auf dem Gipfel eines Berges, der rundum von anderen, höheren umgeben ist. Zwölf Hütten, eine Kirche, eine Kneipe, ein Brunnen. Die größte der Hütten ist eingestürzt. Die Fenster sind mit Brettern zugenagelt, das Dach beschädigt. Es gibt kein Nest unter dem zerbröckelten Schornstein. Die Störche lassen sich in diesem Kaff nicht nieder. Niemand lässt sich hier nieder seit geraumer Zeit. Es gibt keine Besucher und keine Einwanderer. Es gibt nur die zwölf Hütten und darunter die eine, die allmählich zerfällt. In ihrem Inneren vermodern zwölf hölzerne Schulbänke. Spinnen haben sich in den morschen Holzbalken eingenistet, unter dem verfaulten Boden laufen die Ratten.
Auf dem steinigen Weg, der das Dorf entzweit, hocken drei Schafe. Sie zittern unter dem Regenschauer und blöken ab und zu. Niemand holt sie ab. Die Hütten sind leer.
Die Dörfler sind in der Kirche. Eine Handvoll. Keiner unter fünfunddreißig. Zehn Männer, dreizehn Frauen und der Priester.
– „Es ist Gottes Strafe“, sagt er ohne Zorn.
– „Amen“.
– „Es ist die Strafe für das Gemetzel. Wir nehmen sie hin in Demut und Dankbarkeit“.
– „Amen“.
Die Stimmen verstummen. Man hört das Prasseln des Regens, das Trommeln auf dem Schieferdach.
Der Priester schwingt den Weihrauchkessel über die Köpfe der Menschen und spricht einen Psalm. Hinter ihm ragt das Kreuz. Der hölzerne Leib Christi ist verstümmelt. Die Hände hängen einsam links und rechts an verrosteten Nägeln und sind von den Schultern weit entfernt. Es gibt keine Arme. Das Gesicht hat weder Nase noch Kinn. Die Beine haben keine Knie, die Füße keine Zehen. Nur die Krone aus Stacheldraht schimmert unberührt über den geschlossenen Augen.
Goldene Lichtwirbel schwirren durch die Fenster in den Raum hinein, fallen lässig über die Gestalt Christi und über die gebückte Gemeinde herab. Es regnet bei Sonnenschein. Wenn das geschieht, sagt ein alter Spruch, prügelt der Teufel sein Weib.
Der Singsang des Priesters verklingt. Die Sonntagsmesse ist beendet. Die Menschen stehen langsam auf und einer von ihnen sagt laut:
– „Gott hat uns verlassen“.
Niemand antwortet, nicht einmal der Priester. Niemand achtet auf seine Worte. Er ist der Dorftrottel, alt und wahnsinnig. Eine noch ältere, bucklige Frau nimmt ihn an der Hand und führt ihn aus der Kirche hinaus.
Die anderen bleiben noch, als hätten sie etwas vor.
– „Ich glaube nicht, dass es Gottes Strafe ist“, sagt einer der Männer. Er ist kräftig und hart, seine Hände sind schwer und haarig.
– „Nein?“ fragt ein anderer.
– „Nein. Es sind die Frauen…“, sagt der erste.
– „Wie, die Frauen?“
– „Ihre Leiber… Sie verfaulen von innen.“
Die Frauen sehen ihre Männer an und warten. Sie warten seit zwanzig Jahren, seit dem Gemetzel.
Eine von ihnen dreht sich um und verlässt die Kirche. Die anderen folgen ihr, eine nach der anderen. Die Männer bleiben noch eine Weile stehen und sehen ihren Weibern nach. Der Priester hat sein Gewand abgelegt und mischt sich unter sie.
Er unterscheidet sich von den anderen nicht mehr so sehr.
– „Lasst euch nicht von Zorn verblenden“, sagt er.
– „Lass uns in die Kneipe gehen“, sagt der Kräftige.
Draußen hat es aufgehört zu regnen. Die Wolkenscharen ziehen nach Westen und die Sonne strahlt in der Mitte des Himmels nackt und unversehrt. Die Berge um das Kaff herum leuchten, ihr saftiges Gewächs funkelt. In den Baumkronen schütteln die Vögel ihre nassen Federn. Aus dem Gras steigt das Summen der Insekten. Die drei Schafe auf dem Weg trotten glücklich hinter einer der Frauen her. Sie hält vor ihrer Hütte an und ruft zu den anderen, ehe sie sich alle zerstreuen:
– „Kommt zu mir rein. Es ist an der Zeit.“
Die Frauen zögern ein wenig. Die Jüngeren unter ihnen mehr als die anderen. Eine der älteren sagt:
– „Sie hat recht. Es ist an der Zeit. Lass uns reingehen.“
In der Kneipe leeren die Männer ihr drittes Glas Schnaps.
Sie sitzen alle um den großen Tisch in der Mitte, den einzigen im Raum. Der Priester ist auch unter ihnen. Sie sind alle noch nüchtern. Ihre Stimmen klingen gereizt. Einer der Männer, der Besitzer, hält eine Flasche in der Hand und schenkt ihnen ständig nach.
– „Sie sind krank. Keine Geburt in zwanzig Jahren, das ist Teufelswerk“, sagt der Kräftige.
– „Hexen“, murrt ein anderer.
– „Nein, es ist Gottes Strafe“, sagt der Priester.
Sie trinken noch einige Runden. Einer der Männer legt seine Stirn auf den Tisch und fängt an zu schluchzen.
Der Priester klopft ihm leicht auf den Rücken und sagt:
– „ Wir werden für unsere Sünden bestraft…“
– „Nicht von Gott. Vermehret euch, hat er gesagt, vermehret euch!“ meint der Kräftige.
– „Tötet nicht, hat er auch gesagt, du sollst nicht töten!“ erwidert der Priester ruhig.
– „Es war Gottes Befehl“, antwortet kalt der Besitzer und stellt eine weitere Flasche auf den Tisch. Der Schluchzende schlägt mit der Stirn auf den Tisch und winselt:
– „Wir haben unsere Kinder ermordet. Wir waren es… wir….“
– „Nicht wir, sondern die anderen. Die Feinde, verdammt noch mal! Du bist betrunken. Es war Krieg. Wir waren weg…“
– „Ja, weg waren wir, wir waren nicht da, um sie zu beschützen. Sie haben unsere Töchter und Frauen vergewaltigt und unsere Kinder und Alten wie Vieh geschlachtet!“ schluchzt der andere.
– „So ist es nun mal im Krieg. Schluss damit, wir sind zurückgekehrt! Jetzt sind wir wieder da, wir sind fast alle wieder da…“, sagt der Besitzer. Einer der älteren Männer ruft ohne Freude:
– „Heute genau vor zwanzig Jahren. Das feiern wir jetzt!“
Er leert sein Glas und spuckt auf den Boden.
– „Zu diesen verschmutzten Leibern sind wir zurückgekehrt, zu diesen verfaulenden Weibern. Umsonst sind wir zurückgekehrt. Umsonst“, schnaubt der Kräftige.
– „Lasst euch nicht von Zorn verblenden“, wiederholt der Priester.
Die Männer schweigen und trinken. Bloß das Geplätscher des frisch eingeschenkten Schnapses in den Gläsern und das Schlucken in den Kehlen stören die Stille.
– „Er hat recht… Sie stellen etwas an. Ich habe meine dabei erwischt“, sagt plötzlich einer von den Männern.
– „Wobei?“ fragen mehrere.
– „Es ist schon eine Weile her. Sie hat etwas mit sich getan. Sie hat wie eine Sau geblutet. Mehr als sonst, eine Woche lang. Und nachts wie ein Tier gebrüllt hat sie. Sie hat mich nicht an sich heran gelassen, einige Monate hintereinander.“
– „Das kommt bei den Weibern vor. Vielleicht war die Frauenkrankheit schlimmer als sonst. Meine ist auch schon öfter so krank gewesen.“
– „Meine auch…“
– „Nein, das war es nicht…“ murrt der Kräftige.
– „Nein“, bestätigt der erste. „Nicht bei meiner. Sie hat nicht das Bett gehütet und hat wie für zwei gearbeitet, von morgens bis abends. Sie hat mir diese ganze Woche Fleisch auf den Tisch gestellt. Jeden Tag ein Stückchen Fleisch. Jeden verdammten Abend. Aber sie hat kein Vieh geschlachtet, keines der Lämmer fehlte, auch keine Gans. Sie hat gesagt: friss, das ist Kaninchen, ich habe es im Hinterhof in der Falle für Füchse gefunden. Und am zweiten Abend wieder. Sie hat gesagt: die Kaninchen sind alle verrückt geworden, sie laufen Amok im Dunkel, sie laufen blind umher und tappen in die Falle, es ist ihre Paarungszeit. Aber das Fleisch schmeckte nicht nach Kaninchen. Nein, es schmeckte nicht nach Kaninchen. Und nachts hat sie gebrüllt, wie ein Tier hat sie nachts gebrüllt.“
– „Was willst du damit sagen?“ fragt einer.
Der Mann schweigt. Die anderen auch. Einige um diesen Tisch haben in den letzten zwanzig Jahren öfters Fleisch gegessen, das weder nach Kaninchen noch nach Lamm oder Gans schmeckte. Einer steht hastig auf, taumelt zur Tür, stolpert hinaus in den Hof, beugt sich über den Zaun und erbricht roten Schlamm auf das Gras.
– „Was willst du damit sagen?“ wiederholt der Schluchzende und wird ganz still.
– „Ich will sagen, sie stellen etwas an. Sie tun sich etwas an. Und uns auch. Diese Weiber sind Hexen, mit dem Teufel im Bunde.“
– „Schweig! Es ist eine Sünde, so etwas zu denken. Eine Sünde…“
– „Wir könnten doch weg und uns andere Weiber von anderswoher holen“, sagt einer.
– „Vor Gott sind das euere Weiber und so soll es auch bleiben, bis der Tod euch scheidet“, sagt der Priester.
Der Kräftige sieht ihn an. Er mustert das alte, verschrumpelte Gesicht, den kahlen Kopf, die verrunzelten Hände, die auf dem Tisch ruhen.
– „Vater, das kannst du nicht verstehen“, erwidert er.
– „Oh, doch, das kann ich wohl. Es sind eure Weiber und ihr solltet zu ihnen stehen, im Guten wie im Schlechten, bis der Tod euch scheidet“, sagt der Priester. Er trinkt aus, erhebt sich, sieht in die Augen der Männer. Er schlägt mit der Faust auf den Tisch:
– „Bis der Tod euch scheidet, hört ihr mich?“ wiederholt er und verlässt die Kneipe.
Die Männer sehen ihm nach und dann in ihre halb leeren Gläser. Der Wirt nimmt eine neue Flasche und füllt die Gläser bis zum Rande.
– „Bis der Tod euch scheidet…“, wiederholt er.
– „Darauf trinke ich noch einen!“ sagt einer, kippt den Schnaps hinunter, rülpst und schlägt kräftig mit dem leeren Glas auf den Tisch. Der Wirt lacht und schenkt allen nach.
Draußen ist die Sonne mittlerweile tiefer gesunken. Sie liegt fast auf den Bergen im Westen. Im Osten kriecht der Dunst aus den Tälern empor, über die Baumwipfel hinweg und langsam hoch. Die Abhänge zerbröckeln im goldenen Zwielicht.
Im Dorf fallen die Schatten lang und schräg, sie legen sich zwischen Hütten und Bäume hin und dösen dort friedlich ein, wie das Vieh in seinem Gehege. Die schiefen Sonnenstrahlen streifen die Dächer, die geschlossenen Fenster glitzern hier und dort und der Kirchturm sticht empor in die funkelnde Stille.
Ganz oben steht der Priester und betrachtet den Sonnenuntergang, bis das bergige Land rundherum von Gold und Blut ertränkt wird. Dann läutet er die Glocken.
– „Es ist an der Zeit. Bald kommen sie nach Hause“, sagt eine der Frauen. Sie sitzen alle in der einen Hütte zusammen. Nur die Bucklige fehlt. Sie ist mit ihrem wahnsinnigen Sohn auf den Berg geklettert. Von dort aus kann sie das Kaff noch ein letztes Mal sehen, die Hütten, die Schule, die Kirche, die Kneipe, den Brunnen. Zu ihren Füßen sieht sie die Schlucht und die rankenden Baumwurzeln, die in die Tiefe kriechen.
– „Sie kommen uns holen. Heute holen sie uns“, sagt eine der Frauen in der Hütte.
– „Sie haben lange gebraucht, aber heute rächen sie sich“, sagt eine andere.
– „Wir haben verloren“, meint die jüngste unter ihnen. „Es war alles umsonst gewesen.“
Eine der Frauen beginnt leise zu weinen. Sie hält die Arme auf dem Bauch verschränkt und wiegt sich ununterbrochen nach vorne und nach hinten, nach vorne und nach hinten.
– „Es war nicht umsonst, denn es war gerecht“, sagt eine andere. „Keiner hat verloren und keiner gewonnen. Der Kampf ist beendet… Ist der Brei fertig?“ fragt sie.
– „Ja, er ist aber noch sehr heiß. Aufpassen beim trinken“, sagt die Gastgeberin und einige lachen.
Sie stellt den Topf in die Mitte und verteilt Tassen, Schüssel, Gläser. Dann schenkt sie jeder Frau eine gute Portion von dem grünen Brei ein. Sie warten alle still für eine Weile, während die älteste ein Gebet spricht. Dann trinken sie den giftigen Trunk mit kleinen Schlückchen bis zum letzten Tropfen aus. Sie legen die Gefäße hin und warten darauf, dass auch noch die letzte Spur von Licht im Raum erlischt.
* * *
Am Todestag von Ioona Rauschan erinnert KUNO an diese Autorin mit einer Leseprobe aus: Abhauen. Dieser Roman erschien 2008 beim Pop Verlag, Ludwigsburg.
Auf der Schwelle. Ein Filmessay über Heinrich Heine von Ioona Rauschan. Edition Biograph, 1997
Die schöne Strickerin, Novelle von Ioona Rauschan, Edition Biograph, Düsseldorf 1995. (Antiquarisch erhältlich).
Weiterführend →
Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Señora Nada, in der Regie von Ioona Rauschan, ist auf Hörbuch Gedichte erhältlich. Probehören kann man das Monodram Señora Nada in der Reihe MetaPhon.