Lessings schriftstellerische Verdienste sind schon mehr als einmal der Gegenstand eigner beredter Aufsätze gewesen. Ein paar dieser Aufsätze, welche viele treffende und feine Bemerkungen enthalten, rühren von zwei der achtungswürdigsten Veteranen der deutschen Literatur her. Ein Bruder, der Lessingen aufrichtig liebte, und ihn lange mit der Treue der Bewunderung beobachtet hatte, widmete der Beschreibung seiner Schicksale, Verhältnisse und Eigentümlichkeiten ein umständliches Werk. Wenige Schriftsteller nennt und lobt man so gern, als ihn: ja es ist eine fast allgemeine Liebhaberei, gelegentlich etwas Bedeutendes über Lessing zu sagen. Wie natürlich: da er, der eigentliche Autor der Nation und des Zeitalters, so vielseitig und so durchgreifend wirkte, zugleich laut und glänzend für alle, und auf einige tief. Daher ist denn auch vielleicht über kein deutsches Genie soviel Merkwürdiges gesagt worden; oft aus sehr verschiednen, ja entgegengesetzten Standpunkten, zum Teil von Schriftstellern, welche selbst zu den geistvollsten oder zu den berühmtesten gehören.
Dennoch darf ein Versuch, Lessings Geist im ganzen zu charakterisieren, nicht für überflüssig gehalten werden. Eine so reiche und umfassende Natur kann nicht vielseitig genug betrachtet werden, und ist durchaus unerschöpflich. So lange wir noch an Bildung wachsen, besteht ja ein Teil, und gewiß nicht der unwesentlichste, unsers Fortschreitens eben darin, daß wir immer wieder zu den alten Gegenständen, die es wert sind, zurückkehren, und alles Neue, was wir mehr sind oder mehr wissen, auf sie anwenden, die vorigen Gesichtspunkte und Resultate berichtigen, und uns neue Aussichten eröffnen. Der gewöhnlichen Behauptung: es sei schon alles gesagt; die so scheinbar ist, daß sie von sich selbst gilt (denn so wie Voltaire sie ausdrückt, wird sie schon beim Terenz gefunden) muß man daher in Rücksicht auf Gegenstände dieser Art vorzüglich, ja vielleicht in Rücksicht auf alle, von denen immer die Rede sein wird, die gerade widersprechende Behauptung entgegensetzen: Es sei eigentlich noch nichts gesagt; nämlich so, daß es nicht nötig wäre, mehr, und nicht möglich, etwas Besseres zu sagen.
Was Lessingen insbesondere betrifft: so sind überdem erst seit kurzem die Akten vollständig geworden, nachdem man nun alles, was zur nähern Bekanntschaft mit dem großen Manne irgend nützlich sein mag, hat drucken lassen. Jene, welche gleich im ersten Schmerz über seinen Verlust schrieben, entbehrten viele wesentliche Dokumente, unter andern die unendlich wichtige Briefsammlung. Beide beschränkten ihre Betrachtungen nur auf einige Zweige seiner vielseitigen Tätigkeit: der eine richtete seine Absicht auf ein bestimmtes, nicht auf das ganze Publikum; der andre schwieg geflissentlich über manches, oder verweilte nicht lange dabei. Gewiß nicht ohne Grund: aber Rücksichten, welche damals notwendig waren, sind es vielleicht jetzt nicht mehr.
Lessing endlich war einer von den revolutionären Geistern, die überall wohin sie sich auch im Gebiet der Meinungen wenden, gleich einem scharfen Scheidungsmittel, die heftigsten Gärungen und gewaltigsten Erschütterungen allgemein verbreiten. In der Theologie wie auf der Bühne und in der Kritik hat er nicht bloß Epoche gemacht, sondern eine allgemeine und daurende Revolution allein hervorgebracht, oder doch vorzüglich veranlaßt. Revolutionäre Gegenstände werden selten kritisch betrachtet. Die Nähe einer so glänzenden Erscheinung blendet auch sonst starke Augen, selbst bei leidenschaftsloser Beobachtung. Wie sollte also die Menge fähig sein, sich dem stürmischen Eindruck nicht ganz hinzugeben, sondern ihn mit der geistigen Gegenwirkung aneignend aufzunehmen, wodurch allein er sich zum Urteil bilden kann? Der erste Eindruck literarischer Erscheinungen aber ist nicht bloß unbestimmt: er ist auch selten reine Wirkung der Sache selbst, sondern gemeinschaftliches Resultat vieler mitwirkenden Einflüsse und zusammentreffenden Umstände. Dennoch pflegt man ihn ganz auf die Rechnung des Autors zu setzen, wodurch dieser nicht selten in ein durchaus falsches Licht gestellt wird. Der allgemeine Eindruck wird auch bald der herrschende; es bildet sich ein blinder Glauben, eine gedankenlose Gewohnheit, welche bald heilige Überlieferung und endlich beinah unverbrüchliches Gesetz wird. Die Macht einer öffentlichen und alten Meinung zeigt ihren Einfluß auch auf solche Männer, welche selbstständig urteilen könnten; der Strom zieht auch sie mit fort, oft ohne daß sie es nur gewahr werden. Oder wenn sie sich widersetzen, so geraten sie dann in das andere Extrem, alles unbedingt zu verwerfen. Der Glaube wächst mit dem Fortgang, der Irrtum wird fest durch die Zeit und irrt immer weiter, die Spuren des Besseren verschwinden, vieles und vielleicht das Wichtigste sinkt ganz in Vergessenheit. So bedarf es oft nur eines geringen Zeitraums, um das Bild von seinem Originale bis zur Unkenntlichkeit zu entfernen, und um zwischen der herrschenden Meinung über einen Schriftsteller, und dem was ganz offenbar in seinem Leben und in seinen Werken da liegt, dem was er selbst über sich urteilte und der Art, wie er überhaupt die Dinge der literarischen Welt ansah und maß, den schneidendsten Widerspruch zu erzeugen. Die, welche, wenn auch nicht in der Religion, doch in der Literatur den alleinseligmachenden Glauben zu besitzen wähnen, wird dieser Widerspruch zwar selten in ihrer behäglichen Ruhe stören: aber jeder Unbefangne, dem er sich plötzlich zeigt, muß billig darüber erstaunen.
Überraschung und Erstaunen waren, das muß ich gestehen, jedesmal meine Empfindungen, wenn ich eine Zeitlang ganz in Lessings Schriften gelebt hatte, und nun absichtlich oder zufällig wieder auf irgend etwas geriet, wobei ich mich alles dessen erinnerte, was ich etwa schon über die Art, wie man Lessing gewöhnlich bewundert und nachahmt, oder zu bewundern und nachzuahmen unterläßt, gesammelt und beobachtet hatte.
Ja gewiß, auch Lessing würde wo nicht überrascht doch etwas befremdet werden, und nicht ganz ohne Unwillen lächeln, wenn er wiederkehrte und sähe, wie man nur die Vortrefflichkeiten nicht müde wird an ihm zu preisen, die er immer streng und ernst von sich ablehnte, nur diejenigen unter seinen zahlreichen Bemühungen und Versuchen mit einseitiger und ungerechter Vorliebe fast allein zu zergliedern und zu loben, von denen er selbst am wenigsten hielt, und von denen wohl eigentlich vergleichungsweise am wenigsten zu sagen ist, während man das Eigenste und das Größte in seinen Äußerungen, wie es scheint, gar nicht einmal gewahr werden will und kann! Er würde doch erstaunen, daß gerade die poetischen Mediocristen, literarischen Moderantisten und Anbeter der Halbheit, welche er, so lange er lebte, nie aufhörte eifrigst zu hassen und zu verfolgen, es haben wagen dürfen, ihn als einen Virtuosen der goldnen Mittelmäßigkeit zu vergöttern, und ihn sich ausschließend gleichsam zuzueignen, als sei er einer der ihrigen! Daß sein Ruhm nicht ein ermunternder und leitender Stern für das werdende Verdienst ist, sondern als Ägide gegen jeden mißbraucht wird, der etwa in allem, was gut ist und schön, zu weit vorwärts gehn zu wollen droht! Daß träger Dünkel, Plattheit und Vorurteil unter der Sanktion seines Namens Schutz suchen und finden! Daß man ihn und einen Addison, von dessen Zahmheit, wie ers nennt, er so verächtlich redet (wie er denn überhaupt nüchterne Korrektheit ohne Genie beinah noch mehr geringschätzt, als billig ist) zusammenpaaren mag und darf, wie man etwa »Miss Sara Sampson« und »Emilia Galotti« und »Nathan den Weisen« in einem Atem und aus einem Tone bewundert, weil es doch sämtlich dramatische Werke sind!
Auch er würde, wenn sein Geist in neuer Gestalt erschiene, von seinen eifrigsten Anhängern verkannt und verleugnet werden, und könnte ihnen gar leicht großes Ärgernis geben. Denn wenn der heilige Glauben nicht wäre, und der noch heiligere Namen, so dürfte Lessing doch wohl für manchen, der jetzt auf seiner Autorität vornehm ausruht, an seine Einfälle glaubt, die Größe seines Geistes für das Maß des menschlichen Vermögens, und die Grenzen seiner Einsicht für die wissenschaftlichen Säulen des Herkules hält, welche überschreiten zu wollen ebenso gottlos als töricht sei, nichts weiter sein, als ein ausgemachter Mystiker, ein sophistischer Grübler und ein kleinlicher Pedant.
Es ist nicht uninteressant, der allmählichen Entstehung und Ausbildung der herrschenden Meinung über Lessing nachzuforschen, und sie bis in ihre kleinsten Nebenzweige zu verfolgen. Die Darstellung derselben in ihrem ganzen Umfange, mit andern Worten, die Geschichte der Wirkungen, welche Lessings Schriften auf die deutsche Literatur gehabt haben, wäre hinreichender Stoff für eine eigene Abhandlung. Hier wird es genug und zweckmäßiger sein, nur das Resultat einer solchen Untersuchung aufzustellen, und die im ganzen herrschende Meinung, nebst den wesentlichsten Abweichungen einzelner Gattungen mit der Genauigkeit, die ein mittlerer Durchschnitt erlaubt, im allgemeinen positiv und negativ zu bestimmen, und durch kurz angedeutete Gegensätze in ein helleres Licht zu setzen.
Völlig ausgemacht ist es nach dem einmütigen Urteil aller, daß Lessing ein sehr großer Dichter sei. Seine dramatische Poesie hat man unter allen seinen Geistesprodukten am weitläufigsten und detailliertesten zergliedert, und auf alles, was sie betrifft, legt man den wichtigsten Akzent. Läse man nicht die Werke selbst, sondern nur was über sie gesagt worden ist: so dürfte man leicht verführt werden zu glauben, die »Erziehung des Menschengeschlechts« und die »Freimaurergespräche« stehen an Bedeutung, Wert, Kunst und Genialität der »Miss Sara Sampson« weit nach.
Auch das ist ausgemacht, daß Lessing ein unübertrefflich einziger, ja beinah vollkommener Kunstkenner der Poesie war. Hier scheinen das Ideal und der Begriff des Individuums fast ineinander verschmolzen zu sein. Beide werden nicht selten verwechselt, als völlig identisch. Man sagt oft nur: ein Lessing, um einen vollendeten poetischen Kritiker zu bezeichnen. So redet nicht bloß jedermann, so drückt sich auch ein Kant, ein Wolf aus; Häupter der philosophischen und der philologischen Kritik, welchen man daher den Sinn für Virtuosität in jeder Art von Kritik nicht absprechen wird; beide an Liebe und Kunst, der Wahrheit auch in ihren verborgensten Schlupfwinkeln nachzuspüren, an schneidender Strenge der Prüfung bei biegsamer Vielseitigkeit Lessingen nicht unähnlich.
Auch darin ist man einig, daß man seine Universalität bewundert, welche dem Größten gewachsen war, und es doch auch nicht verschmähte, selbst das Kleinste durch Kunst und Geist zu adeln. Einige, vorzüglich unter seinen nächsten Bewunderern und Freunden, haben ihn desfalls für ein Universalgenie, dem es zu gering gewesen wäre, nur in Einer Kunst oder Wissenschaft groß, vollendet und einzig zu sein, erklärt, ohne sich diesen Begriff recht genau zu bestimmen, oder über die Möglichkeit dessen, was sie behaupteten, strenge Rechenschaft zu geben. Sie machen ihn nicht ohne einige Vergötterung gleichsam zu einem Eins und Alles, und scheinen oft zu glauben, sein Geist habe wirklich keine Schranken gehabt.
Witz und Prosa sind Dinge für die nur sehr wenige Menschen Sinn haben, ungleich weniger vielleicht, als für kunstmäßige Vollendung und für Poesie. Daher ist denn auch von Lessings Witz und von Lessings Prosa gar wenig die Rede, ungeachtet doch sein Witz vorzugsweise klassisch genannt zu werden verdient, und eine pragmatische Theorie der deutschen Prosa wohl mit der Charakteristik seines Styls gleichsam würde anfangen und endigen müssen.
Noch weniger ist natürlich bei dem allgemeinen Mangel an Sinn für sittliche Bildung und sittliche Größe, bei der modischen nichts unterscheidenden Verachtung der Ästhetiker gegen alles, was moralisch heißen will oder wirklich ist, der schwächlichen Schlaffheit, der eigensinnigen Willkürlichkeit, drückenden Kleinlichkeit und konsequenten Unvernunft der konventionellen und in der Gesellschaft wirklich geltenden Moral auf der einen Seite, und dem Borniertismus abstrakter und buchstäbelnder Tugendpedanten und Maximisten auf der andern, von Lessings Charakter die Rede; von den würdigen männlichen Grundsätzen, von dem großen freien Styl seines Lebens, welches vielleicht die beste praktische Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten sein dürfte; von der dreisten Selbstständigkeit, von der derben Festigkeit seines ganzen Wesens, von seinem edeln vornehmen Zynismus, von seiner heiligen Liberalität; von jener biedern Herzlichkeit, die der sonst nicht empfindsame Mann in allem was Kindespflicht, Brudertreue, Vaterliebe, und überhaupt die ersten Bande der Natur und die innigsten Verhältnisse der Gesellschaft betrifft, stets offenbart, und die sich auch hie und da in Werken, welche sonst nur der Verstand gedichtet zu haben scheint, so anziehend und durch ihre Seltenheit selbst rührender äußert; von jenem tugendhaften Haß der halben und der ganzen Lüge, der knechtischen und der herrschsüchtigen Geistesfaulheit; von jener Scheu vor der geringsten Verletzung der Rechte und Freiheiten jedes Selbstdenkers; von seiner warmen, tätigen Ehrfurcht vor allem was er als Mittel zur Erweiterung der Erkenntnis und insofern als Eigentum der Menschheit betrachtete; von seinem reinen Eifer in Bemühungen, von denen er selbst am besten wußte, daß sie nach der gemeinen Ansicht, fehlschlagen und nichts fruchten würden, die aber in diesem Sinne getan, mehr wert sind, wie jeder Zweck: von jener göttlichen Unruhe, die überall und immer nicht bloß wirken, sondern aus Instinkt der Größe handeln muß, und die auf alles, was sie nur berührt, von selbst, ohne daß sie es weiß und will, zu allem Guten und Schönen so mächtig wirket.
Und doch sind es grade diese Eigenschaften und so viele andre ihnen ähnliche noch weit mehr als seine Universalität und Genialität, um derentwillen man es nicht mißbilligen mag, daß ein Freund die erhabene Schilderung, welche Cassius beim Shakespeare vom Cäsar macht, auf ihn anwandte:
Ja, er beschreitet, Freund, die enge Welt
Wie ein Kolossus, und wir kleinen Leute,
Wir wandeln unter seinen Riesenbeinen
Und schaun umher nach einem schnöden Grab.
Denn diese Eigenschaften kann nur ein großer Mann besitzen, der ein Gemüt hat, das heißt, jene lebendige Regsamkeit und Stärke des innersten, tiefsten Geistes, des Gottes im Menschen. Man hätte daher nicht so weit gehn sollen, zu behaupten, es fehle ihm an Gemüt, wie sie’s nennen, weil er keine Liebe hatte. Ist denn Lessings Haß der Unvernunft nicht so göttlich wie die echteste, die geistigste Liebe? Kann man so hassen ohne Gemüt? Zu geschweigen, daß so mancher, der ein Individuum oder eine Kunst zu lieben glaubt, nur eine erhitzte Einbildungskraft hat. Ich fürchte, daß jene unbillige Meinung um so weiter verbreitet ist, je weniger man sie laut gesagt hat. Einige Fantasten von der bornierten und illiberalen Art, welche gegen Lessing natürlich so gesinnt sein müssen, wie etwa der Patriarch gegen einen Alhafi oder gegen einen Nathan gesinnt sein würde, scheinen ihm wegen jenes Mangels sogar die Genialität absprechen zu wollen. – Es ist hinreichend, diese Meinung nur zu erwähnen.
Die bibliothekarische und antiquarische Mikrologie des wunderlichen Mannes und seine seltsame Orthodoxie weiß man nur anzustaunen. Seine böse Polemik beklagt man fast einmütig recht sehr, so wie auch, daß der Mann sogar fragmentarisch schrieb, und trotz alles Anmahnens nicht immer lauter Meisterwerke vollenden wollte. –
Seine Polemik insonderheit ist, ungeachtet sie überall den Sieg davon getragen hat, und man es auch da, wo es allerdings einer tiefern historischen Untersuchung, und kritischen Würdigung bedurft hätte, vorzüglich in Sachen des Geschmacks, bei seiner bloß polemischen Entscheidung hat bewenden lassen, dennoch selbst so völlig vergessen, daß es vielleicht für viele, welche Verehrer Lessings zu sein glauben, ein Paradoxon sein würde, wenn man behauptete, der »Anti-Götze« verdiene nicht etwa bloß in Rücksicht auf zermalmende Kraft der Beredsamkeit, überraschende Gewandtheit und glänzenden Ausdruck, sondern an Genialität, Philosophie, selbst an poetischem Geiste und sittlicher Erhabenheit einzelner Stellen, unter allen seinen Schriften den ersten Rang. Denn nie hat er so aus dem tiefsten Selbst geschrieben, als in diesen Explosionen, die ihm die Hitze des Kampfs entriß, und in denen der Adel seines Gemüts im reinsten Glanz so unzweideutig hervorstrahlt. Was könnten und würden auch wohl die Verehrer der von Lessing immer so bitter verachteten und verspotteten Höflichkeit und Dezenz, »für welche die Polemik überhaupt wohl weder Kunst noch Wissenschaft sein mag,« zu einer Polemik sagen, gegen welche sie selbst Fichtes Denkart friedlich und seine Schreibart milde nennen müßten? Und das in einem Zeitalter, wo man nächst der Mystik nichts so sehr scheut als Polemik, wo es herrschender Grundsatz ist, fünf grade sein zu lassen, und die Sache ja nicht so genau zu nehmen, wo man alles dulden, beschönigen und vergessen kann, nur strenge rücksichtslose Rechtlichkeit nicht? Wenn diese Lessingsche Polemik nicht glücklicherweise so vergessen, viele seiner besten Schriften nicht so unbekannt wären, daß unter hundert Lesern vielleicht kaum Einer bemerken wird, wie ähnlich die Fichtische Polemik der Lessingschen sei, nicht etwa in etwas Zufälligem, im Kolorit oder Styl, sondern grade in dem, was das Wichtigste ist, in den Hauptgrundsätzen, und in dem was am meisten auffällt, in einzelnen schneidenden und harten Wendungen.
Lessings Philosophie, welche freilich wohl unter allen Fragmenten, die er in die Welt warf, am meisten Fragment geblieben ist, da sie in einzelnen Winken und Andeutungen, oft an dem unscheinbarsten Ort andrer Bruchstücke, über alle seine Werke der letztern, und einige der mittlern und ersten Epoche seines geistigen Lebens zerstreut liegt; seine Philosophie, welche für den Kritiker, der ein philosophischer Künstler werden will, dennoch sein sollte, was der Torso für den bildenden Künstler; Lessings Philosophie scheint man nur als Veranlassung der Jacobischen, oder gar nur als Anhang der Mendelssohnschen zu kennen! Man weiß nichts davon zu sagen, als daß er die Wahrheit und Untersuchung liebte, gern stritt und widersprach, sehr gern Paradoxen sagte, gewaltig viel Scharfsinn besaß, Dummköpfe mit unter ein wenig zum besten hatte, an Universalität der Kenntnisse und Vielseitigkeit des Geistes Leibnizen auffallend ähnelte, und gegen das Ende seines Lebens leider ein Spinosist wurde!
Von seiner Philologie erwähnt man, daß er in der Konjekturalkritik, welche der Gipfel der philologischen Kunst sei, ungleich weniger Stärke besitze, als man wohl erwarten möge, da er doch in der Tat einige der zu dieser Wissenschaft erforderlichen und ersprießlichen Geistesgaben von der Natur erhalten hätte.
Was die Mediocristen sich von der nachahmungswürdigen Universalkorrektheit des weisen nüchternen Lessing eingebildet haben, ist schon erwähnt worden. Diese haben denn auch natürlich seine dramaturgischen und sonst zur Poetik und Theorie der Dichtarten gehörigen Fragmente und Fermente, die er wohl selbst so nannte, fixiert, und zu heiligen Schriften und symbolischen Büchern der Kunstlehre erkieset.
Dies sind wohl ungefähr die hauptsächlichsten Gesichtspunkte und Rubriken, nach welchen man von Lessing überhaupt etwas geurteilt oder gemeint hat. Wie alles das, was er in jedem dieser Fächer sein soll oder wirklich war, wohl zusammenhängen mag, welcher gemeinsame Geist alles beseelt, was er denn eigentlich im ganzen war, sein wollte, und werden mußte; darüber scheint man gar nichts zu urteilen und zu meinen. Geht man sonst bei seiner Charakteristik ins einzelne: so geschieht dies nicht etwa nach den verschiedenen Stufen seiner literarischen Bildung, den Epochen seines Geistes, und mit der Unterscheidung des eignen Styls und Tons eines jeden, noch nach den vorherrschenden Richtungen und Neigungen seines Wesens, nach den verschiedenen Zweigen seiner Tätigkeit und Einsicht: sondern nach den Titeln seiner einzelnen Schriften, die man nicht selten, (oft mit Übergehung der wichtigsten und bei weitläuftiger Zergliederung der dramatischen Jugendversuche) nach nichtsbedeutenden Gattungsnamen registermäßig zusammenpaart; da doch jedes seiner meisten und besten Werke, ein literarisches Individuum für sich, ein Wesen eigner Art ist, »was aller Grenzscheidungen der Kritik spottet,« und oft weder Vorgänger noch Nachfolger hat, womit es in eine Rubrik gebracht werden könnte.
Da ich, was Lessing betrifft, Lessingen und seinen Werken mehr glaube, als seinen Beurteilern und Lobrednern: so kann ich nicht umhin, diese Ansichten und Meinungen, insofern sie Urteile sein sollen, nicht bloß wegen dessen, was sie im ganzen unterlassen, sondern auch wegen des Positiven, was sie im einzelnen enthalten, ihrer Form und ihrem Inhalte nach zu mißbilligen.
Es ist gewiß löblich, daß man Lessingen gelobt hat, und noch lobt. Man kann in diesem Stücke auf die rechte Weise des Guten auch wohl nicht so leicht zu viel tun; und was wäre kleinlicher, als einem Manne von der ersten seltensten Größe seinen Ruhm mit ängstlichem Geiz darzuwiegen? Aber was wäre auch ein Lob ohne die strengste Prüfung und das freieste Urteil? Zum wenigsten Lessings durchaus unwürdig; so wie alle unbestimmte Bewunderung und unbedingte Vergötterung, welche, wie auch dieses Beispiel wieder bestätigen kann, durch Einseitigkeit gegen ihren Gegenstand selbst so leicht ungerecht werden kann.
Man sollte doch nun auch einmal den Versuch wagen, Lessingen nach den Gesetzen zu kritisieren, die er selbst für die Beurteilung großer Dichter und Meister in der Kunst vorgeschrieben hat; ob nicht vielleicht eine solche Kritik die beste Lobrede für ihn sein dürfte: ihn so zu bewundern und ihm so nachzufolgen, wie er wollte, daß man es mit Luthern halten sollte, mit dem man ihn wohl in mehr als einer Rücksicht vergleichen könnte.
Jene Vorschriften sind folgende. »Einen elenden Dichter tadelt man gar nicht; mit einem mittelmäßigen verfährt man gelinde; gegen einen großen ist man unerbittlich.« (T. IV, S. 34.) »Wenn ich Kunstrichter wäre, wenn ich mir getraute das Kunstrichterschild aushängen zu können: so würde meine Tonleiter diese sein. Gelinde und schmeichelnd gegen den Anfänger; mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel bewundernd gegen den Meister; abschreckend und positiv gegen den Stümper; höhnisch gegen den Prahler; und so bitter als möglich gegen den Kabalenmacher« (T. XII, S. 163).
Über Luther redet er so: »Der wahre Lutheraner will nicht bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geist geschützt sein u.s.w.« (T. V, S. 162). Überhaupt war unbegrenzte Verachtung des Buchstabens ein Hauptzug in Lessings Charakter.
Freimütigkeit ist die erste Pflicht eines jeden, der über Lessing öffentlich reden will. Denn wer kann wohl den Gedanken ertragen, daß Lessing irgendeiner Schonung bedürfte? Oder wer möchte wohl seine Meinung über den Meister der Freimütigkeit nur furchtsam zu verstehn geben, und angstvoll halb reden, halb schweigen? Und wer, der es könnte, darf sich einen Verehrer Lessings nennen? Das wäre Entweihung seines Namens!
Wie sollte man auf das kleine Ärgernis Rücksicht nehmen, was etwa zufällig daraus entstehen könnte, da Er selbst das ärgste Ärgernis für nichts als »einen Popanz hielt, mit dem gewisse Leute gern allen und jeden Geist der Prüfung verscheuchen möchten?« (T. VI, S. 152.) Ja er hielt es sogar für äußerst verächtlich, »daß sich niemand die Mühe zu nehmen pflegt, sich den Geckereien, welche man vor dem Publikum und mit dem Publikum so häufig unternimmt, entgegenzustellen, wodurch sie mit dem Lauf der Zeit das Ansehn einer sehr ernsthaften, heiligen Sache gewinnen. Da heißt es dann über tausend Jahren: Würde man denn in die Welt so haben schreiben dürfen, wenn es nicht wahr gewesen wäre? Man hat diesen glaubwürdigen Männern damals nicht widersprochen und ihr wollt ihnen jetzt widersprechen?« Obgleich der große Menschenkenner in dieser Stelle (T. VII, S. 309) eigentlich von Geckereien ganz andrer Art redet: so ist doch alles auch sehr anwendbar auf die Geckereien, von denen hier die Rede ist. Denn Geckerei darf es doch wohl zum Beispiel genannt werden, wenn man Lessing zum Ideal der goldnen Mittelmäßigkeit, zum Helden der seichten Aufklärung, die so wenig Licht als Kraft hat, erheben will? – »Wenn es ein wenig zu beißend gesagt sein sollte – wozu hilft das Salz, wenn man nicht damit salzen soll?« (T. V, S. 208.)
Auch ist gewiß eine solche Freimütigkeit nicht notwendig fruchtlos: denn wenn es auch sehr wahr ist, was Lessing ebenso richtig als scharfsinnig bemerkt hat, »daß bis jetzt in der Welt noch unendlich mehr übersehen als gesehen worden ist« (T. V, S. 256): so ist denn doch nicht minder richtig, daß »bei den Klugen keine Verjährung stattfindet.« (T. VII, S 309.) Diese notwendige Freimütigkeit würde bei mir, wenn diese Eigenschaft mir auch nicht überhaupt natürlich wäre, doch schon aus der Unbefangenheit, mit der ich Lessings Schriften und ihre Wirkungen kennenlernte, haben folgen müssen. Eine Wahrnehmung, ein Widerspruch, der uns überrascht hat, wird ganz natürlich so wiedergegeben, wie er empfangen wurde. Auch sollte es mich freuen, wenn alle diejenigen, welche Lessing immer zitieren, ohne seinen Geist, ja oft ohne seine Schriften gründlich zu kennen, meine eigentümliche und für sie paradoxe Ansicht von ihm, ihrer Mißbilligung und Abneigung wert halten wollten, oder sich ebenso wenig darin finden könnten, wie in Lessings Pedanterie, Orthodoxie, Mikrologie und Polemik.
Jene Unbefangenheit ward mir dadurch möglich, daß ich nicht Lessings Zeitgenosse war, und also weder mit noch wider den Strom der öffentlichen Meinung über ihn zu gehn brauchte. Sie ward noch erhöht durch den glücklichen Umstand, daß mich Lessing erst spät und nicht eher anfing zu interessieren, als bis ich fest und selbstständig genug war, um mein Augenmerk auf das Ganze richten, um mich mehr für ihn und den Geist seiner Behandlung als für die behandelten Gegenstände interessieren, und ihn frei betrachten zu können. Denn so lange man noch am Stoff klebt, so lange man in einer besondern Kunst und Wissenschaft, oder in der gesamten Bildung überhaupt, noch nicht durch sich selbst zu einer gewissen Befriedigung gelangt ist, welche dem weitern Fortschreiten so wenig hinderlich ist, daß dieses vielmehr erst durch sie gesichert wird; so lange man noch rastlos nach einem festen Stand und Mittelpunkt umhersucht: so lange ist man noch nicht frei, und noch durchaus unfähig, einen Schriftsteller zu beurteilen. Wer die »Dramaturgie« zum Beispiel etwa in der illiberalen Absicht liest, die Reguln der dramatischen Dichtkunst aus ihr zu erfahren, oder durch dieses Medium über die Poetik des Aristoteles Gewißheit zu erhalten, und ins reine zu kommen: der hat sicher noch gar keinen Sinn für die Individualität und Genialität dieses seltsamen Werks. Ich erinnere mich noch recht gut, daß ich unter andern den »Laokoon«, trotz dem günstigen Vorurteil und trotz dem Eindruck einzelner Stellen, ganz unbefriedigt und daher ganz mißvergnügt aus der Hand legte. Ich hatte das Buch nämlich mit der törichten Hoffnung gelesen, hier die bare und blanke und felsenfeste Wissenschaft über die ersten und letzten Gründe der bildenden Kunst, und ihr Verhältnis zur Poesie, zu finden, welche ich begehrte und verlangte. So lange der Grund fehlte, war ich für einzelne Bereicherungen nicht empfänglich, und Erregungen der Wißbegier brauchte ich nicht. Mein Lesen war interessiert, und noch nicht Studium, d.h. uninteressierte, freie, durch kein bestimmtes Bedürfnis, durch keinen bestimmten Zweck beschränkte Betrachtung und Untersuchung, wodurch allein der Geist eines Autors ergriffen und ein Urteil über ihn hervorgebracht werden kann. So gings mir mit mehren Schriften Lessings. Doch habe ich diese Sünde, wenn es eine ist, reichlich abgebüßt. Denn seitdem mein Sinn für Lessing, wie ein Schwärmer oder ein Spötter es ausdrücken würde, zum Durchbruch gekommen, und mir ein Licht über ihn aufgegangen ist, sind seine sämtlichen Werke, ohne Ausnahme des geringsten und unfruchtbarsten, ein wahres Labyrinth für mich, in welches ich äußerst leicht den Eingang, aus dem ich aber nur mit der äußersten Schwierigkeit den Ausweg finden kann. Die Magie dieses eignen Reizes wächst mit dem Gebrauch und ich kann der Lockung selten widerstehn. Ja ich muß über mich selbst lächeln, wenn ich mir vorstelle, wie oft ich ihr schon seit der Zeit, wo ich den Gedanken faßte, das Mitteilbarste von dem, was ich über Lessing gesammelt und aufgeschrieben hatte, drucken zu lassen, unterlegen, die Bände von neuem durchgelesen, vieles für mich bemerkt und für mich geschrieben, darüber aber immer den beabsichtigten Druck weiter hinausgeschoben, oft gänzlich vergessen habe. Denn das Interesse des Studiums überwog hier das Interesse der öffentlichen Mitteilung, welches immer schwächer ist, so sehr, daß ich, ohne einen kategorischen Entschluß wohl immer an einem Aufsatz über Lessing nur gearbeitet haben würde, ohne ihn jemals zu vollenden.
Dieses Studium und jene Unbefangenheit allein können mir den sonst unersetzlichen Mangel einer lebendigen Bekanntschaft mit Lessing einigermaßen ersetzen. Ein Autor, er sei Künstler oder Denker, der alles was er vermag, oder weiß, zu Papiere bringen kann, ist zum mindesten kein Genie. Es gibt ihrer die ein Talent haben, aber ein so beschränktes, so isoliertes, daß es ihnen ganz fremd läßt, als ob es nicht ihr eigen, als ob es ihnen nur angeheftet oder geliehen wäre. Von dieser Art war Lessing nicht. Er selbst war mehr wert, als alle seine Talente. In seiner Individualität lag seine Größe. Nicht bloß aus den Nachrichten von seinen Gesprächen, nicht bloß aus den, wie es scheint, bisher sehr vernachlässigten Briefen, deren einer oder der andere für den, welcher nur Lessingen im Lessing sucht und studiert, und Sinn hat für seine genialische Individualität, mehr wert ist als manches seiner berühmtesten Werke: auch aus seinen Schriften selbst möchte man fast vermuten, er habe das lebendige Gespräch noch mehr in der Gewalt gehabt als den schriftlichen Ausdruck, er habe hier seine innerste und tiefste Eigentümlichkeit noch klarer und dreister mitteilen können. Wie lebendig und dialogisch seine Prosa ist, bedarf keiner Auseinandersetzung. Das Interessanteste und das Gründlichste in seinen Schriften sind Winke und Andeutungen, das Reifste und Vollendetste Bruchstücke von Bruchstücken. Das Beste was Lessing sagt, ist was er, wie erraten und erfunden, in ein paar gediegenen Worten voll Kraft, Geist und Salz hinwirft; Worte, in denen, was die dunkelsten Stellen sind im Gebiet des menschlichen Geistes, oft wie vom Blitz plötzlich erleuchtet, das Heiligste höchst keck und fast frevelhaft, das Allgemeinste höchst sonderbar und launig ausgedrückt wird. Einzeln und kompakt, ohne Zergliederung und Demonstration, stehen seine Hauptsätze da, wie mathematische Axiome; und seine bündigsten Räsonnements sind gewöhnlich nur eine Kette von witzigen Einfällen. Von solchen Männern mag eine kurze Unterredung oft lehrreicher sein und weiter führen, als ein langes Werk! Ich wenigstens könnte die Befriedigung des feurigen Wunsches, grade diesen Mann sehen und sprechen zu dürfen, vielleicht mit Entsagung auf den Genuß und den Vorteil von irgendeinem seiner Werke an meinem Teil erkaufen wollen! Bei der Unmöglichkeit, dieses Verlangen erfüllt zu sehn, muß ich mich wohl mit der erwähnten Unbefangenheit und Freimütigkeit zu trösten suchen.
Wenn aber auch die letzte noch so groß wäre: so würde ich es doch kaum wagen, meine Meinung über Lessing öffentlich zu sagen, wenn ich sie nicht im ganzen durch Lessings Maximen verteidigen, und im einzelnen durchgängig mit Autoritäten und entscheidend beweisenden Stellen aus Lessing belegen könnte; so unendlich verschieden ist meine Ansicht Lessings von der herrschenden.
Man meint zum Beispiel nicht nur, sondern man glaubt sogar entschieden zu wissen, daß Lessing einer der größten Dichter war; und ich zweifle sogar, ob er überall ein Dichter gewesen sei, ja ob er poetischen Sinn und Kunstgefühl gehabt habe. Dagegen brauche ich aber auch zu dem was er selbst über diesen Punkt sagt, nur sehr Weniges hinzuzufügen.
Die Hauptstelle steht in der Dramaturgie. »Ich bin« sagt er in dem äußerst charakteristischen Epilog der Dramaturgie, eines Werks, welches, darin einzig in seiner Art, von einer merkantilischen Veranlassung und von dem Vorsatz einer wöchentlichen Unterhaltung ausgeht und, ehe man sich’s versieht, den populären Horizont himmelweit überflogen hat, und um alle Zeitverhältnisse unbekümmert, in die reinste Spekulation versunken, mit raschem Lauf auf das paradoxe Ziel eines poetischen Euklides lossteuert, dabei aber auf seiner ekzentrischen Bahn so individuell, so lebendig, so Lessingisch ausgeführt ist, daß man es selbst ein Monodrama nennen könnte: – »Ich bin, sagt er hier (T. XXV, S. 376 folg.) weder Schauspieler noch Dichter.«
»Man erweiset mir wohl manchmal die Ehre, mich für den letztern zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern. Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet, ist ein Maler. Die ältesten von jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Tüchtigkeit so gern für Genie hält. Was in den neuern Erträgliches ist, davon bin ich mir sehr bewußt, daß ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die sich durch eigene Kraft emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren in mir heraufpressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin daher immer beschämt und verdrießlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann.«
»Doch freilich; wie die Krücke dem Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann: so auch die Kritik. Wenn ich mit ihrer Hülfe etwas zu Stande bringe, welches besser ist, als es einer von meinen Talenten ohne Kritik machen würde: so kostet es mir soviel Zeit, ich muß von andern Geschäften so frei, von unwillkürlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muß meine ganze Belesenheit so gegenwärtig haben, ich muß bei jedem Schritt alle Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig durchlaufen können; daß zu einem Arbeiter, der ein Theater mit Neuigkeiten unterhalten soll, niemand ungeschickter sein kann, als ich.«
Man hat diese wichtige Stelle, welche meines Erachtens der Text zu allem, was sich über Lessings Poesie sagen läßt, ist und bleiben muß, bisher zwar keineswegs übersehen. Nur hat man nicht sehn oder nicht einsehn wollen, was darin gesagt, und was dadurch entschieden und über allen Zweifel erhoben wird.
Vergebens würde man sich die Stärke jener Äußerung durch die Voraussetzung zu entkräften suchen, er sei höflich gewesen, und habe es nicht so gar ernstlich gemeint. Dem widerspricht nicht nur der offne, freie, biedre Charakter dieser Stelle, sondern auch der Geist und Buchstabe vieler andern, wo er mit der äußersten Verachtung und Verabscheuung wider den falschen Anstand, und die falsche Bescheidenheit redet. Nichts stritt so sehr mit seinem innersten Wesen, als ein solches Gemisch von verhaltner Selbstsucht und Gewohnheitslüge. Das beweisen alle seine Schriften.
Wie freimütig, ja wie dreist er auch das Gute, was er von sich hielt, sagen zu müssen und zu können glaubte, mögen zwei Stellen aus demselben Stück der »Dramaturgie« mit jener in Erinnrung bringen, welche den Inhalt jener bestätigen und erläutern; deren eine überdem ganz vorzüglich ins Licht setzt, wie Lessing über seine Kritik selbst urteilte; und deren andere in ihrem äußerst kecken Tone jenes Bewußtsein von Genialität, wenn auch nicht grade von poetischer, verrät, welches sich im ganzen Epilog der »Dramaturgie« kundgibt.
»Seines Fleißes«, sagt er (T. XXV, S. 384) »darf sich jedermann rühmen: ich glaube die dramatische Dichtkunst studiert zu haben; sie mehr studiert zu haben als zwanzig, die sie ausüben. Auch habe ich sie so weit ausgeübt, als es nötig ist, um mitsprechen zu dürfen: denn ich weiß wohl, so wie der Maler sich von niemanden gern tadeln läßt, der den Pinsel ganz und gar nicht zu führen weiß, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was er bewerkstelligen muß, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen vermag, doch urteilen, ob es sich machen läßt. Ich verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmaßt, der, wenn er nicht dem oder jenem Ausländer nachplaudern gelernt hätte, stummer sein würde, als ein Fisch.« –
Nachdem er davon geredet hat, wie er gestrebt habe, den Wahn der deutschen Dichter, den Franzosen nachahmen heiße so viel, als nach den Regeln der Alten arbeiten, zu bestreiten, fügt er hinzu (S. 388):
»Ich wage es, hier eine Äußerung zu tun, man mag sie doch nehmen, wofür man will: Man nenne mir das Stück des großen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette?«
»Doch nein; ich wollte nicht gern, daß man diese Äußerung für Prahlerei nehmen könne. Man merke also wohl, was ich hinzusetze: Ich werde es zuverlässig besser machen, – und doch lange kein Corneille sein, – und doch lange noch kein Meisterstück gemacht haben. Ich werde es zuverlässig besser machen; und mir doch wenig darauf einbilden dürfen. Ich werde nichts getan haben, als was jeder tun kann, der so fest an den Aristoteles glaubt, wie ich.«
Zugegeben daß Lessing so über seine Poesie dachte, wie er sich äußert: ist es ausgemacht, könnte man einwenden, daß er sich selbst gekannt habe?
Ganz und im strengsten Sinn kennt niemand sich selbst. Von dem Standpunkt der gegenwärtigen Bildungsstufe reflektiert man über die zunächst vorhergegangne, und ahnet die kommende: aber den Boden, auf dem man steht, sieht man nicht. Von einer Seite hat man die Aussicht auf ein paar angrenzende: aber die entgegengesetzte Scheibe des beseelten Planeten bleibt immer verdeckt. Mehr ist dem Menschen nicht gegönnt. Wenn aber das Maß der Selbstkenntnis durch das Maß der Genialität, der Vielseitigkeit, und der Ausbildung bestimmt wird: so wage ichs zu behaupten, daß Lessing, obgleich er nicht fähig gewesen wäre, sich selbst zu charakterisieren, sich doch in einem vorzüglichen Grade selbst kannte, und grade kein Departement seines Geistes so gut kannte, als seine Poesie. Seine Poesie verstand er durch seine Kritik, die ebenso alt und mit jener schwesterlich aufgewachsen war. Um seine Kritik so zu verstehen, hätte er früher philosophieren, oder später kritisieren müssen. Für die Philosophie war seine Anlage zu groß und zu weit, als daß sie je hätte reif werden können; wenigstens hätte er das höchste Alter erreichen müssen, um nur einigermaßen zum Bewußtsein derselben zu gelangen. Vielleicht hätte er aber auch noch außerdem etwas haben müssen, was ihm ganz fehlte, nämlich historischen Geist, um aus seiner Philosophie klug werden zu können, und sich seiner Ironie und seines Zynismus bewußt zu werden: denn niemand kennt sich, insofern er nur er selbst und nicht auch zugleich ein andrer ist. Je mehr Vielseitigkeit also, desto mehr Selbstkenntnis; und je genialischer, desto konsequenter, bestimmter, abgeschnittner und entschiedner in seinen Schranken.
Die Anwendung auf Lessing macht sich von selbst. Und in keinem Fach hatte Lessing soviel Erfahrung, Gelehrsamkeit, Studium, Übung, Anstrengung, Ausbildung jeder Art, als grade in der Poesie. Keins seiner Werke reicht in Rücksicht auf künstlerischen Fleiß und Feile an »Emilia Galotti«, wenn auch andre mehr Reife des Geistes verraten sollten. Überhaupt sind wohl wenige Werke mit diesem Verstande, dieser Feinheit, und dieser Sorgfalt ausgearbeitet. In diesem Punkte, und in Rücksicht auf jede andre formelle Vollkommenheit des konventionellen Drama muß »Nathan« weit nachstehn, wo selbst die mäßigsten Forderungen an Konsequenz der Charaktere und Zusammenhang der Begebenheiten oft genug beleidigt und getäuscht werden.
In »Emilia Galotti« sind die dargestellten Gegenstände überdem am entferntesten von Lessings eignem Selbst; es zeigt sich kein unkünstlerischer Zweck, keine Nebenrücksicht, die eigentlich Hauptsache wäre. Wichtige Umstände bei Lessing, dessen roheste dramatische Jugendversuche schon fast immer eine ganz bestimmte philosophisch-polemische Tendenz haben; der nach Mendelssohns Bemerkung zu den Portraitdichtern gehört, denen ein Charakter umso glücklicher gelingt, je ähnlicher er ihrem Selbst ist, von dem sie nur einige Variationen zu Lieblingscharakteren von entschiedner auffallender Familienähnlichkeit ausbilden können.
»Emilia Galotti« ist daher das eigentliche Hauptwerk, wenn es darauf ankömmt zu bestimmen, was Lessing in der poetischen Kunst gewesen, wie weit er darin gekommen sei. Und was ist denn nun diese bewunderte und gewiß bewundrungswürdige »Emilia Galotti«? Unstreitig ein großes Exempel der dramatischen Algebra. Man muß es bewundern dieses in Schweiß und Pein produzierte Meisterstück des reinen Verstandes; man muß es frierend bewundern, und bewundernd frieren; denn ins Gemüt dringts nicht und kanns nicht dringen, weil es nicht aus dem Gemüt gekommen ist. Es ist in der Tat unendlich viel Verstand darin, nämlich prosaischer, ja sogar Geist und Witz. Gräbt man aber tiefer, so zerreißt und streitet alles, was auf der Oberfläche so vernünftig zusammenzuhängen schien. Es fehlt doch an jenem poetischen Verstande, der sich in einem Guarini, Gozzi, Shakespeare so groß zeigt. In den genialischen Werken des von diesem poetischen Verstande geleiteten Instinkts, enthüllt alles, was beim ersten Blick so wahr aber auch so inkonsequent und eigensinnig, wie die Natur selbst auffällt, bei gründlicherem Forschen stets innigere Harmonie und tiefere Notwendigkeit. Nicht so bei Lessing! Manches in der »Emilia Galotti« hat sogar den Bewunderern Zweifel abgedrungen, die Lessing nicht beantworten zu können gestand. Aber wer mag ins Einzelne gehn, wenn er mit dem Ganzen anzubinden Lust hat, und beinah nichts ohne Anmerkung vorbeigehn lassen könnte? Doch hat dieses Werk nicht seines gleichen, und ist einzig in seiner Art. Ich möchte es eine prosaische Tragödie nennen. Sonderbar aber nicht eben interessant ists, wie die Charaktere zwischen Allgemeinheit und Individualität in der Mitte schweben!
Kann ein Künstler wohl kälter und liebloser von seinem vollendetsten und künstlichsten Werke reden, als Lessing bei Übersendung dieser kalten »Emilia« an seinen Freund? »Man muß,« sagt er, »wenigstens über seine Arbeiten mit jemand sprechen können, wenn man nicht selbst darüber einschlafen soll. Die bloße Versicherung, welche die eigne Kritik uns gewährt, daß man auf dem rechten Wege ist und bleibt, wenn sie auch noch so überzeugend wäre, ist doch so kalt und unfruchtbar, daß sie auf die Ausarbeitung keinen Einfluß hat.« (T. XXX, S. 167.) Und bald darauf gar: »Ich danke Gott, daß ich den ganzen Plunder nach und nach wieder aus den Gedanken verliere.« (T. XXVII, S. 341.)
Mit welchem gehaltnen Enthusiasmus, und in jeder Rücksicht wie ganz anders redet er dagegen vom »Nathan«! zum Beispiel in folgender Stelle: »Wenn man sagen wird, daß ein Stück von so eigner Tendenz nicht reich genug an eignen Schönheiten sei: so werde ich schweigen, aber mich nicht schämen. Ich bin mir eines Ziels bewußt, unter dem man auch noch viel weiter mit allen Ehren bleiben kann. – Noch kenne ich keinen Ort in Deutschland, wo dieses Stück schon jetzt aufgeführt werden könnte. Aber Heil und Glück dem wo es zuerst aufgeführt wird.« . (Leb T. I, S. 420.) Ebenso auch in einigen andern Stellen, die wegen dessen, was sie über den polemischen Ursprung und die philosophische Tendenz des Stücks enthalten, sogleich angeführt werden sollen.
»Nathan« kam aber freilich aus dem Gemüt, und dringt wieder hinein; er ist vom schwebenden Geist Gottes unverkennbar durchglüht und überhaucht. Nur scheint es schwer, ja fast unmöglich, das sonderbare Werk zu rubrizieren und unter Dach und Fach zu bringen. Wenn man auch mit einigem Recht sagen könnte, es sei der Gipfel von Lessings poetischem Genie, wie »Emilia« seiner poetischen Kunst; wie denn allerdings im »Nathan« alle dichterischen Funken, die Lessing hatte, – nach seiner eigenen Meinung waren es nicht viele (T. XXVII, S. 43) – am dichtesten und hellsten leuchten und sprühen: so hat doch die Philosophie wenigstens gleiches Recht, sich das Werk zu vindizieren, welches für eine Charakteristik des ganzen Mannes, eigentlich das klassische ist, indem es Lessings Individualität aufs tiefste und vollständigste, und doch mit vollendeter Popularität darstellt. Wer den »Nathan« recht versteht, kennt Lessing.
Dennoch muß er immer noch mit den Jugendversuchen und den übrigen prosaischen Kunstdramen Lessings in Reih und Glied aufmarschieren, ungeachtet der Künstler selbst, wie man sieht, die eigene Tendenz des Werks, und auch seine Unzweckmäßigkeit für die Bühne, die doch bei allen übrigen Dramen sein Ziel war, so klar eingesehen und gesagt hat.
Mehr besorgt um den Namen als um den Mann, und um die Registrierung der Werke als um den Geist, hat man die nicht minder komischen als didaktischen Fragen aufgeworfen: ob »Nathan« wohl zur didaktischen Dichtart gehöre, oder zur komischen, oder zu welcher andern; und was er noch haben oder nicht haben müßte, um dies und jenes zu sein oder nicht zu sein. Dergleichen Problemata sind von ähnlichem Interesse, wie die lehrreiche Untersuchung, was wohl geschehen sein würde, wenn Alexander gegen die Römer Krieg geführt hätte. »Nathan« ist, wie mich dünkt, ein Lessingisches Gedicht; es ist Lessings Lessing, das Werk schlechthin unter seinen Werken in dem vorhin bestimmten Sinne; es ist die Fortsetzung vom Anti-Götze, Numero Zwölf. Es ist unstreitig das eigenste, eigensinnigste und sonderbarste unter allen Lessingischen Produkten. Zwar sind sie fast alle, jedes ein ganz eignes Werk für sich, und wollen durchaus mit der Sinnesart aufgenommen, beobachtet und beurteilt werden, welche in Saladins Worten so schön ausgedrückt ist:
– Als Christ, als Muselmann: gleichviel!
Im weißen Mantel oder Jamerlonk;
Im Turban, oder deinem Filze: wie
Du willst! Gleichviel! Ich habe nie verlangt,
Daß allen Bäumen Eine Rinde wachse.
Aber für keines ist dem Empfänger der Geist dieses erhabenen Gleichviel so durchaus notwendig, wie für »Nathan«.
»In den Lehrbüchern,« sagt Lessing (T. XXV, S. 385) »sondre man die Gattungen so genau ab, als möglich: aber wenn ein Genie höherer Absichten wegen, mehre derselben in einem und demselben Werke zusammenfließen läßt, so vergesse man das Lehrbuch, und untersuche bloß, ob es diese Absichten erreicht hat.«
Über diese Absichten und die merkwürdige Entstehung dieses vom Enthusiasmus der reinen Vernunft erzeugten und beseelten Gedichts, finden sich glücklicherweise in Lessings Briefen einige sehr interessante und wirklich klassische Stellen. Man darf wohl sagen: wenn kein Werk so eigen ist, so ist auch keins so eigen entstanden.
Man konnte es Lessing natürlich nicht verzeihen, daß er in der Theologie bis zur Eleganz, und im Christianismus sogar bis zur Ironie gekommen war. Man verstand ihn nicht, also haßte, verleumdete und verfolgte man ihn aufs ärgste. Dabei hatte er nun vollends die Schwäche, jedes ungedruckte Buch, welches ihm ein Mittel zur Vervollkommung des menschlichen Geistes werden zu können schien, als ein heiliges Eigentum der Menschheit zu ehren, und wenn ihm der arme Fündling gar den Finger gedrückt hatte, sich seiner mit Zärtlichkeit, ja mit Schwärmerei anzunehmen. Man weiß es sattsam, wie die »Fragmente« auf die Masse der Theologen gewirkt, und auf den isolierten Herausgeber zurückgewirkt haben!
In der höchsten Krise dieser Gärung schreibt er am 11. August des Jahres 1778: »Da habe ich diese Nacht einen närrischen Einfall gehabt. Ich habe vor vielen Jahren einmal ein Schauspiel entworfen, dessen Inhalt eine Art Analogie mit meinen gegenwärtigen Streitigkeiten hat, die ich mir damals wohl nicht träumen ließ. – Ich glaube, daß sich alles sehr gut soll lesen lassen, und ich gewiß den Theologen einen ärgern Possen damit spielen will, als noch mit zehn Fragmenten.« (T. XXX, S. 454, 455.)
Die Idee des »Nathan« stand also mit einem Male ganz vor seinem Geiste. Alle seine andern genialischen Werke wuchsen ihm erst unter der Hand, bildeten sich während der Arbeit; erst dann zeigte sich weit von der ersten Veranlassung, was ihm das Liebste und an sich das Interessanteste war, und nun Hauptsache wurde.
»Mein »Nathan«, sagt er (T. XXX, S. 471, 472) ist ein Stück, welches ich schon vor drei Jahren vollends aufs reine bringen und drucken lassen wollte. Ich habe es jetzt nur wieder vorgenommen, weil mir auf einmal beifiel, daß ich, nach einigen kleinen Veränderungen des Plans, dem Feinde auf einer andern Seite damit in die Flanke fallen könne. – Mein Stück hat mit den jetzigen Schwarzröcken nichts zu tun; und ich will ihm den Weg nicht selbst verhauen, endlich doch einmal aufs Theater zu kommen, wenn es auch erst nach hundert Jahren wäre. Die Theologen aller geoffenbarten Religionen werden freilich innerlich darauf schimpfen; doch dawider sich öffentlich zu erklären, werden sie wohl bleiben lassen.« (S. 473.)
Ein aufmerksamer Beobachter der bücherschreibenden Offenbarungsschwärmerei wird die letzte Äußerung prophetisch finden können: was aber die Beziehung des Stücks auf das damals Jetzige betrifft, so fehlt doch dem Patriarchen eigentlich nur eine beigedruckte kleine Hand mit gerecktem Zeigefinger, um eine Persönlichkeit zu sein, wie auch schon die bürleske Karikatur des Charakters andeutet; und an einem andern Orte nennt er selbst das Ganze geradezu einen dramatischen Absprung der theologischen Streitigkeiten, die damals bei ihm an der Tagesordnung standen, und seine eigene Sache schlechthin, geworden waren. (S. 464.)
Können Verse ein Werk, welches einen so ganz unpoetischen Zweck hat, etwa zum Gedichte machen; und noch dazu solche Verse? – Man höre wie Lessing darüber spricht: »Ich habe wirklich die Verse nicht des Wohllauts wegen gewählt« – (eine Bemerkung, auf die mancher vielleicht auch ohne diesen Wink hätte fallen können) – »sondern weil ich glaubte, daß der orientalische Ton, den ich doch hie und da angeben müssen, in der Prose zu sehr auffallen würde. Auch erlaube, meinte ich, der Vers immer einen Absprung eher, wie ich ihn jetzt zu meiner anderweitigen Absicht bei aller Gelegenheit ergreifen muß.« (T. XXVII, S. 46.)
Man kanns nicht offner und unzweideutiger sagen, wie es mit der dramatischen Form des »Nathan« stehe, als es Lessing selbst gesagt hat. Mit liberaler Nachlässigkeit, wie Alhafis Kittel oder des Tempelherrn halb verbrannter Mantel, ist sie dem Geist und Wesen des Werks übergeworfen, und muß sich nach diesem biegen und schmiegen. Von einzelnen Inkonsequenzen und von der Subordination der Handlung, ihrer steigenden Entwicklung und ihres notwendigen Zusammenhanges, ja selbst der Charaktere ists unnötig viel zu sagen. Die Darstellung überhaupt ist weit hingeworfner, wie in »Emilia Galotti«. Daher treten die natürlichen Fehler der Lessingschen Dramen stärker hervor, und behaupten ihre alten schon verlornen Rechte wieder. Wenn die Charaktere auch lebendiger gezeichnet und wärmer koloriert sind, wie in irgend einem andern seiner Dramen: so haben sie dagegen mehr von der Affektation der manierierten Darstellung, welche in »Minna von Barnhelm«, wo die Charaktere zuerst anfangen, merklich zu Lessingisieren, Nachdruck und Manier zu bekommen, und eigentlich charakteristisch zu werden, am meisten herrscht, in »Emilia Galotti« hingegen schon weggeschliffen ist. Selbst Alhafi ist nicht ohne Prätension dargestellt; welche ihm freilich recht gut steht, denn ein Bettler muß Prätensionen haben, sonst ist er ein Lump, dem Künstler doch aber nicht nachgesehn werden kann. Und dann ist das Werk so auffallend ungleich, wie sonst kein Lessingsches Drama. Die dramatische Form ist nur Vehikel; und Recha, Sitta, Daja, sind wohl eigentlich nur Staffelei: denn wie ungalant Lessing dachte, das übersteigt alle Begriffe.
Der durchgängig zynisierende Ausdruck hat sehr wenig vom orientalischen Ton, ist wohl nur mit die beste Prosa, welche Lessing geschrieben hat, und fällt sehr oft aus dem Kostüm heroischer Personen. Ich tadle das gar nicht: ich sage nur, so ists; vielleicht ists ganz recht so. Nur wenn »Nathan« weiter nichts wäre, als ein großes dramatisches Kunstwerk, so würde ich Verse wie den:
»Noch bin ich völlig auf dem trocknen nicht;«
im Munde der Fürstin bei der edelsten Stimmung und im rührendsten Verhältnis schlechthin fehlerhaft, ja recht sehr lächerlich finden.
Die hohe philosophische Würde des Stücks hat Lessing selbst ungemein schön mit der theatralischen Effektlosigkeit oder Effektwidrigkeit desselben kontrastiert; mit dem seinem Ton eignen pikanten Gemisch von ruhiger inniger tiefer Begeisterung und naiver Kälte. »Es kann wohl sein,« sagt er (T. XXX, S. 505, 506), »daß mein »Nathan« im ganzen wenig Wirkung tun würde, wenn er auf das Theater käme, welches wohl nie geschehen wird. Genug, wenn er sich mit Interesse nur lieset, und unter tausend Lesern nur Einer daraus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt.«
Natürlich hat sich denn auch die logische Zunft das ekzentrische Werk, (welches seine außerordentlich große Popularität, die ein Vorurteil dagegen erregen könnte, wohl nur seiner polemischen und rhetorischen Gewalt verdankt, und dem Umstande, daß es den allgemeinen Horizont nie zu überschreiten scheint, wie auch dem, daß doch sehr viele ein wenig Sinn haben für Lessing, wenn auch sehr wenige viel) eben sowohl zuzueignen gesucht, wie die poetische; und sicher nicht mit minderm Rechte.
Der eine Meister der Weltweisheit meint, »Nathan« sei ein Panegyrikus auf die Vorsehung, gleichsam eine dramatisierte Theodizee der Religionsgeschichte. Zu geschweigen, wie sehr es Lessings strengem Sinn für das rein Unendliche widerspricht, den Rechtsbegriff auf die Gottheit anzuwenden: so ist dies auch äußerst allgemein, unbestimmt und nichtssagend. Ein andrer Virtuose der Dialektik hat dagegen gemeint: Die Absicht des »Nathan« sei, den Geist aller Offenbarung verdächtig zu machen, und jedes System von Religion, ohne Unterschied, als System, in einem gehässigen Lichte darzustellen. Der Theismus, sobald er System, sobald er förmlich werde, sei davon nicht ausgeschlossen. – Allein auch diese Erklärung würde, wenn man sie aus ihrem polemischen Zusammenhang reißen und einen dogmatischen Gebrauch davon machen wollte, den Fehler haben, daß sie das Werk, welches eine Unendlichkeit umfaßt, auf eine einzige allzubestimmte und am Ende ziemlich triviale Tendenz beschränken würde.
Man sollte überhaupt die Idee aufgeben, den »Nathan« auf irgendeine Art von Einheit bringen, oder ihn in eine der vom Gesetz und Herkommen geheiligten Fakultäten des menschlichen Geistes einzäunen und einzunften zu können: denn bei der gewaltsamen Reduktion und Einverleibung möchte doch wohl immer mehr verloren gehn, als die ganze Einheit wert ist. Was hilfts auch, wenn sich auch alles, was »Nathan« doch gar nicht bloß beweisen, sondern lebendig mitteilen soll, denn das Wichtigste und Beste darin reicht doch weit über das, was der trockne Beweis allein vermag, mit mathematischer Präzision in eine logische Formel zusammenfassen ließe? »Nathan« würde seine Stelle nichts destoweniger auf dem gemeinschaftlichen Raine der Poesie und Moral (T. XVIII, S. 5) behalten, wo sich Lessing früh gefiel, und auf dem er schon in den »Fabeln« spielte, die als Vorübung zu Nathans Märchen von den drei Ringen, welches vollendet hingeworfen, bis ins Mark entzückend trifft, immer wieder überrascht, und wohl so groß ist, als ein menschlicher Geist irgendetwas machen kann, Achtung verdienen und beinah Studien genannt zu werden verdienen, weil sie zwar nicht die Kunst, aber doch den Künstler weiter brachten, wenn auch weit über seine anfängliche Absicht und Einsicht. Es lebt und schwebt doch ein gewisses heiliges Etwas im »Nathan«, wogegen alle syllogistischen Figuren, wie alle Reguln der dramatischen Dichtkunst, eine wahre Lumperei sind. Ein philosophisches Resultat oder eine philosophische Tendenz machen ein Werk noch nicht zum Philosophem: ebensowenig wie dramatische Form und Erdichtung es zum Poem machen. Ist »Ernst und Falk« nicht dramatischer wie manche der besten Szenen im »Nathan«? Und die »Parabel« an Götze über die Wirkung der »Fragmente« ist gewiß eine sehr genialische Erdichtung, deren Zweck und Geist aber dennoch so unpoetisch, oder wie man jetzt in Deutschland sagt, so unästhetisch wie möglich ist.
Muß ein Werk nicht die Unsterblichkeit verdienen oder vielmehr schon haben, welches von allen bewundert und geliebt, von jedem aber anders genommen und erklärt wird? Doch bleibts sehr wunderbar, oder wie mans nehmen will, auch ganz und gar nicht wunderbar, daß bei dieser großen Verschiedenheit von Ansichten, bei dieser Menge von mehr charakteristischen als charakterisierenden Urteilsübungen, noch niemand auf den Einfall oder auf die Bemerkung geraten ist, daß »Nathan« beim Lichte betrachtet zwei Hauptsachen enthält, und also eigentlich aus zwei Werken zusammengewachsen ist. Das erste ist freilich Polemik gegen alle illiberale Theologie, und in dieser Beziehung nicht ohne manchen tieftreffenden Seitenstich auf den Christianismus, dem Lessing zwar weit mehr Gerechtigkeit widerfahren ließ, als alle Orthodoxen zusammengenommen, aber doch noch lange nicht genug: weil sich im Christianismus theologische Illiberalität, wie theologische Liberalität, alles Gute und alles Schlechte dieses Fachs am kräftigsten, mannichfachsten und feinsten ausgebildet hat; ferner Polemik gegen alle Unnatur, kindische Künstelei, und durch Mißbildung in sich oder in andern erzeugte Dummheit und alberne Schnörkel im Verhältnisse des Menschen zu Gott: das alles mußte Lessings geistreiche Natürlichkeit tief empören, und die Patriarchen hatten seinen Abscheu noch zu erhöhen, seinen Ekel zu reizen gewußt. Aber nicht einmal die Religionslehre im »Nathan« ist rein skeptisch, polemisch, bloß negativ, wie Jacobi in der angeführten Stelle behaupten zu wollen scheinen könnte. Es wird im »Nathan« eine, wenn auch nicht förmliche, doch ganz bestimmte Religionsart, die freilich voll Adel, Einfalt und Freiheit ist, als Ideal ganz entschieden und positiv aufgestellt; welches immer eine rhetorische Einseitigkeit bleibt, sobald es mit Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit verbunden ist; und ich weiß nicht, ob man Lessing von dem Vorurteil einer objektiven und herrschenden Religion ganz freisprechen darf, und ob er den großen Satz seiner Philosophie des Christianismus, daß für jede Bildungsstufe der ganzen Menschheit eine eigene Religion gehöre, auch auf Individuen angewandt und ausgedehnt, und die Notwendigkeit unendlich vieler Religionen eingesehen hat. Aber ist nicht noch etwas ganz anders im »Nathan«, auch etwas Philosophisches, von jener Religionslehre, an die man sich allein gehalten hat, aber noch ganz Verschiednes, was zwar stark damit zusammenhängt, aber doch auch wieder ganz weit davon liegt, und vollkommen für sich bestehn kann? Dahin zielen vielleicht so manche Dinge, die gar nicht bloß als zufällige Beilage und Umgebung erscheinen, dabei von der polemischen Veranlassung und Tendenz am entferntesten, und doch so gewaltig akzentuiert sind, wie der Derwisch, der so fest auftritt, und Nathans Geschichte vom Verlust der sieben Söhne und von Rechas Adoption, die jedem, der welche hat, in die Eingeweide greift. Was anders regt sich hier, als sittliche Begeisterung für die sittliche Kraft und die sittliche Einfalt der biedern Natur? Wie liebenswürdig und glänzend erscheint nicht selbst des Klosterbruders (der wenigstens mitunter aktiv und Mit-Hauptperson wird, dahingegen der Tempelherr so oft nur passiv, und bloß Sache ist) fromme Einfalt, deren rohes Gold sich mit den Schlacken des künstlichen Aberglaubens nicht vermischen kann? Was tuts dagegen, daß der gute Klosterbruder einigemal stark aus dem Charakter fällt? Es folgt daraus bloß, daß die dramatische Form für das, was »Nathan« ist und sein soll, ihre sehr große Inkonvenienzen haben mag, obgleich sie Lessingen sehr natürlich, ja notwendig war. »Nathan der Weise«, ist nicht bloß die Fortsetzung des »Anti-Götze« Numero Zwölf: er ist auch und ist ebenso sehr ein dramatisiertes Elementarbuch des höheren Zynismus. Der Ton des Ganzen, und Alhafi, das versteht sich von selbst; Nathan ist ein reicher Zyniker von Adel; Saladin nicht minder. Die Sultanschaft wäre keine tüchtige Einwendung: selbst Julius Cäsar war ja ein Veteran des Zynismus im großen Styl; und ist die Sultanschaft nicht eigentlich eine recht zynische Profession, wie die Möncherei, das Rittertum, gewissermaßen auch der Handel, und jedes Verhältnis, wo die künstelnde Unnatur ihren Gipfel erreicht, eben dadurch sich selbst überspringt, und den Weg zur Rückkehr nach unbedingter Natur-Freiheit wieder öffnet? Und ferner: Alhafis derber Lehrsatz:
»Wer
Sich Knall und Fall ihm selbst zu leben, nicht
Entschließen kann, der lebet andrer Sklav
Auf immer;«
und Nathans goldnes Wort:
»Der wahre Bettler ist
Doch einzig und allein der wahre König!« –
stehn sie etwa bloß da, wo sie stehn? Oder spricht nicht ihr Geist und Sinn überall im ganzen Werke zu jedem, der sie vernehmen will? Und sind dieses nicht die alten heiligen Grundfesten des selbständigen Lebens? Nämlich für den Weisen heilig und alt, für den Pöbel an Gesinnung und Denkart aber ewig neu und töricht.
So paradox endigte Lessing auch in der Poesie, wie überall! Das erreichte Ziel erklärt und rechtfertigt die ekzentrische Laufbahn; »Nathan der Weise« ist die beste Apologie der gesamten Lessingschen Poesie, die ohne ihn doch nur eine falsche Tendenz scheinen müßte, wo die angewandte Effektpoesie der rhetorischen Bühnendramas mit der reinen Poesie dramatischer Kunstwerke ungeschickt verwirrt, und dadurch das Fortkommen bis zur Unmöglichkeit unnütz erschwert sei.
Ganz klein und leise fing Lessing wie überall so auch in der Poesie an, wuchs dann gleich einer Lawine; erst unscheinbar, zuletzt aber gigantisch.
Weiterführend →
KUNO hat ein Faible für die frei drehende Phantasie. Wir begreifen die Gattung des Essays als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auch ein Essay handelt ausschliesslich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit. Wir betrachten Michel de Montaigne als einen Blogger aus dem 16. Jahrhundert. Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommentierung der Weltlage zur Dauerbeschäftigung erhob. Seine Zeitschrift „Die Fackel“ war gewissermaßen der erste Kultur-Blog. Die Redaktion nimmt Rosa Luxemburg beim Wort und versucht in diesem Online-Magazin auch überkommene journalistische Formen neu zu denken. Enrik Lauer zieht die Dusche dem Wannenbad vor. Warum erstere im Spätkapitalismus – zum Beispiel als Zeit und Ressourcen sparend – zweiteres als Form der Körperreinigung weitgehend verdrängt hat, ist einer eigenen Betrachtung wert. Ulrich Bergmann setzte sich mit den Wachowski-Brüdern und der Matrix auseinander. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein weitere Betrachtungen von J.C. Albers. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.
Im Blick auf den Geistreichtum eines guten Essays kann man den Essay als den großen Bruder der Twitteratur auffassen.