Chinesische Vor-Zensur
Der Bonner Sinologe und Schriftsteller Wolfgang Kubin veröffentlichte im österreichischen Bacopa-Verlag Gedichte, die er in seiner Jugend schrieb, in vier Bänden. Nun interessiert sich ein chinesischer Verlag für Kubins Frühwerk, das die in Deutschland lebende Chinesin Hai Rao ins Chinesische übersetzte.
Seine Übersetzerin berichtet, sie habe die Korrektur der Gedichtsammlung vom chinesischen Verlag bekommen und noch einiges verbessert. Dann bemerkte sie, dass in manchen Gedichten Wörter weggelassen wurden: 民主 (Demokratie),自由 (Freiheit),革命 (Revolution),马列 (Marxismus-Leninismus), weil sie kritisch erschienen. Auch ganze Gedichte, wie in Band 2 (der den Titel „Abgründige Erleuchtung“ trägt) wurden gestrichen: Zum 17. Januar 1975 und Kader in Peking. Die beiden Texte schrieb Kubin 1975 in Peking.
Als Hai Rao beim Verlag in China nachfragte, lautete die Antwort, man könne sonst das Buch nicht durch die Zensur bringen.
Kubin, der als Professor seit seiner Emeritierung zehn Jahre an Universitäten in Peking, Qingdao und Shantou unterrichtet, staunte nicht schlecht, zumal diese Begriffe in den Straßen der Städte zu sehen seien; selbst in den Aufzügen der Universität Shantou begegne er ihnen täglich, schreibt er im FAZ-Artikel vom 8.5.2021 mit dem Titel „Die liebe Zensur“. Hier die Steine des Anstoßes:
Zum 17. Januar 1975
Auch in diesem Land
wandelt die Revolution
gangbare Wege.
Wandzeitungen,
abgeblättert im Wind.
Dem Gesetz des Wandels folgend
verschwand der Proletarier
hinter dem Rücken eines Bourgeois.
Ob das Datum problematisch sei, fragt sich Kubin mit sanfter Ironie. Denn am 17.1.1975 war Franz-Josef Strauß mit Mao Zedong zusammengetroffen. Aber das glaube ich nicht, schwerer wiegen wohl die im Gedicht benutzten ideologischen Begriffe. Dazu gleich mehr.
Und hier das zweite gestrichene Gedicht:
Kader in Peking
Chinafeindlich
sähest du auf ein und derselben Straße
verhangene Limousinen unterwegs zum Sommerpalast,
Kranke und Tote gen Nimmermehr.
Kaderfreundlich
bewunderst du das Grün der Reisfelder
im Abend vor den Westbergen.
Wie skurril Zensur (wohl immer schon) sein kann! Wobei das Skurrile und Groteske vermutlich nur uns europäischen Lesern so erscheint. Und doch haben die Eingriffe der Vorzensur System. Wenn in dem zitierten Gedicht der Proletarier hinter dem Rücken des Bourgeois verschwindet, könnte die Zensur das als Kritik auffassen, oder (westliche) Kritik wittern, etwa bei der Feststellung, die Kommunistische Partei sei kapitalistisch geworden, und das will die Vorzensur vermeiden – sei es, um Kubin, den in China so sehr geschätzten Sinologen, Lehrer und Schriftsteller, zu schützen vor seinem damals noch unreifen Denken, sei es, um sich selbst zu schützen. Die Begriffe stehen ja heute in einem ganz anderen historischen Kontext als vor 46 Jahren.
Offenbar soll die Geschichtsschreibung allein in der Hand der KPCh bleiben, denn – so ließe sich aus heutiger Sicht der chinesischen Führung sagen – die derzeitige Gesellschaftsordnung ist mittlerweile auf einer dialektisch hoch entwickelten Stufe angelangt, auf der es keine Proletarier mehr geben muss, aber auch keine Kapitalisten (alter Art), denn es handelt sich nun um einen sehr fortgeschrittenen Kommunismus, nämlich die Aufhebung aller Klassen. China ist angekommen in der klassenlosen Gesellschaft!
Wie aber könnte man die verhangenen Limousinen auf dem Weg zum Sommerpalast umdeuten? Hier erkennt wohl die Zensur Ironie in den Versen eines westlichen Betrachters, und das trifft nun mal nicht die Wahrheit, die allein die Partei zu formulieren weiß: Die Partei, die Partei, die hat immer Recht, die Partei, die Partei, die Partei …
Auch an Orwells 1984 ließe sich denken, an das permanente Umschreiben der Geschichte. Die Notwendigkeit des Umschreibens der vergangenen Geschichte ergibt sich nach Auffassung der Partei eben zwangsläufig aus den neuen sozialen Kontexten. Jede Phase der sich im dialektischen Fortschreiten ändernden Gesellschaft verlangt Neudefinitionen der politisch-ideologischen Begriffe oder sogar ihren Wegfall oder Ersatz durch neue Begriffe.
Ähnliche Zensurereignisse gab es einst auch in den härteren DDR-Phasen, doch blieb das Verhältnis zwischen Zensor und Autor meist viel subtiler, als es im Fall Wolfgang Kubins erscheint. Die wirklichen Motive der Zensoren lassen sich nicht mit Sicherheit bestimmen – naheliegend ist jedoch die Angst des chinesischen Verlags vor Maßregelungen von oben.
Kubins indirekter Vorwurf, die Zensoren seien nicht die Klügsten, genügt den meist außerhalb Chinas lebenden und agierenden Dissidenten nicht. Einige von ihnen verlangen schon seit Jahren, Kubin solle sich an ihre Seite stellen. Dieser Weg hätte jedoch sehr wahrscheinlich zur Folge, dass Kubin nicht mehr die Aufgabe erfüllen könnte, die ihm am Herzen liegt: in China zu wirken als Vermittler zwischen den Kulturen.
Was die Kulturrevolution betrifft, so ist es so, dass unter den Studenten, die ich vor wenigen Jahren in Qingdao unterrichtete, Wissen und Bewusstsein so gut wie ganz fehlt. Das gilt auch für Dozenten, mit denen ich jetzt noch Kontakt habe. Die überwältigende Mehrheit der Chinesen konzentriert sich auf die jetzt geltenden Verhältnisse und auf die Perspektiven eines stetig wachsenden Wohlstands. Das Denken der meisten Chinesen ist überformt aufgrund ihrer nationalen Gefühle – und im Bewusstsein, dass China eine Supermacht wurde. Umso wichtiger ist das, was Kubin in seinen chinesischen Lehrveranstaltungen vermittelt und in Gesprächen mit intellektuellen Köpfen von Rang sagt, um das Verschwinden historischer Kenntnisse zu verhindern und zu neuen Denkweisen zu ermutigen.
Solange wir in Europa von Exporten nach China abhängig sind (zum Beispiel Deutschlands Autoexporte), werden wir Europäer politisch in China nichts bewirken. Bevor wir auf chinesische Verfassungswirklichkeiten einwirken können, müssen wir die Stärkung unserer Interessen realisieren, nämlich einen politisch und militärisch starken europäischen Staat schaffen. Auf die Neue Seidenstraße kann ein starkes Europa als kooperierende Macht antworten mit einer gestärkten Wirtschaft. Wahrscheinlich müssen langfristig auch starke (Zweck-)Bündnisse mit den USA, Kanada und Russland geschlossen werden, um wirksame Änderungen zu erreichen.
Moralische Appelle greifen nicht. Die Fälle, wo moralische Positionen nicht instrumentalisiert werden, sind selten und ereignen sich vornehmlich im überschaubaren privaten Zusammenhang Einzelner. In größeren Weltzusammenhängen entscheiden nicht moralische Intentionen, sondern sachliche Interessen und ihre Durchsetzung mit und ohne Kompromisse.
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KUNO erinnert an: Gedichte aus der Zeit der Tang-Dynastie und aus dem 20. Jahrhundert
26 Gedichte chinesisch/deutsch übersetzt von Ulrich Bergmann
26 Bilder von Doris Distelmaier-Haas. Mit einem Geleitwort von Wolfgang Kubin
152 Seiten, Deutsch und Chinesisch, kleine Ölbilder in Weiß auf schwarzer Grundierung, Lesebändchen, geb. Bacopa-Verlag, 2015
Weiterführend →
Mehr zu diesem Band in einem Essay von Holger Benkel. Zum näheren Verständnis zu den Gedichten aus der Zeit der Tang-Dynastie baten wir den Übersetzer Ulrich Bergmann um weitere Vertiefung.