Das Nippversum, ein Seitenarm der Guternberggalaxis

Herr Nipp, ein entfernter Verwandter von Herrn Keuner und Herrn Karl.

Seit 1994 betreibt Herr Nipp auf KUNO das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion. Bereit die erste Geschichte von Herrn Nipp zeigt eine melancholischen, zum Selbstmitleid neigenden Kauz. Auf den ersten Blick lässt sich Herr Nipp als typischer Sauerländer, katholisch und freiheitsliebend, als ewiger Raunzer charakterisieren. Als repräsentativer Kleingartenbürger verkörpert er die vox populi. Äußerlich erscheint Herr Nipp als netter, ehrlicher, aber naiver Kerl mit liebem Blick, doch nach und nach erfährt der Leser, was sich hinter der Fassade der Gemütlichkeit verbirgt. Auf KUNO meldete er sich ein bis zweimal monatlich etwas neurotisch, aber höchst empfindsam zu Wort, und agiert als biederer Alltags-Protagonist durch schluffige short – manchmal auch very short – stories. Die Realität funktioniert im Sauerland als Eldorado der Fiktionen, das ursprüngliche Sprachverständnis schwankt zwischen den Stadtteilen Neheim und Hüsten zwischen Leichtgläubigkeit und Argwohn. Seine kurzweiligen und zuweilen ironischen bis zynischen Kommentare zum Erleben der Welt nutzt der Autor und Künstler  normalerweise auf der Internetseite von Herrn Nipp, um Lücken zwischen den Geschichten und Gedichten zu schließen, welche dort regelmäßig veröffentlicht werden. Die argwöhnische Haltung von Herrn Nipp belegt, daß Misstrauen und Spottlust ein Zeichen von solider Gesundheit sind. Als Westfale kommt Herr Nipp gern von Hölzchen aufs Stöckchen und glosiert mitunter entlarvend unsere zivilisatorischen Errungenschaften.

Erzählen ist etwas anderes als Information.

Alexander Kluge

Zwischen 1994 und 2019 begleitete uns Herr Nipp mit unerhörten Geschichten. Wie lesen im KUNO-Archiv glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das auf ein Geschehen verweist einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten verweist. Herr Nipp geht offenen Auges durch die Welt. Sein Sehen, Besehen und Beobachten ist der Ausgangs- und Angelpunkt. Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er in Kooperation mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. Und dies auch im Buchformat. Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich unterdessen die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne (2011) entwickelt. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.

Wir haben die Kunst, damit wir an der Wahrheit nicht zugrunde gehen.

Friedrich Nietzsche

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts muß man keinen Falken mehr verzehren, um novellistisch tätig zu sein. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist Mikroblogging eine auflebende Form. Herr Nipp dampft die Gattung der Novellette in Unerhörte Möglichkeiten (2012) zu Twitteratur ein. Alle Forderungen der Literaturwissenschaft werden in wenigen Wörtern eingehalten: Zentraler Konflikt, Leitmotiv oder Dingsymbol, straffe und vorwiegend einlinige Handlungsführung, das pointierte Hervortreten eines Höhe- und Wendepunktes, stark raffender Handlungsbericht, besondere Vorausdeutungs – oder Integrationstechniken, Zurücktreten ausführlicher Schilderungen äußerer Umstände oder psychischer Zustände, hohes Maß an Objektivität, doch trotzdem subjektive Erzählhaltung usw. (siehe Metzler Literatur Lexikon, 1984. Seite 308ff).

Bücher sind eine ´Ware`, die kein Mindesthaltbarkeitsdatum tragen.

Haimo Hieronymus präsentierte 2017 Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Wir finden in diesem Buch sprachliche Floskeln, die noch nicht etabliert sind, unverzeihliche Versprecher und Ausrutscher, die zu sprachlichen Kollateralschäden führen. Der Gang durch diese Notizen und zurück zu frühe Spracherfahrungen ist ein Abenteuer im Online-Archiv von KUNO. Es geht ihm um eine Natürlichkeit des Blicks, die sich nicht einer Grammatik unterzuordnen hat. Der Leser folgt den Bedeutungen der Wörter und reimt sich daraus eine Geschichte zusammen. Herr Nipp wäre fast in einer Vielzahl von intertextuellen Verweisungsbezügen verschwunden, dem „Verschwinden des Autors“ sieht sein Co-Autor jedoch gelassen entgegen. Neben dieser Twitteratur finden sich in schlüssiger Abfolge einige Zeichnungen und Aquarelle abgebildet.

Mit Herrn Nipp zu einer tieferen Unschlüssigkeit vorstoßen.

Nach allen Beobachtungen, die er seit 25 Jahren gemacht hat, sieht er, daß immer wieder die gleichen Prinzipien funktionieren. Zwischen Dichtung und Wahrheit und zwischen zwischen Fakt und Fiktion treffen wir bei Herrn Nipp auf die Fiktionalität der scheinbar nichtfiktionalen Texte. Der Sauerländer macht sich in seinem Notizbuch tiefschürfende Gedanken und schreibt auf, was sich als geballte Informationen herausstellen sollte. Seine short – manchmal auch very short – stories geben nicht das Sichtbare wieder, sie machen sichtbar und zeigen die Oxymora seines Schreibens: Ein Aperçu erhält Rahmen und Inhalt durch das, was in seiner Twitteratur vergessen gemacht wird, und so weiter und so fort…

Ein Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von grossen und kleinen Wurzeln. Zwiebel- und Knollengewächse sind Rhizome. Pflanzen mit grossen und kleinen Wurzeln können in ganz anderer Hinsicht rhizomorph sein und man könnte sich fragen ob das Spezifische der Botanik nicht gerade das Rhizomorphe ist… Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen.

(Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus)

In ihrer aktuellen Kollaboration verbinden Stephanie Neuhaus und Haimo Hieronymus Fotographien aus der Natur und aktuelle Märchen. Dabei stehen in Neuhaus‘ Bildern die Pilze im Fokus. Aus sehr persönlichen Perspektiven fotografiert, wirken die organischen Gebilde wie aus der Zeit gefallen. Was wir als Pilze wahrnehmen, ist eigentlich vergleichbar mit Geschlechtsorganen, der eigentliche Pilz, das Hyphengeflecht, bleibt meistens unsichtbar, vor allem unfassbar. Um so erstaunlicher die Formenvielfalt allerorten. Pilze zerstören und ernähren, sie leben in Symbiose oder parsitär, sie erzeugen Gifte und Heilmittel und immer wirken sie uns irgendwie fremd. Keine Pflanze. Kein Tier. Heimlich und prächtig. Intelligent und unerbittlich. Ähnlich dem Myzel der Pilze verhält es sich mit Märchen. Sie ernähren sich aus Hoffnungen und Ängsten, aus überbordenem Leben und stumpfem Tod der Menschen. Sie sind nie hundertprozentig fassbar und wenn jemand glaubt, er habe sie wirklich verstanden, tauchen sie unerwartet in neuem Gewand auf.

Vielleicht ist dieses digitale Zeitalter der optimale Nährboden für ein neues Erzählen.

Herr Nipp verändert die Perspektive auf die Figuren und entdeckt neue Facetten und gelogene Wahrheiten. Es handelt sich bei diesen Flunkereien – oder sollte man besser von Märchenparodien schreiben? – um sorgfältig komponierte Miniaturen, funkelnde Prosastückchen, oft mit einer Pointe oder einer Gedankenbewegung, die gelegentlich auch eine autobiografische Erfahrung aus den finsteren Wäldern des Sauerlands aufgreift. Bitter und böse, verstörend manchmal, doch immer aktuell. Er findet hiermit sozusagen eine mögliche Quintessenz unserer Zeit.

In Deutschland bildet das […] Kleinbürgertum die eigentliche Grundlage der bestehenden Zustände.

Karl Marx 1848

Der Spießer ist fast aus dem Duden gefallen. Zeit für eine Rehabilitation. Die abschätzige Bezeichnung „Spießer“ geht auf die im Mittelalter in der Stadt wohnenden Bürger zurück, die ihre Heimatstadt mit dem Spieß als Waffe verteidigten. Soziologisch unterschieden Spießbürger sich von den in der Vorstadt wohnenden Pfahlbürgern, sie gehörten jedoch innerhalb der Stadtgesellschaft zu den eher ärmeren Bürgern, da sie bei den städtischen Fußtruppen ihren Dienst taten, während wohlhabendere Bürger dafür Söldner bezahlen konnten. Der Spieß als Waffe war schmiedetechnisch relativ günstig herzustellen und zugleich gegen die adligen Ritterheere des Hoch- und Spätmittelalters effizient einzusetzen. Er verhalf Bürgern und Bauern in den Hussitenkriegen zu großen Siegen in den Schlachten gegen die adlige Kavallerie. Durch die spätere Gleichsetzung der Begriffe Treue und Ehre wurde der Treuebruch zu einem Ehrverlust. Die Bezeichnung „Spießbürger“ war also vor den sogenannten „68“-ern positiv besetzt, da der Dienst zur Verteidigung der Heimatstadt als Ehre angesehen wurde.

Der Begriff Ehre verlor wie die Bezeichnung Spießer den traditionellen moralischen Inhalt.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts gehörte es zum guten Ton, alles als fragile Konstruktion von Sprache und Macht zu entlarven. Das ist nicht mehr so. Gerade werden in den sogenannten „sozialen Medien“ alle Relativierungen von Echtheit und Identität aufgrund einer verschwitzten Authentizität aufgegeben, (selbstverständlich nicht ohne Beweisphoto!). Herr Nipp aus Möppelheim löckt in seinen Zeitgeiststücken seit 1994 gegen den Stachel. Er untersucht, warum der Adler über Arnsberg kreist, in Hüsten die Kälber stehen, in Müschede die Eulen rufen, in Herdringen die Krähen kreisen, in Bruchhausen die Enten watscheln und sich in Voßwinkel die Füchse davongeschlichen haben. Sein Panoramablick vom Hochsitz ist gepaart mit scharfer Zeitanalyse, meditativer Betrachtung und feinfühliger Introspektion, so bringt er das Kunststück zustande, die Provinz als etwas lebenswertes darzustellen. Beim Jagen findet Herr Nipp zurück zu seinem urtümlichen Wesen. Auf der Kanzel kann er den Kreis zu seinem archaischen Dasein schließen, seinem eingebauten Beuteinstinkt nachgehen und also seine älteste Lebensform wiederentdecken. Sein Möppel wartet stets am Fuß des Hochstands. Ortega y Gasset war überzeugt, „daß das Sein des Menschen zuerst darin bestand, daß er Jäger war“. Orion, der große Jäger, ist laut der griechischen Mythologie von der Jagdgöttin Artemis in den Himmel versetzt worden.

Was für eine verteufelte Beschäftigung ist eigentlich die Jagd?

José Ortega y Gasset

In seinem Buch Guppy im Gin unternimmt Herr Nipp die teilnehmende Beobachtung seiner selbst. Ein knappes Jahr lang horchte er in sich hinein, ging dem Widerhall der Debatten in sich selbst nach. Diese Gebrauchstexte sind zu trocken, zu sprunghaft für Schwärmerei. Keine Waldweisheit, keine Mystifizierung des Waldes als höheres Wesen findet sich hier. Erdgebunden geht es dem knorrigen Sauerländer um die großen Fragen, und warum man sie einfach nicht beantworten kann. Es ist eine Form von Wirklichkeitsliteratur, die das Dichterische hinter sich gelassen hat. In seinen ebenerdigen Glossen, Zeitstückchen und seiner Twitteratur zeigt er auf, wie konstituierend das Kleinbürgertum für die Zeit nach der narzistischen Versuchung war. Der Ouerbeetdenker räumt in seinen zuweilen essayistischen Betrachtungen grundsätzlich mit dem rasenden Fortschritt auf, mit dem Glauben, daß der Mensch kraft seines Intellekts zu den Sachen selbst und so zur absoluten Wahrheit vordringen könne. Weiterleben bedeutet im Sauerland das Leben gelassen aushalten zu können. Die daraus entstehende Kraft vermag Herr Nipp zu übertragen, in Glossen, Twitteratur und sonstige literarische Selbsterkundungen. Als geduldiger Beobachter steht er stets Abseits, quasi als Spießer in Reserve. Aus der Pedanterie seiner Abschweifungen gewinnt er Medizin gegen Melancholie. Nicht mittun, Abstand halten, jede Torheit unter Vorbehalt stellen und bis an die Zähne mit Skepsis bewaffnet sein. Er hat das Luhmannʼsche Prinzip der Beobachtung höherer Ordnung in seinen Zeitgeistbetrachtungen verarbeitet. Dieser Alltagsmensch läßt sich das Heimatgefühl nicht von selbsternannten Heimatpflegern wegnehmen. Seine – wenn man so will – historische Aufgabe ist es, das Kleinbürgertum mit einem Spieß vor den Identitären und den sich selbst ernannten Reichsbürgern zu bewahren.

In meinem Film bin ich der Star.
Ich komm‘ auch nur alleine klar.

Annette Humpe

In den Geschichten vom Herrn Nipp bliebt über all die Jahre die Hauptperson selbstverständlich Herr Nipp, der Fragen von Mitmenschen gestellt bekommt oder Erklärungen abgibt. Er antwortet stets mit Weisheiten, die aus der Seele des Sauerländers stammen könnten. Herr Nipp bleibt ein kritischer Kommentator, der die Handlungen der anderen kritisch beobachtet und der Denkende, der über die Handlungen der anderen nachdenkt. Der knorzige Sauerländer zeigt dem Leser Haltungen vor und kommentiert diese Haltungen. Er kommentiert aber nicht immer nur mit Worten, sondern auch damit, dass der seine Gesprächspartner mit seinen Worten und Fragen irritiert und manchmal verwirrt. Über all die Jahr behandelten die Nipp-Geschichten Themen, die immer wiederkehren, es ist daher schwierig, eine allgemeine Interpretation zu erstellen. Vielmehr kann man die einzelnen Geschichten separat deuten und sie müssen nicht im Kontext mit anderen Geschichten gesehen werden. Für KUNO steht zu hoffen, daß diese eigenschaftslose Figur auch weiterhin als denkender Vermittler in Erscheinung tritt.

 

 

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Herr Nipp, Holzschnit von Haimo Hieronymus

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus).

→ Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421