Gezeitengespräch 2

 

Vorbemerkung der Redaktion: In diesem Jahr machen wir das vergriffene Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse auf KUNO recherchierbar.

 

Zeitfern (nächster Tag): Immer Hoffnung, dass du was sagst. Ist das Realität? Meinungen haben schon immer ein Intermezzo gegeben.

Zeitnah (Ich bin heute): Hinterfrage es nicht, aber doch, da sind Dinge, die befragbar sind.

Zeitfern: Wenn die Dinge des Himmels befragbar sind, frage ich: „Wer gibt die Antworten?“ Die Dinge sind in uns, von uns erfunden. Also Zwiegespräch mit mir selbst. Eine wahre Erkenntnis gibt es nicht. Erkenntnis ist gleich Paradies. Ein Doppelmopper. Doch wenn die Frage gestellt wird, löst sie das Chaos im Kopf aus. Doppeldeutigkeit, weißt du. Also Chaos im Kopf, gleich Messer im Bauch. Schmerz lass nach, darum male ich meine Welt. Gebannt ist dann weg. Auge schließt sich, Gehirn hat neue Freiheit. Das soll ich gemalt haben? Unheimlich. Wo bleibt die Liebe. Das einzigr, was wir erfunden haben.

Zeitnah (heute und hier): Lesbarkeiten und Denkbarkeiten. Manchmal sind die Fragen eben Antworten. Paradiese gibt es nicht. Adam musste sich nicht verstehen mit Gott. Glücklicherweise haben Eva und die Schlange erkannt, dass das Paradies langweilig ist.

Zeitfern:

Zeitnah (wieder da): Und dann bin ich hier, sitze auf dem harten Hocker, der das Umsehen erlaubt und wieder seichtes Klaviergeklimper wie aus dem Kaufhaus, fern der Realität die Gedanken melancholisch schweifen lassen, ohne Anspruch. Ohne das verbissene Gefühl eines wie auch immer gearteten Wollens, gar Müssens. Der Zeit erlauben zu gleiten, die Sekunden, Minuten, wer weiß, gar Stunden fließen. Wer weiß schon, wo die Gedanken hinführen, zur Mitte zurück, vielleicht auch an den Rand der Welt. Sich neue Horizonte erschließend, ohne jene berühmte Träne im Knopfloch. Diese Blicke im Nacken, die Silhouette im Kopf, loslassen, treiben lassen. Als Abschied auf Zeit von dem Erleben derselben. Nicht atemlos, sondern atemholend. Erleben.

Zeitfern: Dieses romantische Leseeckengeklimper, Klavier leicht, löst oft mehr aus im Gefühl, als ich will. Es ist wie Luft holen ohne denken. Loslassen wohin? Der Schlaf kündigt sich an. Ich will träume. Ein Bild ist fertig. Die Welt liegt entfernt. Mein Kopf gereinigt. Nichts raubt mir die Bläue. Der Pfeil fliegt in die andere Richtung. Und „du wieder da“. Eva liebt die Schlange. Und die Pferde sind wieder da. Eins weniger. Die Weide wird kleiner.

Zeitnah (im Jetzt ankommen): Biotope finden, den Lebensraum klären. Egal welche Tiere da herumstehen. Es sollte mich angehen, lasse aber den Blick schweifen. Verweigere die Suche nach dem Missing Link.

Geigenhimmel im Herbst, ein doppelter Regenbogen vor dunkler Wolkenwand. Die Holzstücke fallen vom Holzbock. Kettensägengesurre scharf in den Ohren. Die Rindenstrukturen, die Pilzformationen finden sich, ohne mein Zutun, ohne Suche. Wie war das noch mit den Physiognomien, die angeblich überall zu finden sind. Die Geruchsmischung aus Eichenlohe und Zweitaktmotor. Erinnerungen kehren zurück. Der Sturm schlägt auf das Wasser und lässt es gefährlich kräuseln.
Was-Fragen sind leichter als Wie-Fragen. Die Funktion nämlich ist immer schwer zu beantworten.

Zeitfern: Ja, mein Lieber, die Erinnerungen kehren zurück. Haben gestern einen Toten, Peter, wieder auferstehen lassen, für 2 Stunden war er präsent. Im Herbst sterben. Die Romantik überschlägt sich.

Zeitnah (wieder hier): Die Sehnsuchtsmotivik also soll zum Thema werden? Jenes Unerreichbare, das und hoffen und bangen lässt? Aber kann heute, gefühlte 200 Jahre später dieses hehre Ansinnen noch Gültigkeit haben? Womit würden wir jene Sehnsucht noch füllen können? Füllen wollen? Wäre es noch das Sehnen nach Natur, nach der Ferne, der Mystik, dem Religiösen?  Hätte es nach Jahrhunderten noch Sinn, sich zurück ins Mittelalter zu wünschen, wie es die Alten taten? Glauben wir in diesen allzu aufgeklärten Zeiten denn wirklich an das Mystische oder ist es nicht vielmehr ein virtuelles Spiel? Gelddruckmaschine für die Unterhaltungsindustrie. Die Geister, die ich heraufbeschwor, heute sind sie längst gebändigt. Aber vielleicht hast du doch recht, vielleicht.

Zeitfern: Fünf große Einsen am Himmel. Kraniche. Diese wehmütigen Schreie / rufe im Herbst. Die hörten die Menschen im Mittelalter auch schon. Hatten die gleiche Wehmut im Herzen. Heute der Spaziergang an der Ruhr entlang. Die Kraniche oben. Die rufe im Herzen. Ich. Vor mir eine Mutter mit Sohn. Sie haben nicht einmal aufgeschaut. Warum hörten und reagierten sie nicht? Nichts habe ich verstanden. Ist es eine andere Zeit? Romantik, was bedeutet das jetzt? Ich weiß es nicht. Bin ich aus der Zeit gefallen? Mein lieber „wieder hier“.

 

 

***

Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse in der Edition Das Labor, Neheim 2014

Weiterführend

Eine Einführung zum Projekt Gezeitengespräch findet sich hier. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Künstlerbücher verstehen diese Artisten als Physiognomik, der Büchersammler wird somit zum Physiognomiker der Dingwelt. Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421