Die konstruktiven Ideen der neuen Malerei

 

In der Chronik des Lorenzo Ghiberti steht eine merkwürdige Betrachtung, die ein lehrreiches Streiflicht auf die künstlerischen Ideen seiner Zeit wirft. Ghiberti spricht von Masaccio und erwähnt dabei bewundernd und als Zeichen des ungeheuren Fortschrittes, den die Malerei durch Masaccio gemacht habe, »daß er die von vorn gesehenen Füße untadelhaft zeichnete, da bisher nach alter, ungeschickter Weise die Figuren auf den Zehenspitzen stehend dargestellt worden waren«. Das heißersehnte Vermögen »richtiger« Naturwiedergabe steigerte sich damals langsam bis zu den Werken der Spätrenaissance, die nichts mehr zu entdecken fand und mit dem errungenen Können zu spielen begann und damit den schnellen künstlerischen Verfall einleitete; erst Frankreich griff im 19. Jahrhundert das alte Thema wieder auf und gelangte von der rein organischen Perspektive der Renaissance zu der berühmten Entdeckung des atmosphärischen Kolonits und der impressionistischen Erscheinung.

Wir haben das Ende dieser Bewegung schon erlebt; was heute noch mit diesen Mitteln geschaffen wird, ist ein im besten Falle geistreiches, oft auch ein totlangweiliges Spiel.

In beiden Entwicklungen war die Wissenschaft der Kunst zu Hilfe gekommen. Die Kunst der Renaissance bewahrte sich, dank der unzulänglichen Mittel der damaligen Wissenschaft, eine große Straffheit, die sie uns noch heute so hehr und ehrwürdig erscheinen läßt. Die Bewegung des 19. Jahrhunderts aber ging an der Überlegenheit seines mächtigen Freundes, dessen Hilfe sie sich geliehen und der dem Geiste des 19. Jahrhunderts eine Richtung gab, zugrunde. Die Kunst des Volkes und der Künstler wurde in einem kleinen Sarge zu Grabe getragen: der Kamera.

Dagegen setzt heute gleichzeitig eine ganz neue, in der Kulturwelt universale Bewegung ein, der alle Künste unterliegen. Diese Bewegung nimmt, soweit sie heute überhaupt historisch zu fassen ist, eine umgekehrte Richtung als alle früheren, in denen das Wollen und Können zu immer größerer Übereinstimmung mit dem äußeren Naturbilde strebte, das mit seinem hellen Tageslichte die geheimnisvollen und abstrakten Vorstellungen des Innenlebens verscheucht. Im Gegensatz hierzu strebt die neue Bewegung auf einem anderen Wege zurück zu den Bildern des Innenlebens, das die Forderungen der wissenschaftlich faßbaren Welt nicht kennt. Wir sagen mit Nachdruck: auf einem anderen Wege, denn soweit die neuen Maler nur die Ausdrucksformen der ihnen wesensverwandten Primitiven wiederholen, bereiten sie vielleicht den Boden und leiten zu Neuem über, aber geben unserer Zeit nichts Positives an neuen Werten. Aber der neue Weg ist heut schon begangen und jeden Tag brechen sich zu ihm neue Künstler ihre Bahn.

Sprach man früher von der »Göttlichkeit« der Kunst, so kreisen heute die Ideen um das tiefe Problem, die Gesetzmäßigkeit dieser göttlichen Wirkungen zu erforschen und den Eigengehalt von bis jetzt noch fast ganz unerkannten Gesetzen zu zeigen, den jedes Kunstwerk versteckter oder offener enthält; und zwar stimmen diese Gesetze durchaus nicht überein mit den Gesetzen unserer Naturwissenschaft. Die künstlerische Wirkung eines gemalten Aktes hat nicht das Geringste mit den wissenschaftlichen Bildungsgesetzen einer Figur zu tun; sie kann ihnen äußerlich folgen, sie muß aber durchaus nicht. Ja, man entdeckte, daß die reinkünstlerische Wirkung meist stärker ist, wo die wissenschaftlichen Bildungsgesetze nicht gewußt oder ignoriert wurden. Dieser Widerstand gegen die naturalistische Form entspringt nicht etwa einer Laune oder Originalitätssucht, sondern ist vielmehr das Begleitmoment eines viel tieferen Wollens, von dem unsere Generation durchglüht ist: Dem Drang nach Erforschung der metaphysischen Gesetze, den bisher fast nur die Philosophie praktisch kannte.

Die Wahrnehmung, daß es noch eine ganz andere Gesetzeswelt gibt als die heute allein anerkannte naturwissenschaftliche Disziplin, bewegt heute alle Gemüter. Letztere vermag z.B. nicht, Konstruktionsfehler in einem Bilde von Picasso oder Kandinsky zu erweisen und versteht die künstlerische Richtigkeit von Formen nicht anders nachzuprüfen als mit ihren optischen Erfahrungsgesetzen, während der Bildungstrieb des Künstlers unentrinnbaren Gesetzen folgt, die für das Innenleben des Menschen die einzig bestimmenden sind. Die heutige Kunst sucht sich mit ihren Ausdrucksformen direkt diesem Innenleben zuzuwenden und entkleidet darum ihre Werke von der äußerlichen Hülle, in die ihre Vorgänger, der Geistesrichtung ihrer Zeit folgend, 〈sie〉 gesteckt haben. Selbstverständlich blieb jenen eine große, künstlerische Wirkung nicht versagt. Das Ausschlaggebende bleiben hier stets die großen schöpferischen Persönlichkeiten, die über das Zeitliche und Bedingte ihrer Ausdrucksformen hinauswachsen. Aber die Kunstanschauungen, die die Allgemeinheit aus ihren Werken folgerte, und die Schule, die sie in Europa und nicht zum wenigsten in Deutschland machten, scheint uns im höchsten Grade unheilvoll; heute ist die ganze Welt glücklich so weit, die »schön gemalte« Winterlandschaft für Kunst zu halten, auch wenn ihr Verfertiger kein Lot Kunstgefühl besaß und sie lediglich nach den lernbaren Gesetzen der Optik mit freundlicher Hilfe der Kamera zurechtgemalt hat. Wenn aber heute ein künstle risch Hochbegabter auf ein Blatt Papier einige dunkle Linien zieht, in denen er bewußt oder instinktiv (d.h. mit anderen Worten: als Künstler oder Laie) den geheimnisvollen Wirkungsgesetzen der Kunst gehorcht, lacht ganz Deutschland über seine Prätention, daß diese unverständlichen Linien irgend etwas mit Kunst gemein haben sollen. Ist er ein Künstler, so greift man ihn wie einen gemeinen Schwindler an. Aber die schöne Winterlandschaft! das war was anderes! So stumpf sind die Sinne geworden gegenüber künstlerischer Form, so banal das Auge, daß es den äußerlichsten Naturvergleich als ein brauchbares Kriterium von Kunst ansieht, so denkfaul das Hirn, daß es den Nachahmungstrieb vom Kunsttrieb nicht mehr zu unterscheiden vermag! Volkskunst, d.h. Gefühl im Volke für künstlerische Form kann erst dann wieder erstehen, wenn der ganze Wirrwar von verdorbenen Kunstbegriffen des 19. Jahrhunderts aus dem Gedächtnis der Generationen getilgt ist; die großen Werke, die das Jahrhundert hervorgebracht hat, sind wie alle großen Werke unverletzlich. Aber wohl nicht alle werden bleiben, die heute noch in höchster Schätzung stehen. Daß z.B. ein gutes Bild von Sisley uns künstlerisch ergreift, beruht natürlich darauf, daß Sisley als Künstler jene tiefere Gesetzlichkeit der Bildform instinktiv erfaßte; aber zuweilen gelang ihm dies in der Befangenheit seines pleinairistischen Pro grammes, das ihn verwirrte, auch nicht; und manchem seiner Zeitgenossen erging es ähnlich. Man erschrickt vor der Leere dieser Bilder, die nur dem »Scheine der Natur« nachgebildet sind.

In diesem Gedankengange sind die oft so schwierigen Unterscheidungsmerkmale von »starken« und »schwachen« Bildern zu suchen. Sehr instruktive Beispiele liefert zu diesem Thema die japanische Kunst. Ein mit ihr innig Vertrauter könnte kein glücklicheres Material von Beispielen und Gegenbeispielen finden, um eine Dogmatik des »Seelenstaates«, der seine eigenen Gesetze und Organisationen hat, aufzubauen.

Heute liegen, soweit ich es zu übersehen vermag, nur zwei Versuche vor, die Grundlagen einer solchen Dogmatik zu schaffen. Einmal das geistreiche Buch von Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, das heute die allgemeinste Beachtung verdient und in welchem von einem streng historischen Geiste ein Gedankengang niedergeschrieben wurde, der den ängstlichen Gegnern der modernen Bewegung einige Beunruhigung verursachen dürfte. Das andere, »Über das Geistige in der Kunst«, ist von dem Maler W. Kandinsky geschrieben; es enthält Ideen zu einer Harmonielehre der Malerei, in der die uns heute faßbaren Gesetze über die Wirkungen von Formen und Farben formuliert werden und zugleich in seinen Bildern die lebendigste Gestalt gewonnen haben. Ein Buch über den Kubismus ist meines Wissens noch nicht geschrieben. Aber die Jünger des Kubismus lernen Algebra und Stereometrie mit derselben Gründlichkeit, mit der man ehedem naturwissenschaftliche Anatomie studierte. Eine andere »Körperlehre« erhitzt heute die Gemüter als zur Zeit Masaccios. Wie weit die ehernen Gesetze der Mathematik den lebendigen Gesetzen unseres Innenlebens homogen sind, wage ich hier nicht zu erörtern. Lieber weise ich auf die wundervoll lebendigen und tiefen Bilder dieser Künstler ihn, die die mathematische Zucht nur im guten Sinne verraten, vielleicht in einem analogen Sinne, in dem früher die anatomische Schulung des Künstlers sich in seinen Bildern beruhigend fühlbar machte.

Es ist ungeheuer schwer, ohne Bildermaterial dem Laien einen Begriff von dem Sinn der konstruktiven Ideen in der neuen Malerei zu geben; vielleicht versteht man mich, wenn ich damit anfange, daß unsere konstruktiven Ideen so ungefähr das Gegenteil vom »Stilisieren« sind, um von vornherein dem unheilvollsten Mißverständnisse zu begegnen, das diese beiden Begriffe zusammenzuwerfen liebt. Es geschieht dies wirklich und leider auch von »modernen« Malern und Plastikern. Um durch Stilisieren seiner Kunst resp. seiner eigenen Armut auf die Beine zu helfen, stellt man sich vor die gütige, immer geduldige Natur und hobelt und biegt an ihr herum, bis das Bild den ersehnten modernen Schnitt hat; es ist Pseudo-Kunst, mit der wir uns nicht auseinanderzusetzen haben. Der echte Künstler ging zu allen Zeiten von konstruktiven Bildideen (der Inspiration) aus, die so alt sind wie die Kunst selbst; neu ist ihre heutige, nackte Anwendung, die keinen »Fremdkörper« im Bilde leidet, von denen die Kunst unserer Vorgänger zuweilen wohl zuviel hatte. Dies ist die »große Umwälzung«, – in Dingen der Kunst, allerdings groß genug, um diesen Titel zu verdienen; denn es bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als die kühne Umkehr alles Gewohnten. Man hängt nicht mehr am Naturbilde, sondern vernichtet es, um die mächtigen Gesetze, die hinter dem schönen Scheine walten zu zeigen. Mit Schopenhauer geredet, bekommt heute die Welt als Wille vor der Welt als Vorstellung Geltung. Es ist unmöglich, hier die mannigfachen Gesetze der »inneren Konstruktion« zu erörtern. Die Versuche dazu sind heute noch zu tastend und zu mannigfaltig, um einen Wissenskomplex zu bilden, auf den man weisen könnte. Ihr Charakter ist – Geheimwissenschaft, deren Logik ihren Priestern heute noch fast ebenso verborgen ist wie der Menge. Nur die Werke triumphieren!

 

 

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Quelle: PAN, 2. Jahrgang, No. 18 vom 21. März 1912, S. 527–531
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