich aus das Wesentliche zu konzentrieren. Patricia Brooks wird – so scheint es – von einem Übermaß an Geschichten bedrängt, die alle von ihr eine erzählerische Gestalt verlangen, und die Essens ihres schriftstellerischen Tuns findet sich vor allem auf der kurzen Strecke. Man kann ihre Erzählungen schnell lesen, doch Vorsicht (!) mehr als eine Brooks-Geschichte am Tag verkraftet man eigentlich nicht. Diese Prosa sollte erst einmal wahrgenommen werden, damit sich das Lesen ereignen und Satz für Satz vollbringen kann. Brooks Erzählungen sind dicht geschrieben, voller Leben und Abgründigkeit. Dies kann auf einen hohen Grad an Sprachbewußtheit zurückgeführt werden. Brooks nutzt die Sicherheit der äußeren Form, um ihre Figuren in waghalsige Verstrickungen führen zu können, ohne dabei erzählerisch den Boden unter den Füssen zu verlieren. Sie zeichnet Lebenslinien, immer leicht, präzise, ohne Pathos, eindringlich. Sie erzählt nichts aus und meidet die Sektion ihrer Figuren, um dadurch umso mehr von ihnen preiszugeben. Gerade das, was Brooks nicht erzählt, schafft die Tiefe in ihren Geschichten. Bevorzugt zeigt sie, was geschieht, wenn zwischen Menschen Anziehung oder Abstossung herrscht oder beides zugleich. Es ist der ewige Kreißlauf von zusammen gehen und auseinander kommen. Seit ihrem ersten Band Aquadrom versucht sich diese Autorin in einer Prosa, die aus der Empfindung kommt und Denken und Erleben nicht als Gegensatz, sondern als Einheit begreift.

Gnadenlos reflektiert Weigoni das Ende des Hedonismus, in dem das Heilversprechen auf erotische Selbstentfaltung in ein gehobenes Konsumentenverhalten umschlug.
Phillip Boa

András (A. J.) Weigoni (* 18. Januar 1956 in Budapest/Ungarn, Flucht mit den Eltern nach dem Volksaufstand; † 26. Januar 2021 in Düsseldorf)

Im Werk von A.J. Weigoni herrscht ein Gedränge der Untoten, er exorzierte damit seine Zeitgenossen. Die Wirklichkeit ist für diese Typen nicht greifbar. Die radikale, rohe Kraft dieser Sprache ist ein Ereignis. „Diese Erzählungen haben keine Vampirzähne, Biss haben diese Zombies allemal. Sprachlich auf das Wesentliche reduziert, Erzählungen, die ihrem Namen gerecht werden.“ Hier werden die Grenzen des Denkens und die dunkelsten Winkel des Lebens ausgeleuchtet, die Kunst der Erzählung liegt oft im Detail. Weigoni ist ein unerbittlich satirischer Analytiker, er mischt auf verführerischste art, was alle Welt am nötigsten hat, die drei grossen Stimulantia der Erschöpften, das Brutale, das Künstliche und das Idiotische. Pervers ist die gesellschaftliche Realität, nicht aber die Kunst, die sich mit ihr auseinandersetzt.

Mit den Novellen Cyberspasz, a real virtuality setzte A.J. Weigoni die im Band Zombies begonnenen Erforschungen der Trivialmythen fort. Definierte dieser Romancier mit den Vignetten die Literaturgattung Novelle neu und analysierte zugleich den Somnambulismus der Welt, so oszillieren seine Novellen zwischen dem mokanten Blick einer zuweilen herzlich boshaften Zeitgenossenschaft und der Ekstase einer ins Innere der Erscheinungen zielenden Sehnsucht, zwischen den Wonnen der Gewöhnlichkeit und ihrer argwöhnischen Begutachtung. Weigoni stellte existenzielle Fragen nach dem Wesen der Wirklichkeit. Cyberspasz spiegelt die entfesselten Welten des Digitalzeitalters. Der ´virtual reality` zieht der Nonkonformist die reale Virtualität der Poesie vor und plädiert für die Veränderbarkeit der Welt.

KRASH ist ein Konzept, das nicht nur das Gewesene, sondern etwas von der Möglichkeit der Aktualisierung und eines in diesem Sinne Darüber-Hinaus beinhaltet

Karl Riha

Die Arbeiten des Künstlers Dietmar Pokoyski sind der Beweis dafür, daß Avantgarde auch Spaß machen kann. Seine Bücher kann man als Skulptur betrachten, eingebunden in eine Multi-Media-Show. Dieser Artist gestattet sich einen spielerischen Umgang mit Büchern, jenseits der herkömmlichen Grenzen zwischen bildender Kunst und Literatur. Diese führte ihn gemeinsam mit Enno Stahl zur Gründung eines Verlags, bei dem der Name Programm wurde: KRASH. Diese Edition ist deshalb literaturgeschichtlich relevant, weil sich die Aktivisten einer allzu leichten Vernutzung widersetzten, die dem Wissen um die Form-Scharmützel der letzten Dekaden bereits in der Oberflächenstruktur Rechnung trägt. KRASH-Bücher sind daher nicht immer Bücher im herkömmlichen Sinne: Es gibt 3-D-Lit., einen Karteikartenkrimi, Kartonromane oder den 1. Stein als Buch mit einer ISBN, ein Putzlappenbuch. Oder aber tEXtile tEXte: Literatur auf Stoff, Kopfkissen–Kurzkrimis und literarische Sentenzen auf T–Shirts, Unterwäsche, Jacken, Socken, Teppichen: bedruckt, aufkopiert, bestempelt, handgeschrieben, beflockt. Ein weiteres KRASH-Produkt ist die durch A.J. Weigoni angeregte Gossenheft-Reihe.

Lange blieb dies eine isolierte Erscheinung. Inzwischen jedoch hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu ein grösseres Publikum, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. Die frühen Filme und Aktionen von Christoph Schlingensief waren Trash. Viele Elemente des Theaters von Frank Castorf und René Pollesch sind Trash. Die Bildkunst des hoch gehandelten Jeff Koons und des schrillen Jonathan Meese ist Trash. Die Romane von Helene Hegemann und E. L. James sind Trash.

Rolf Schneider

KUNO versteht Trash als einen subjektiven Wahrnehmungsmodus von überindividueller, kollektiver Bedeutung im Sinne des kulturellen Gedächtnisses, der sich auf verschiedenste Phänomene beziehen kann. Dies umfaßt sowohl Personen, Figuren, Ereignisse, Orte als auch Konzepte, Ideen und Institutionen. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. Ausdrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp.

Wie der Punk die Innerlichkeitsliteratur hinwegfegte hat Peter Glaser in Attrappe einer Kulturgeschichte von neulich überzeugend dargelegt. Sogleich folgte eine Fanzine-Szene, wie sich in einem weiteren Kollegengespräch über den Otto-Versand der Subkultur erschließen läßt. Für den punktbefeuerten Nonkonformismus ist die Vorstellung typisch, dass etwas Altes zugrunde gehen muss, damit etwas Neues entstehen kann. Der Weg in eine bessere Zukunft führt durch individuelle oder kollektive Katastrophen. In diesen photokopierten Fanzines betraten junge Schriftsteller die literarische Szene und setzen die nonkonformistische Literatur auf ihre Art fort. Sie und ihre literarischen Figuren standen außerhalb der bürgerlichen Ordnung, rebellierten betont jugendlich gegen die Welt der Väter und aller autoritären Repräsentanten des patriarchalischen Systems. Sie brachen auf aus erstarrten, leblosen Konventionen und begaben sich, auf die Suche nach anderen Formen sozialer Gemeinschaft, nach neuen Arten des Erlebens, der Wahrnehmung und des künstlerischen Ausdrucks.

Wer dem Wort zugetan ist – und damit der Sprache, dem Geist und der Vernunft der darf mit Fug und Recht Buchstabenmensch genannt werden.

Der Herausgeber des vordenker Joachim Paul erforscht Gebiete, die über den Rand der Buchstaben und Texte hinausreichen.

Von einem Homme de lettres erwartet man ebenso wie vom Scharfrichter, daß er sich ständig entschuldigt. Dieser muß Abbitte leisten, weil er zu tödlich ist, jener, weil er nicht tödlich genug ist. Joachim Paul setzt sich bewußt mit seinen Essays zwischen die Stühle, weil er gegen den intellektuellen Mainstream bürstet. Er weist damit den Verdacht zurück, seine Essays seien zu klein und zu nebensächlich, eine seltsame, längst veraltete Form des Journalismus. Pauls Essays sind kein langer Roman, auch keine wissenschaftliche Abhandlung, im Idealfall aber verbindet er die Qualitäten der Gattungen. In seinen Essays geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend. Was Pauls Essays die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er das Material unterwirft. Wir haben nicht viel Übung mit dieser Art des Schreibens, die Buchhändler wissen nicht, in welches Regal sie das Buch stellen sollen; und die Kritiker, die Texte in die Schubladen ihrer geistigen Hängeregistraturschränke einordnen wollen, können mit dem essayistischen Ich nichts anfangen, das von sich selbst erzählt, aber offenbar doch etwas Exemplarisches meint. Es gilt die metaphorischen Stecknadeln im Weltnetz zu finden.

Versuchsplattform für Pauls Schreiben ist der www.vordenker.de. Gegründet wurde dieses Forum von ihm in der Mediensteinzeit 1996. Zuverlässig versammeln sich dort Dichter und Denker. Paul erforscht Gebiete, die über den Rand der Buchstaben und Texte hinausreichen. Sie dehnen sich in gewisser Weise indes sogar über die Grenzen von Geist und Vernunft hinaus aus. In der Tradition Montaignes versteht er den Essay als Versuch, gibt diesem aber den naturwissenschaftlichen Sinn des Experiments, der experimentellen Versuchsanordnung und zugleich die existenzielle Bedeutung des Lebensexperiments und vertieft beides so ins Abgründige, daß aus dem Versuch sowohl die Versuchung wie der Versucher und das Versucherische sprechen. Welche labyrinthischen Gedankengänge bei diesem Auswahl– und Transformationsprozess durchlaufen werden, wie schnell ein brauchbarer Gedanke zu Abfall und Nebensächliches fruchttragend werden kann, beschreibt Paul in seinen Essays.

Als Angelika Janz im Rheinland in den 70er Jahren erste Schritte in die Literatur- und Kunstszene unternahm, lehrte in Düsseldorf Joseph Beuys, in der Kunst wurden nicht die Schlachten des 19. Jahrhunderts geschlagen, sondern zwischen Pop Art und Fluxus wurde im Zukunftslabor gearbeitet.

Michael Gratz

„Why Don’t We Do It in the Road“, fragten Lennon/McCartney. Die Stadtbeschreiberin Angelika Janz gibt die Antwort.

Daß moderne Literatur nicht nur im begrenzten Format eines Buches seinen Platz hat, belegen der Multimediakünstler Peter Meilchen, der Sprechsteller A.J. Weigoni oder die visuelle Poetin Angelika Janz nachdrücklich. Alle vorgenannten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch, als auch interdisziplinär. Janz hat eine Kunstform begründet, bei der Textausschnitte im Sinne der Autorin so erweitert werden, daß aus Einzelteilen ein gänzlich neuer literarischer Text entsteht, die Ausrisse und Schnitte gleichwohl sichtbar bleiben. Gewiss, das Konzept zum Fragmenttext stammt aus analoger Zeit, verbindet sich durch die Zeitläufte jedoch sinnfüllend mit digitalen Präsentationsformen. In diesen Arbeiten finden sich Körper, Technik, Linguistik und räumliche Konstellationen zusammen, mithin Determinanten von Werk und Autorschaft, die in ganz unterschiedlichen Ausprägungen und Gewichtungen auftritt.

Der Traum des Kritikers ist es, eine Kunst durch ihre Technik zu definieren.

(Roland Barthes)

Das Hungertuch von Haimo Hieronymus in der Martinskirche, Linz am Rhein

Die Totholzvariante der Zeitung stellt nur noch eine begrenzte Reichweite her, die Öffentlichkeit findet nun im Netz statt. Das tradierte Bewertungsmuster hat ausgedient. Die deutsche Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein Ausschlussmechanismus. Literatur operiert mit einem von der Kulturindustrie ruinierten Zeichenrepertoire.

Technische Neuerungen sind immer auch eine Chance für scheinbar überholte literarische Formen. Bisher bilden die kleinen Formen in jeder Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte und selbstverständlich der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist der althergebrachte Aphorismus in Form des Mikroblogging eine auflebende Form.

Twitteratur ist eine Poesie, die man von den japanischen Haiku kennt, sie scheint auf besondere Weise verfügbar und dienstbar zu sein. Bestand die Modernität dieser Mikrogramme bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der nonkonformistischen Spätmoderne. Einen Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur finden sie im KUNO-Archiv.

Die Redaktion vertraut darauf, daß Ihre Neugier die Verbindungen in den Hyperlinks selber finden wird.

 

 

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Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.

Peter Meilchen, Photo: Dieter Meth

Weiterführend →

Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.