Die Chinesische Mauer

 

EIN MORD ist geschehen und die Menschheit möchte um Hilfe rufen. Sie kann es nicht. Sie, die Lärmvolle, immer bereit, mit dem stärksten Schrei den kleinsten Stoß zu rächen, sie, die sich das Maß der Schöpfung dünkt und nur der Mißton ist in der Musik der Sphären, schweigt. Aber wir hören dieses Schweigen, es gellt über Länder und Meere, und wo immer es losbrach, antwortet ihm ein Echo, so stumm wie der Ruf, der einen Mord verkündet. Der Mund der Welt steht offen und aus den Augen starrt die Ahnung, daß sich das Größte begeben hat. Ringsum ist alles gelb. Wie der Tag, an dem der alte Gott sein Gericht hält. Gelb wie eine Chinesenhand und rot wie das Blut einer Christin. Die Hand hat sie gewürgt, daß sie nicht schreien konnte. Die Hand hält uns alle am Hals und läßt uns nicht mehr los. Ist es das Ende einer Moral, die die Fessel als Schmuck trug? Nun hat sie ein gelbes Halsband, das ihr den Atem nimmt. Sie, die nicht beten konnte, ohne zu huren. Sie, die nicht huren konnte, ohne zu beten! Die die Sünde profaniert hat durch die Reue, die Lust versüßt hat durch die Qual. Sie, die in jenem unerforschten Trugschluß, der 500 nach Confucius in die Welt gesetzt wurde, ein ewiges Sterben ertrug und um hellerer Hoffnung willen die dunkle Erfüllung in Kauf nahm. Sie, deren Leben Todesangst war und Furcht vor dem Leben. Da geschah es ihr, daß sie, nicht wissend, wo ihre Pflicht und wo ihre Lust sei, gewarnt und verführt, auf dem Wege, wo Herzklopfen die Tür der Freude öffnet, in den Opiumnebel geriet, der lichtere Seligkeit als selbst der Weihrauch ihr verhieß. Da geschah es ihr, daß sie an die gelbe Hand stieß, die sie karessierte, würgte und in den Koffer packte. Die Knie durch Stricke unter das Kinn gezogen, das Gesicht mit ungelöschtem Kalk beworfen– so kam sie aus dem blauen Himmelbett in den Koffer … Und nun riecht es in der Welt nach Verwesung.

Es ist das größte Ereignis, das die moralische Menschheit erlebt hat, seitdem ihr das Ereignis der Moral widerfuhr. Dazwischen lagen Taten und Zufälle, Entschlüsse des Geistes und Widerrufe der Natur. Siege und Verluste einer erdenstolzen Technik, die durch ein Achselzucken der Erde erst zum Problem erhoben wird. Hier aber hat die himmelsichere Ethik ihr Messina erlebt. Hier ist alles problematisch geworden, was sich seit zwei Jahrtausenden von selbst versteht. Auf einem Krater, den wir erloschen wähnten, haben wir unsere Hütten gebaut, mit der Natur in einer menschlichen Sprache geredet, und weil wir die ihre nicht verstanden, geglaubt, sie rühre sich nicht mehr. Sie aber hat durch all die Zeit ihre heißen Feste gefeiert und an unserer gottseligen Sicherheit ihren Erdenbrand genährt. Wir haben das Geschlecht für verjährt gehalten; wir haben die Konvention getroffen, von ihm nicht mehr zu sprechen. Die angetraute Metze Natur, in soziale Bindung gezähmt, schien nur so viel Wärme zu spenden, als unserm Behagen unentbehrlich war, und was sie sonst an Feuer hatte, reichte hin, unsere Suppe zu kochen. Da kommen wir ihr darauf, daß sie all die Zeit ihre Wonne nicht unserm Wahn geopfert, nein, unsern Wahn ihrer Wonne dienstbar gemacht hat. Da entdecken wir, daß unser Verbot ihr Vorschub, unser Geheimnis ihre Gelegenheit, unsere Scham ihr Sporn, unsere Gefahr ihr Genuß, unsere Hut ihre Hülle, unser Gebet ihre Brunst war. Was es an Hemmungen der Lust in der Welt gibt, wurde zur Hilfe, und die gefesselte Liebe liebte die Fessel, die geschlagene den Schmerz, die beschmutzte den Schmutz. Die Rache des verbannten Eros war der Zauber, allen Verlust in Gewinn zu wandeln. Schön ist häßlich, häßlich schön und was den wachen Sinnen ein Abscheu ist, lockt sie in die Betäubung der Wollust. Die Prinzen des Lebens konnten es nicht fassen. Aber die Prinzessinnen lagen bei den Kutschern, weil es Kutscher waren, und weil es die Prinzen nicht fassen konnten. Was immer der Liebe an Greueln widerstrebt, besiegte sie und suchte es auf, um es zu besiegen. Zucht ist ein Pfand der Unzucht, Hoheit die Bürgschaft des Falls. Warnung weckt Wunsch; Entfernung nähert. Der ausgehungerte Eros, dessen Geschmack sublimiert werden sollte, ist nicht wählerischer geworden, aber kriegerischer. Er wählt, was man ihm vorenthält. „Laßt uns ein Lied der Liebe singen! Die Liebe wird uns noch alle zugrunde richten. O Kupido, Kupido, Kupido!“ So ging eine Griechenwelt unter. Die christliche ließ kein Lied der Liebe singen, erkannte deren antisozialen Charakter und machte aus ihm ein Genußmittel. Die christliche Liebe konvertiert alles, selbst den Glauben. Der getaufte Eros liebt nicht alles, aber er nimmt mit allem vorlieb. Nichts ist ihm unerreichbar. Er sagt, daß er die Nächstenliebe sei, und weidet sich an verwundeten Kriegern. Er rettet gefallene Mädchen und bekehrt ungläubige Männer. Er ist neugierig und klettert über die chinesische Mauer. Er besucht Opiumhöhlen, um dort zu sagen, wie schön es in den Kirchen sei. Er frißt alles und läßt sich sogar die Kultur des Weibes schmecken, die täuschende Zubereitung verdorbener Weibnatur. Denn Bildung, sozialer Stolz und Frauenrechte finden im Bett so gut ihren Anwert wie ein gepflegter Körper, und Seele ist erst unter den Fäusten des Kulis ein Hochgenuß… Wir haben uns vermessen, an dem heiligen Feuer, das einst den männlichen Geist zu Taten erhitzte, unsere Füße zu wärmen. Nun zündet es uns das Haus an. Das soziale Gebälk, zu seiner Hut und unserm Schutz errichtet, ist willkommener Brennstoff. Wir haben einen Ofen um eine Flamme gebaut. Nun verbrennt sie den Ofen.

„Hast du denn kein Urteil? Hast du denn keine Augen? Verstehst du, was ein Mann ist? Sind denn nicht Geburt, Schönheit, gute Bildung, Redekunst, Mannhaftigkeit, Verstand, Menschenfreundlichkeit, Tapferkeit, Jugend, Freigebigkeit und dergleichen die Spezerei und das Salz, um einen Mann zu würzen?“ So fragt ein Shakespearischer Kuppler. Und die Schöne antwortet: „O ja, ein Mengelmuß von einem Mann; und so in der Pastete gehackt und gebacken, gibts ein Muß von lauter Mängeln“. Es geht um Troilus, dem sie den Achilles vorzuziehen scheint. Aber sie könnte ihm auch den Thersites vorziehen. Sie braucht nur vor ihm gewarnt zu sein. „Habt ihr Augen?“ fragt Hamlet, „die Weide dieses schönen Bergs verlaßt ihr, und mästet euch im Sumpf? … Sehn ohne Fühlen, Fühlen ohne Sehn, Ohr ohne Hand und Aug’, Geruch ohn’ alles, ja nur ein Teilchen eines echten Sinns tappt nimmermehr so zu!“ Der Mann vermißt sich, sein Maß unterscheidender Empfindlichkeit an die unteilbare Gewalt der Weibersinne zu legen. Aber das Weib trägt die moralischen und ästhetischen Begriffe, die der Mann ihr spendet, wie jeden andern Schmuck, durch den sie sich begehrlich macht. Der Tragiker, der Narren und Schelmen die Erkenntnisse zuschieben muß, die eine Lügenwelt sprengen könnten, läßt seinen irren König die Tugend als Köder der Lust entlarven:

 

Sieh dort die ziere Dame,
Ihr Antlitz weissagt Schnee in ihrem Schoß;
Sie spreizt sich tugendlich und dreht sich weg,
Hört sie die Lust nur nennen:

Und doch sind Iltis nicht und hitz’ge Stute
So geil in her wilden Brunst,
Vom Gürtel nieder sinds Centauren,
Obschon darüber Weib.
Nur bis zum Gürtel eignen sie den Göttern,

Alles darunter ist des Teufels Reich,
Dort ist die Hölle, dort die Finsternis,
Dort ist der Schwefelpfuhl, Gestank, Verwesung…
Gib mir ’ne Unze Bisam, Apotheker,
Meine Phantasie zu versüßen!

 

Aber die Phantasie selbst ist Bisam, der den männlichen Verstand versüßt und ohne den er es nicht zu Ende denken kann, daß das Weib aus dem Schwefelpuhl sich die göttergleiche Schönheit holt. Wer solche Vorstellung nicht dem eigenen Fühlen einzugliedern vermag, zerschellt den Kopf an diesem Rätsel einer englisch-teuflischen Verbindung, und dem nüchternen Untersucher zerfällt sie in ihre Teile. Die christliche Ethik ringt verzweifelt die Hände, daß es ihr nicht gelingt, die Schönheit, soweit sie dem Leben unentbehrlich ist, durch seelischen Zuspruch zu erhalten. Die große Frage, die offen blieb seit dem Tage, da man der Entsagung auf den Geschmack gekommen ist, mahnt uns, wie uns die Erde mahnt, wenn wir sie durch technische Spiele beruhigt glauben: Wie wird die Welt mit den Weibern fertig? Sie sieht, daß jedes seelische Bemühen flugs das Gegenteil bewirkt, einen seelischen Widerstand, der ein Kuppler der Lust ist. Sie sieht, wie nicht Erziehung die Fehler des Weibes wettmacht, deren rechte Gruppierung doch die Anmut schafft, sondern wie die Fehler des Weibes in jedem Ensemble die Erziehung aufheben. Sie sieht, wie Neugierde allein imstande ist, die ganze Arbeit der christlichen Kultur am Weibe rückgängig zu machen. Sie siehts und kanns immer wieder nicht glauben. Immer wieder dies Staunen über eine Natur, die zwei Geschlechtern nicht mit demselben Maß von Dürftigkeit zugemessen hat; die das Weib geschaffen hat, dem die Lust nur Vorschmack ist der Lust, und den Mann, den sie ermattet. Er fühlts und wills nicht wissen. Er hat tausendmal mit dem Anderen gerungen, der vielleicht nicht lebt, aber dessen Sieg über ihn sicher ist. Nicht weil er bessere Eigenschaften hat, aber weil er der Andere ist, der Spätere, der dem Weib die Lust der Reihe bringt und der als Letzter triumphieren wird. Aber sie wischen es von ihrer Stirn wie einen bösen Traum; und wollen die Ersten sein.

Sie können es nicht glauben. Bis sie die ziere Dame, jene, die mit dem Ruf „shocking“ auf die Welt kam, in den Laden des chinesischen Wäschers schleichen sehen. Von keiner Garde als von der Moral und etwa dem Vertrauen des liebenden Gatten begleitet. Er ist der Besitzer; er hat ein Recht, nicht zu wissen, was den weiblichen Sinnen, die er reich versorgt hat, der andere Mann bedeutet. Aber wenn er vollends ahnte, wie sie der andere Mann der anderen Rasse beherrscht! Eine Vorstellung, die wie ein Wurm am Gehirn fräße, wenn sie je über die Schwelle dieses Selbstbewußtseins kriechen könnte, wird in dem Wäscherladen von Chinatown täglich hundertmal zur Wirklichkeit. Der Stinkteufel, an dem die weiße Seele erst ihrer Gottähnlichkeit inne wird, hat sich mühelos mit der Frau vergnügt, um die die weiße Seele so oft verschmachtet. Die Schwierigkeit der Verständigung erleichtert den Verkehr zwischen Krämer und Kundin; der Chinese ist ein Muster der Pflichterfüllung. Auch als Kellner stellt er seinen Mann. Seine Teufelsküche hält alle Leckerbissen feil, ja taktvoll geht er selbst auf den Wunsch ein, sich zum Christentum bekehren zu lassen, wenn eine Feinschmeckerin auf das Hors d’oeuvre der ethischen Absicht schon nicht verzichten will. Und aus dem großen Lustbad, das der schmutzigste Winkel der Weltstadt darstellt, steigen täglich treue Gattinnen und unschuldige Töchter in erneuter Schönheit zum Standard ihrer sozialen Ehre empor. Manchmal bleibt eine und verträumt ihr Leben im Opium, die andere wird einen europäischen Grafen heiraten —— den meisten färbt das Glück die Wangen rot, die honeste Langweile ihres Tags um eine Stunde zu betrügen. Was wissen Gatten und Väter davon? Eine starb. Vielleicht, daß ein Prostituierter sein Herz an sie verlor und eifersüchtig wurde; vielleicht hat er sie nicht aus Leid, sondern zur Lust gemordet; vielleicht hat ihre Weigerung, sich prostituieren zu lassen, ihrem Leben den kürzeren Prozeß gemacht. Der Mordfall ist eine Unregelmäßigkeit; er zeigte uns die Einrichtung und beweist nichts gegen sie. Elsie Siegls Tod ruft die moralische Welt in Waffen, aber was er enthüllt, zwingt sie, die Waffen zu strecken. Sie müßte sie gegen ihre Weiber wenden, um aller Enttäuschung für allemal Herr zu sein. Wie anders sollte sie dieser fürchterlichen Bundesgenossenschaft der weißen Frau und der andern Rasse, dem Einverständnis verstoßener Naturmächte, ein Ende setzen? Sie könnens nicht fassen und ziehen zur Erklärung vielleicht Magie und Zauberei heran. Wenn sie das Nest leer finden, mag ihre Verzweiflung mit den Worten von Desdemonas Vater rufen:

 

O Gott! Wie kam sie fort? O Blutsverrat! —
Väter, hinfort traut euern Töchtern nie
Nach äußerlichem Tun! —— —— —— ——
O schnöder Dieb! Was ward aus meiner Tochter?

Du hast, verdammter Frevler, sie bezaubert;
Denn alles, was Vernunft hat, will ich fragen,
Wenn nicht ein magisch Band sie hält gefangen,
Ob eine Jungfrau, zart und schön und glücklich,
So abhold der Vermählung, daß sie floh

Den reichen Jünglings-Adel unsrer Stadt ——
Ob sie, ein allgemein Gespött zu werden,
Häuslichem Glück entfloh an solches Unholds
Pechschwarze Brust, die Grau’n, nicht Lust erregt!
—— —— —— —— Ein Mädchen, schüchtern,

Von Geist so still und sanft, daß jede Regung
Errötend schwieg —— die sollte, trotz Natur
Und Jugend, Vaterland und Stand, und Allem,
Das lieben, was ihr Grauen schuf zu sehn?

 

Weil sie den Zaubertrank, den die Sinne selbst bereiten, nicht in ihrer Hausapotheke führen, ist Vätern und Gatten die Erscheinungfremd. Man lügt ihnen die weiße Haut voll, und wenn nicht der Zufall einen Mord ausriefe, würden sie nie erfahren, welches Kolorit der Geschmack ihrer Liebsten war. Der Ernst des Lebens, dieser lächerliche Verwalter ihres geistigen Inventars, hat ihnen das eheliche Vergnügen nur dort gestattet, wo sie es als eheliche „Pflicht“ fatieren können. So bedarf es schon starker Reizungen, um ihr Interesse auf ein Lebensgebiet zu lenken, wo der Wechsel der Ereignisse sich nur stiller, nicht spärlicher vollzieht als im Kommerz. Die Leiche im Koffer ist die notwendige Sensation, ohne deren Vermittlung für eine geräuschvolle Zeit Erkenntnisse nicht zu haben sind.

Daß Elsie Siegl starb, ist ein Lokalfall, zu dem die Reporter noch Worte finden mögen. Aber daß bei dem Kellner Leon Ling zweitausend Liebesbriefe von Frauen exquisiter Lebenshaltung gefunden wurden, das macht die Klatschmäuler verstummen und gibt dem Ereignis seine kulturbange Größe. Die Presse, die sich den Kopf der Welt dünkt und nur ihr Schreihals ist, kann uns nicht einmal mit Entrüstung dienen. Kein „Sumpf der Großstadt“ ist entdeckt worden; nicht die Fäulnis jener, die die Moral verletzten, ist aufgebrochen, sondern die Fäulnis der Moral. Hier hat Naturnotwendigkeit des Geschehens über die Lüge der Anschauung das Urteil gesprochen. Amerika macht es nur deutlich; es gibt Entwicklungen und Katastrophen das Maß. John ist unbedenklicher als Hans und hat größere Achtung vor der Genußfähigkeit seiner Frau als der gefühlvolle Vetter, der ihr eine Seele gönnt und sie „mit dem Weltganzen verknüpfen“ möchte, wenn ihre Sinne hungrig sind. Blaustrümpfe mögen sich der Überzeugung freuen, daß die freiere Fasson der amerikanischen Frau der Grund ihrer Zügellosigkeit ist, und daß der deutsche Mann davor sicherer wäre, vom Chinesen betrogen zu werden. Aber in allen Städten, in denen dunkle Truppen ihre Zelte aufschlugen, haben sich brave Bürger eines Familienzuwachses erfreut, den sie ihr Leben lang mit mischfarbigem Gefühl besahen. Der Eindruck, den die andere Rasse im plastischen Ton des andern Geschlechts, in der immer formwilligen Sexualität des Weibes erzeugt, ist so mächtig, daß es leiblicher Vermischung nicht bedarf, um auf einen lichten Stamm ein dunkles Reis zu pfropfen. Die rohe Riesenstatue eines Chinesen, um die sich ein Ringelspiel dreht, könnte zur Erklärung ausreichen, warum mancher Wiener Schusterbub mit Schlitzaugen auf die Welt kam. Und wenn es nur ein Symbol ist, daß sich die Lust um den Chinesen dreht, so schreckt es am heiligen Sonntag die weißen Männer aus dem Weltprater. Der gigantische Hohn, dessen nur die rachsüchtige Natur fähig ist, hat diesen Anschluß des Weibes an das verachtete Blut befehligt. In dem Wäscherladen von Chinatown werden in einer stummen Stunde alle Menschheitsfragen laut: Geschlecht und Rasse paaren sich zu weltproblematischem Grauen.

Aber der weiße Mann, der seine Frau sucht, entdeckt noch, daß sie ihm die Religion mitgenommen hat, als sie zum Chinesen ging. Die Findigkeit des Eros, mit den gegebenen Mitteln auszukommen, ist unerschöpflich. Wenn die Natur ihr Mütchen an der sozialen Welt kühlt, schont sie keines der im Staate anerkannten Vorurteile, ihr Witz macht fromme Mädchen zu Bettschwestern, und die Mission endet im Bordell. Die Autorität des Gottes Buddha hat nie als Vorwand solcher Spiele gedient. Der Chinese begeht keine Sünde, wenn er sie begeht. Er bedarf der Gewissensskrupel nicht, um in der Lust die Lust zu finden. Er ist rückständig, weil er mit den gedanklichen Schätzen, die ihm Jahrtausende gehäuft haben, noch nicht fertig wurde. Er ist zukunftsfähig und überdauert die Schäden, die in anderen Welten Medizin und Technik zusammenflicken. Er hat keine Nerven, er hat keine Furcht vor Bazillen, und ihm kann auch nichts geschehen, wenn er tot ist. Er ist ein Jongleur, der Leben und Liebe spielend mit dem Finger bewältigt, wo der Athlet keuchend seine ganze Person einsetzen muß. Er arbeitet für ein Dutzend Weiße und genießt für hundert. Er hält Genuß und Ethik auseinander und bewahrt dadurch beide vor der Krätze. Von dem, was wir Ausschweifung nennen, kehrt er an Leib und Seele unverändert zu den Normen des Tagwerks zurück, worin er sich höchstens unterbricht, um eine weiße Lady zu bedienen. Er ist unsentimental und hat nicht jenen Mangel an seelischer Ökonomie, den wir Moral nennen. Er kennt die Pflicht der Nächstenliebe nicht, die da verlangt, daß an einem Strick zwei sich aufhängen. Er lebt fern einer bresthaften Ethik, die den Starken schwächt, indem sie ihm den Schutz des Schwachen vorschreibt. Er ist grausam; er begeht Fruchtabtreibung und Kindesmord, wiewohl er sicher ist, daß auch der unerwünschte Sohn des Himmels dem Gotte ähnlicher würde als jener Bankert aus Hysterie und Journalismus, der sich im Okzident unter der Protektion des Gesetzes auswächst. Aber er lebt in der Fülle und hat die Humanität nicht notwendig. Sein Reich umfaßt mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung der Erde, seitdem es im letzten Jahrhundert allein einen Zuwachs von neunundneunzig Millionen bekommen hat. Und sie alle haben bloß den Ehrgeiz, Chinesen zu sein und nicht die Affen fremder Eigenart. Während die Japaner an deutschen Universitäten Strafgesetze studieren, sind die Chinesen vollauf damit beschäftigt, sie zu übertreten. Und dieses Volk wahrt und mehrt seine dämonische Lebenskraft durch Verschwendung. Es kennt den Raubbau der Askese nicht, und seine Männer haben Lust am Manne wie am Weibe. Den Chinesen, sagt ein Forscher, habe ihre Päderastie so wenig Abbruch getan, daß die Holländer, als sie zum erstenmal nach China kamen, vor Staunen über die Volksmengen, die sie überall antrafen, immer nur die Frage laut werden ließen, ob denn die chinesische Mutter zwanzig Kinder auf einmal zur Welt bringe. Die Sündenmoral dezimiert ein Volk mehr als das Zweikindersystem. Sie bringt die Pathologie zur Welt und mit ihr jene geborene Homosexualität, die das erbärmliche Widerspiel der erotischen Vielgestalt bedeutet. Der Chinese liebt das Weib, er liebt es im Knaben, und er würde sich nicht das Recht nehmen lassen, die Züge des gesuchten Frauentypus in einem Katzenkopf zu lieben. Aber er sucht nicht den Mann, zu dem die abendländische Perversität tendiert, die keine erotische Bereicherung ist, sondern eine pathologische Folge der Verkrüppelung des Geschlechtslebens durch die Moral. Die Erforscher des männlichen Buhlwesens in China führen die Tatsache an, daß ein junger Schauspieler, der eine anmutige Mandarinin darzustellen hat, „der zierlichste Frauenkopf“ genannt wird, „den man in China überhaupt zu Gesicht bekommen könne“. Die chinesische Päderastie sei der öffentlichen Meinung „eine Sache, die durchaus nichts Absonderliches vorstellt und der sich jeder unbedenklich hingibt. Man verhält sich zu dieser Art Wollust völlig indifferent und die öffentliche Moral regt sich über sie nicht im geringsten auf. Weil die Handlung dem, der sie treibt, gefällt und weil der, mit dem sie getrieben wird, damit zufrieden ist, so findet die chinesische Moral hier alles in Ordnung. Das chinesische Gesetz liebt es nicht sehr, sich mit allzu intimen Angelegenheiten zu befassen. Die Päderastie wird sogar als eine Sache des guten Tons, als ein kostspieliger Luxus und ein vornehmer Sport angesehen“. Das Weib ist in China als Ehefrau wie als Hure so unwissend und ungebildet, wie es der wissende und gebildete Mann braucht, der nicht in dem Wahn lebt, die Frau zur ebenbürtigen Partnerin seiner ureigenen Domäne machen zu können, und nicht ihre Notwendigkeiten schmälert, indem er ihr Rechte verleiht. „Da er Verse, Musik und Aussprüche der Philosophen liebt, so verkehrt er, wenn seine Mittel es ihm irgend erlauben, gern in gebildeter männlicher Gesellschaft, wo er gewiß ist, mit literarischen Kenntnissen ausgerüstete und auch zum Beischlaf erbötige junge Männer anzutreffen.“ „Priester, Militärpersonen, die Sittenpolizei, Mandarinen, einige Dichter und etliche Kaiser“ werden in den wissenschaftlichen Untersuchungen ausdrücklich unter den Praktikern der gleichgeschlechtlichen Liebe angeführt. Die Residenzstadt Peking weise eine Sondereinrichtung, „eine Truppe von Buhljungen für die möglichen Bedürfnisse des Herrschers“ auf; „diese Einrichtung amtlicher Beischläfer des Kaisers soll seit langer Zeit als möglichenfalls erforderlich durch den Minister der Kirchengebräuche getroffen worden sein und demnach eine staatliche Anerkennung und Sanktionierung der Päderastie in sich schließen“. Ganz besonders ausgebreitet sei sie unter den Beamten der chinesischen Sittenpolizei, und bei der Militärbehörde erfreue sie sich direkten Schutzes: weil sich noch kein Vaterlandsretter gefunden hat, der das „erweislich Wahre“ in diesen Verhältnissen ausspionierte. Auch würden sie ihre Folter nie dazu mißbrauchen, einem herzkranken Greis die Beichte seiner Jugendsünden zu erpressen. Dem Chinesen geht eben in jedem Belang Lebensweisheit über Kenntnisse. Er ist ein Raumkünstler in der Nußschale des Daseins; er nützt es aus und verstellt sich den Weg nicht durch Überflüssiges. Und stellt sich selbst nicht in den Weg. Von seiner Ersetzlichkeit überzeugt, bewährt er im Transzendenten einen sozialen Sinn, der in der abendländischen Ethik verkleideter Egoismus ist. Er weiß Platz zu machen; seine Nächstenliebe wirkt nicht in räumlicher, sondern in zeitlicher Dimension. Er lebt nicht im Wahn der Individualität, die sich an der Tatsachenwelt beweist. Er taucht unter im Gewimmel und ist sich selbst so wenig unterscheidbar wie dem fremden Auge. Weil alle gleich sind, können sie der demokratischen Wohltat entbehren. Ihr Gesetz hat schwerere Strafen, weil der Täter schwerer zu finden ist. Ein Zopf entkam: eine Ratte… Das „Verhör des dritten Grades“, das die New Yorker Polizei anwendet, lockt keinem Volksgenossen ein Geständnis heraus. Die Untersuchung, wer ein Christenmädchen ermordet hat, kann nur das Ergebnis haben: Niemand. Aber die Untersuchung, wer ein Christenmädchen verführt hat, das Ergebnis: Alle!

Und allen wird es ferner gelingen. Die amerikanische Behörde wird in den gelben Bezirken Ordnung machen, und vermehrter Wunsch wird die vermehrte Wachsamkeit überwinden. Das Geheimnis wird den Reizverlust, den es durch die Publizität erlitten haben könnte, durch den Gewinn an Gefahr reichlich hereinbringen. Und der Schrecken selbst —— unseliges Erbe der konvertierten Lust! —— zieht an, der blutige Schein verführt, und auf die ferne Welt hat die Entdeckung gewirkt, als ob der Taifun über den Ozean eine erotische Glutwelle geworfen hätte. Und bei dem Gedanken an China, vor dieser zauberhaften Individualität der mongolischen Masse wird jeder weiße Mann zum Hahnrei. Die gelbe Gefahr ist dem Lebensnerv der christlichen Kultur von einer Richtung nahegekommen, in die die Völker Europas nicht gelugt haben. Wenn sie ihre heiligsten Güter, die Reinheit der Gattin und die Virginität der Tochter, wahren wollen, mögen sie dazu schauen. Der Chinese legt auf beide nicht den geringsten Wert, aber er wird sie ohne Schwertstreich erobern. Gegen eine Rasse, die ihre Naturnotwendigkeiten nicht mit der Bagage des Gewissens bepackt hat, ist aller Widerstand hoffnungslos. Ein Volk, das sich daheim nicht im Bürgerkrieg der Sitte gegen die Natur zerreiben muß, zieht ungeschwächt ins Feld. Wenn sie kommen, die Weiber werden sich ergeben; und die Männer, die längst Weiber sind, werden sich auch nicht lange sträuben. Eine Nation, die die Virginität verabscheut und ihre neugebornen Töchter durch eine Operation dem künftigen Berufe weiht, ist die legitime Anwärterin des Bereichs einer erledigten Zivilisation. Einer, welche beim Fortschritt sich selbst auf die Füße trat, weil sie ohne Moral nicht ausgehen konnte, welche Panzerschiffe gebaut, aber den Tanz um den Fetisch einer Jungfernhaut aufgeführt hat. Wilde Völkerschaften, elektrisch beleuchtete Barbaren wird Asien entdecken. Aber es wird großmütig auf jeden Bekehrungsversuch verzichten. Jene, die dem Weib die einzige Mission zuerkennen, vorwandlos der Freude zu dienen, werden den Ungläubigen keine Missionärinnen ins Bett schicken.

Sie werden auf eine Rasse stoßen, deren Völker einander mit Krieg und Nächstenliebe überziehen und nur einig sind in der Verachtung aller, die nicht ihre Gesichtsfarbe haben und eine andere Ausdünstung. Osten und Westen stellen einander den Teufel vor und halten sich die Nase zu. Aber die Chinesen vertragen mehr. Sie finden, daß die andern —— die andern Männer —— „einen faden Leichengeruch“ ausströmen; und solche Wahrnehmung könnte mehr bedeuten als eine Empfindung der Unlust. Hier lebt etwas in Verwesung, des Erlösers gewärtig, der es vom Leben errettet. Hier siecht eine Lust, deren Arzt die Furcht war und das Leiden. Hier ist etwas bei lebendigem Leib begraben und etwas Totes hält die Grabwacht. Sie werden durch unsere Finsternisse schreiten und den Weg zum Leben nicht verfehlen. Ihre unterirdischen Gänge sind ein Paradies neben den Katakomben, die unsere Liebe sich gemauert hat, seitdem man ihr das Licht nahm. Als die christliche Nacht hereinbrach und die Menschheit auf Zehen zu der Liebe schleichen mußte, da begann sie sich dessen zu schämen, was sie tat. So trat man ihr die Augen aus. Da lernte sie die erotische Blindenschrift. So legte man sie in Ketten. Da liebte sie die Musik klirrender Ketten, also die Perversität. Aber sie schämte sich der Gefangenschaft nicht, sondern der Gedanken, auf die sie darin verfiel; nicht der Ketten, aber des Geräusches. Sie hatte sich der Freiheit ihrer geschlechtlichen Natur geschämt, und sie schämte sich der Perversion, welche die Kultur der sexuellen Unfreiheit ist. Sie brannte und verstellte sich den Notausgang. Und trug Stein um Stein herbei, bis eine Mauer ihr Reich der Mitte umgab, ihr himmlisches Reich. Dieses geschah um 500 nach Confucius. Die große chinesische Mauer der abendländischen Moral schützte das Geschlecht vor jenen, die eindringen wollen, und jene, die eindringen wollen, vor dem Geschlecht. So war der Verkehr zwischen Unschuld und Gier eröffnet, und je mehr Pforten der Lust verschlossen wurden, umso ereignisvoller wurde die Erwartung. Da schlägt die Menschheit an das große Tor und ein Weltgehämmer hebt an, daß die chinesische Mauer ins Wanken gerät. Und das Chaos sei willkommen; denn die Ordnung hat versagt. Eine gelbe Hoffnung färbt den Horizont im Osten, und alle Glocken läuten Sturm. Und überall ein Gewimmel. „Aus dem Rauche des Schlundes kamen Heuschrecken über die Erde und ihnen ward Macht gegeben, wie die Skorpionen auf Erden Macht haben… Und hatten Haare wie Weiberhaare, und ihre Zähne waren wie die der Löwen… Und ihre Schwänze waren den Schlangen gleich und hatten Häupter und mit diesen schadeten sie… Und die Zahl des Heerzuges der Reiterei war zweihundert Millionen. Ich hörte ihre Zahl…“ Ein Fortinbras naht, auf dem Trümmerfeld der Sünde die Herrschaft anzutreten. „Wo ist dies Schauspiel?“ Aber damit lebe, was begraben ist, muß er dem Toten erst den Todesstoß geben. Seine Hand greift nach der Kultur, die ihn durch ihr letztes Augendrehn versöhnen möchte, und würgt sie mit Lust. Kein Entrinnen, die Arbeit geht im Hui — die Knie durch Stricke unter das Kinn gezogen, das Gesicht mit ungelöschtem Kalk beworfen, so verschwand eine Leiche im großen Koffer des Chinesen.

 

 

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Während ich am „Kraus–Projekt“ arbeitete, war ich mir bewusst, dass seine Form der des Online–Diskurses ähnelt, zumal zu vielen der Fussnoten ja das (via Internet geführte!); ich hatte die leise Hoffnung, dass sorgfältige Leser schon merken würden, dass das Buch das Internet selbst dann affirmiert, wenn es das Netz eigentlich angreift. Aber der Hauptgrund für die Anmerkungen ist, dass Kraus selbst der grosse Anmerker war, der grossartige frühe postmoderne Meister des Zitats und der Glosse, der direkte Vorfahr der Blogger von heute.

Jonathan Franzen

Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.