Es sind eigenartige, immer wieder überraschende Widersprüche, die einen aufmerksamen Leser bei seiner ersten Begegnung mit den Photographien von Sebastiao Salgado auf dem Umschlag und den Eingangsseiten des Buches mit dem seltsam fremden und zugleich scheinbar vertrauten Titel fesseln. Noch betrachtet er die eisesstarrende Szenerie mit dutzenden Rentieren, die halb beladenen Schlitten, die zum Aufbruch bereiten, in Rentierfelle eingemummelten Menschen, ein bereits halb abgebautes Zelt, da überfällt ihn schon die Neugier. Weiße Rentierflechte? Auf der Seite 187 entdeckt er im kleinen-ABC des nenzischen Lebens eine Erläuterung: „… im nenzischen Mythos … ist die Rede von der weißen Rentierflechte , die an heiligen Orten im Herzen der großen Berge (Uralgebirge) als göttliche Kleidung der Herren der Berge wächst und selbst in dunkler Nacht leuchtet.“ Und schon fesseln ihn die ersten Seiten des Romans der nenzischen Schriftstellerin Anna Nerkagi. Der auf Russisch geschriebene Text ist mit zahlreichen, fett markierten Begriffen aus einer Sprache abgedruckt, die gegenwärtig von mehr als 40.000 Menschen gesprochen wird. Sie gehört der samojedischen Gruppe aus der Familie der Ural-Sprache an und ist reich versehen mit mythologischen Begriffen, die im Fließtext markiert sind. Mit solchen fundierten Hinweisen ausgestattet, vermag der Leser schnell einen Zugang zu der von Anfang an fesselnden Handlung finden. Es sei denn, er hält immer wieder inne, weil ihm schon auf den ersten Seiten eine Fülle von bizarren Begriffen begegnen, die ihn neugierig machen, ihn sehr schnell von der Textoberfläche in die rätselhaft erscheinende mythologische Lebenswelt der Nenzen locken. Da ist es ihr Wohnzelt, Tschum genannt, da werden die verschiedenen Funktionen des Schlittens erläutert, da tauchen die Protagonisten eines Handlungsgefüges auf, das sich allmählich entfaltet und in eine reale, in eine zugleich mit tiefgründigen Symbolen angereicherte mythologische Welt einführt. Petko, Aljoschka, Wanu, Chassawa, die männlichen Protagonisten verfügen über Namen, die Mütter und Töchter erweisen sich aber als namenlose Hüterinnen des Tschum. Sie bereiten folgsam das Essen für ihre Gebieter, sie säubern das Wohnwelt, sie kümmern sich sorgfältig um die Schlafecke aus Rentierfellen, sie sind tief unglücklich, wenn ihr Aljoschka sich immer wieder der gewünschten Vermählung mit der zukünftigen Braut entzieht, weil auch die nenzische Lebenswelt sich in einer zivilisatorischen Krise befindet. Die Rentierzüchter und ihre Familien spüren diese Veränderungen in ihrem Alltag sehr deutlich. Sie wehren sich gegen die gravierenden Veränderungen des polaren Klimas, sie übernehmen die mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln in Eigenregie, weil die staatlichen Versorgungsstationen oft nicht funktionieren. Noch gravierender trifft es sie, wenn ihre Kinder zuweilen aus der russischen städtischen Zivilisation unverhofft auftauchen, um von ihren meist armen Eltern mal eben zehn Rentierfelle als „Mitgift“ zu fordern.
Doch der Einbruch der russischen Zivilisation in die Jahrhunderte alte nenzische Lebenswelt ist nur ein Erzählstrang in dem vielschichtigen Plot. Weitaus reizvoller für Leser aus mitteleuropäischen Klimazonen sind die einfühlsamen Beschreibungen des Verhältnisses zwischen Tieren und Menschen, das vom Überlebenskampf geprägte Miteinander von Nenzen und Renen, die gegenseitige Rücksichtnahme, die von Ritualen erfüllte Einsicht in die andere Welt. Und nicht zuletzt die Trauer über den Verlust von Sippenmitgliedern, von Kindern, von gebrechlich gewordenen Tieren.
Der Erzähltext wie auch die dialogischen Textabschnitte zeugen von der tiefsinnigen Durchdringung einer bedrohten kleinen Zivilisation, deren Überleben nicht nur von der fürsorglichen staatlichen Betreuung abhängig ist, sondern vor allem von der fürsorglichen Pflege des nordsibirischen Naturraumes und von dringenden Klimaschutzmaßnahmen. Der sprachlich sorgfältige aus dem Russischen übertragene fiktionale Text sowie die Übersetzung etymologischer und mythologischer Begriffe stellen somit einen wertvollen literarischen Beitrag zur Situation einer bedrohten Zivilisation dar, deren Angehörige mit diesem Roman eine eindrucksstarke literarische Stimme erhalten haben. Ein Buch, das nachdenklich macht, ein Poem, das die Körper und die Seelen einer im Norden Sibiriens lebenden Minderheit eindrucksstark beleuchtet, also unbedingt zu empfehlen ist!
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Weiße Rentierflechte von Anna Nerkagi. Aus dem Russischen von Rolf Junghanns. Mit Fotos von Sebastiao Salgado. Berlin (Faber & Faber) 2021.