Freaks

 

Aufgrund der engen Verbindungen von Prodigien und Monstern – nicht nur in der etymologischen Bedeutung des lateinischen „monare“ als „mahnen“, „warnen“ – muss man den eigentlichen Beginn der Geschichte der Monster bereits in den Mythen und Schöpfungsgeschichten orten. Es gibt keine Mythen ohne Monster, Deformierte und Schreckensfiguren. Doch noch ein weiterer, realerer Aspekt ist hier von Wichtigkeit: der historische Kontext. Denn auch der Hofnarr – er findet sich als Figur eines Außenseiters und schalkhaften Toren in der Bibel ebenso wie in Göttersagen verschiedenster Kulturen – ist, wenn man so möchte, Teil dieser besonderen „Spezies“. Ja, bis heute erfindet sich jede Gesellschaft ihre fiktiven Monster. Das bedeutet, dass diese einem ständigen Wandel unterzogen sind. Bereits in den Schöpfungsgeschichten unserer Kultur ist das komplexe Verhältnis realer und mythologischer Monster von elementarer Bedeutung und wirkt von Kindesbeinen auf jeden Einzelnen ein. „Jede spätere Rezeption ist eine Wiederaufnahme, eine Reaktivierung dieser mythischen Vorstellungswelt und sei es auch nur zur Abgrenzung. Bei der Zurschaustellung der Freaks griff man immer wieder auf die Mythologie von Vorzeit und Antike zurück, die auch in der Verkleidung von Märchen noch aktuell sind.

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Gaukler, Freaks und Wanderkünstler – die Monster der etwas anderen Art?

Der zweite wichtige Aspekt, der sich sehr stark auf die historische Entwicklung des Monsterbegriffes bezieht, ist der der sogenannten „Freaks“. Dieser ständige Rückgriff auf die ältesten Geschichten der Menschheit tritt in besonderem Maße in der Werbung für Freaks im 19. Jahrhundert auf, wo eine Verbindung zu bestimmten mythologischen Figuren hergestellt wurde. Wir werden also innerhalb der Gesellschaft mit (fiktiven, irrealen) physisch und seelisch verkrüppelten Wesen auf verschiedenste Art und Weise konfrontiert und dabei kann es nur eine Konfrontation geben. Wann immer in Österreich die Rede von Unterhaltungskultur ist, so bleibt ein Bereich davon meist ausgespart – jener Bereich, der die Vorführung und die Zurschaustellung körperlich und in einigen Fällen auch geistig behinderter Menschen betrifft. Abnormes Aussehen wurde bis in die Neuzeit als göttlicher Fingerzeig und als Warnung gedeutet. Darüber hinaus erscheint es oftmals in Verbindung mit Randgruppen der Gesellschaft. Krüppel und Bettler traten besonders im späten Mittelalter in Verbindung mit dem Fahrenden Volk – Spielleuten und Gauklern – auf. Diese galten als ehr- und gesetzlos und wurden in die Nähe von Gaunern und Hausierern gerückt. Jedes Monster versetzt uns in Alarmbereitschaft. Jahrtausende lang wurden Missgeburten und behinderte Körper als Mahnzeichen interpretiert und mit Bestrafung in Verbindung gebracht. Historisch zeigt sich ein Wandel von der Feststellung, „Der- oder Diejenige ist“ ein Monster zu „Der oder Die sieht aus wie“ dieses oder jenes Monster. Entgegen dem Bild, das sich heute vielleicht darstellen mag, waren die Prodigien als menschliche „Monster“ immer vom Positiven durchwirkt. Prodigien wurden in der Renaissance als „Wundergeburten“ oder später überhaupt als „Wunder“, eben als „Prodigien“, bezeichnet. Die mit ihnen verbundenen Mahnungen und Bestrafungen waren immer göttlicherseits. Dass ihre Existenz etwa dem Teufel zugeschrieben wurde, scheint eher die Ausnahme gewesen zu sein. Das zeigen auch die ab der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert immer wieder auftauchenden Bezugnahmen von Prodigien auf die vom Prinzip her positiv behafteten Märchen- und Mythenfiguren wie Riesen und Zwerge oder Prinzessinnen und Prinzen. Prodigien erscheinen niemals aggressiv, sondern maximal mit wilden Attributen versehen. Dass es sie überhaupt gibt ist der beste Beweis dafür, dass sie „auf der guten Seite“ stehen. Wären sie als mehrheitlich bedrohlich für die Menschheit empfunden worden, hätten sie nicht so lange und so exponiert in der Öffentlichkeit gestanden. Das Staunen hat stets die Oberhand behalten, wofür wohl eine besondere Eigenschaft der Prodigien in Bezug auf ihre Unterhaltungsfunktion mitverantwortlich sein mag. Im Gegensatz zu anderen Schaunummern, Showacts oder Akrobaten imitieren sie nicht, sie verkörpern nicht, sie SIND – „Monster“ und „Wunder“. Im Showgeschäft tätige Menschen benötigen, um Aufmerksamkeit zu erlangen, eine Verkleidung. Ob Artisten, Clowns oder Hofnarren allgemein, sie werden erst durch ihr Kostüm als solche erkennbar und wahrgenommen. Prodigien benötigen keine Verkleidung, keinerlei Maske oder Rolle, um die Berechtigung zu erhalten, auf einer Bühne zu erscheinen. Diese erstaunliche Tatsache unterscheidet sie auch von den Tieren und macht sie mitunter deswegen zu Zwischenwesen. Es fällt uns schwer, sie einzuordnen, ihr Dasein erinnert immer an etwas, jedoch scheinen sie sich jeder uns bekannten Kategorie zu entziehen – womit ihnen selbstverständlich in keiner Weise ihre Menschlichkeit als biologische Tatsache abgesprochen werden soll. Selbst die Mythologie stößt in Bezug auf ihre ursprüngliche Aufgabe, die Welt zu erklären und zu vermitteln, bei ihnen an ihre Grenzen. Auch sie kann die realen „Monster“ nicht erklären, sie kann sie nur spiegeln und ihnen eine Geschichte geben. Hier stoßen wir auf eine gegenläufige Entwicklung in jüngster Zeit. Roland Barthes definiert den Mythos als eine entpolitisierte Aussage, die von den Dingen in einer Weise erzähle, die sie unschuldig, also unnahbar mache und ihnen ihre Geschichte entziehe. In diesem Sinne scheinen die Prodigien heute tatsächlich in eine halbmythologische Existenz verdrängt worden zu sein, die ihre Kulturgeschichte und ihre sozialpolitische Funktion verschleiert. Insgesamt betrachtet erscheinen Prodigien als mythologische Ankerpunkte in der Realität, die auch angesichts der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse eine „wunderbare“ Komponente behalten haben. In der Verbrechensbekämpfung des 19. Jahrhunderts spielten äußerliche Merkmale eine wesentliche Rolle. Indem man körperliche Normkonzepte erstellte, zog man Rückschlüsse auf die „Physiognomie des Verbrechens“ und schloss von Gesichts- und Kopfformen auf schlechte Eigenschaften. Abnormitäten und Verbrecher waren die zwei großen Gruppen, die zu jener Zeit im Mittelpunkt des wissenschaftlichen, vor allem des medizinischen, Interesses standen – als Randgruppen, die sich außerhalb gesellschaftlicher Normen bewegten. Selbstverständlich unterschieden sie sich wesentlich, denn bei aller Monstrosität waren die zu Schau gestellten „Abnormitäten“ der Unterhaltungskultur nicht aggressiv, nicht aktiv bedrohlich. Das Monströse ging nicht direkt von ihnen aus sondern wurde sozusagen „von einer höheren Macht“, von der Natur, geschaffen. Verbrecher sind Täter, Freaks und Abnormitäten waren Opfer. Was Scheugl allgemein über Monster bemerkt, gilt also ganz speziell für die menschlichen, zur Schau gestellten „Monstren“. Wie sehen diese „Freaks“ nun im heutigen Zeitalter aus?

 

 

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BioMachtMonsterWeiber: eine Enzyklopädie von Sophie Reyer. Passagen Verlag 2021

Weiterführend Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht Sophie Reyer der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Die Sprechpartitur Wortspielhalle wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Einen Artikel zum Konzept von Sophie Reyer und A.J. Weigoni lesen Sie hier. Vertiefend zur Lektüre empfohlen sei auch das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Eine höherwertige Konfigurationentdeckt Constanze Schmidt in dieser Collaboration. Holger Benkel lauscht Zikaden und Hähern nach. Ein weiterer Blick beleuchtet die Inventionen von Peter Meilchen. Ein Essay fasst dieses transmediale Projekt zusammen. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Alle LiteraturClips dieses Projekts können hier abgerufen werden. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.