Er hats erfunden!

Die Philosophie ist, und zwar auch bei gescheiten Leuten, nur ein leeres Wort, das keine Beziehung zur Wirklichkeit hat.

KUNO hat zum dritten Mal ein essayistisches Jahr ausgerufen. Die Redaktion muss daher zwingend auf den Erfinder der neuen literarischen Gattung hinweisen. 1571, mit achtunddreißig Jahren, quittierte Michel de Montaigne sein Richteramt und zog sich auf sein Schloss zurück. Die finanziellen Voraussetzungen und damit die Unabhängigkeit sind gegeben, und er kann es sich leisten, sein Richteramt abzugeben, da er das Erbe seines Vaters, als Schlossherr de Montaigne, angetreten hat.

Genug nun für andere gelebt – leben wir zumindest dies letzte Stück des Lebens für uns.

Mit der Rolle des Landedelmanns, als der Montaigne sich nach seinem Rückzug ins Private offenbar sah, vertrug es sich durchaus, zu lesen und literarisch zu dilettieren. Dies tat er mit Hilfe einer für damalige Verhältnisse relativ umfangreichen Privatbibliothek (etwa tausend Bände), die ihm zu großen Teilen von seinem Freund La Boétie vermacht worden war. Er begann, markante Sätze aus den Werken klassischer, meist lateinischer Autoren aufzuschreiben und zum Ausgangspunkt eigener Überlegungen zu machen. Diese Überlegungen sah er als Versuche, der Natur des menschlichen Wesens und den Problemen der Existenz, insbesondere des Todes, auf den Grund zu kommen. Die passende Darstellungsweise für diese „Versuche“ (französisch essais) musste er selber tastend entwickeln, denn erst später, nach ihm und dank ihm, wurde der Begriff Essay zum Namen einer neuen literarischen Gattung. Montaigne schildert beim Schreiben seine Gedanken, als sei das Blatt vor ihm sein Gegenüber – so wie er es seinem verlorenen Freund La Boétie mitteilen würde. Sich selbst mit der Zeit verändernd, begegnet ihm beim Wiederlesen auch der Text neu. Dieser wird dann von ihm aus der neuen Perspektive korrigiert, vervollständigt und verworfen. Sein Gedankenprozess führt dazu, dass er sich dabei wiederum selbst verändert. „Für ihn besteht das ganze Menschsein aus lauter eigengesetzlichen Augenblicken, und er reproduziert seine Einfühlung in seine eigene Vergangenheit.“

Es gibt noch eine andere Art von Ruhmsucht. Sie besteht darin, dass wir unseren Wert und unsere Verdienste überschätzen.

Montaigne lernte die gebildete und an Poesie interessierte Diane d’Andouins, ab dem Jahr 1583 Mätresse des späteren französischen Königs Heinrich IV., kennen. Beide traten in einen intensiven brieflichen Austausch ein, etwa über das Schaffen von Pierre de Ronsard und Joachim du Bellay. Seine Les 29 Sonnets de la Boétie in den Essais widmete er Diane d’Andouins. Im übrigen gab es noch weitere Widmungen, so wurden Charlotte Diane de Foix-Candale die De l’institution des enfants, Louis de Madaillan d’Estissac (ca. 1502–1565) die L’Apologie de Raymond Sebond und De la ressemblance des enfants aux pères der Marguerite de Grammont, Witwe des Jean de Durfort, Seigneur de Duras gewidmet.

Man muß uns nie so viel Verachtung zeigen, wie wir verdienen.

Vermutlich hatte Montaigne seinen Wechsel ins Private mit der Hoffnung verbunden, seine Tage ungestört von den kriegerischen Wirren der Zeit zu verbringen. Als sich aber nach den Massakern der Bartholomäusnacht (22./23. August 1572) die Spaltung im Land vertiefte und beide Seiten sich erneut bekriegten, hielt er es für seine Pflicht, sich der königlichen Armee und damit dem katholischen Lager anzuschließen. 1574 trat er aber auch mit einer Rede vor den Richtern des Parlements in Bordeaux für eine Versöhnung der Konfessionen ein. Nach dem Friedensschluss von 1575, der den Protestanten vorübergehend volle Bürgerrechte gewährte, ließ er sich von Heinrich von Navarra, dem De-facto-Herrscher in weiten Teilen Westfrankreichs, zu dessen Kammerherrn ernennen.

Unsere Welt besteht aus lauter Geschwätz, und ich habe noch keinen Menschen getroffen, der nicht eher mehr als weniger denn nötig geredet hätte; jedenfalls entschwindet uns hierüber die halbe Lebenszeit.

Würde Michel de Montaigne im 21. Jahrhundert leben, so er wäre wahrscheinlich der beliebteste Blogger. Nicht nur in Frankreich. Wir kommen ihm näher, indem wir seine Essais lesen. Und zwar Wort für Wort. Oder wir nehmen einen charmanten Umweg und lesen Sarah Bakewells Wie soll ich leben?. Dies ist nicht nur der Titel ihrer ungewöhnlichen Biographie, sondern zeigt zugleicht die Methode an, mit der sich die Autorin dem Denken Montaignes nähert.

Wenn die Leute mir vorwerfen, dass ich zu viel von mir spreche, so werfe ich ihnen vor, dass sie überhaupt nicht mehr über sich selber nachdenken.

Die KUNO-Redaktion empfiehlt zur weiteren Vertiefung die Biographie von Volker Reinhardt, die den Philosophen Michel de Montaigne als Kind seiner Zeit porträtiert. Er erzählt das Leben des philosophischen Virtuosen Montaigne konsequent in seinem historischen Kontext, der Zeit der Bürgerkriege in Frankreich. So erhält der Parlamentsrat, Romreisende, Bürgermeister von Bordeaux und Kammeredelmann scharfe Konturen, und wir können den Philosophen in seinem Schlossturm, der mit souveräner Distanz auf sich und die Welt blickt, besser verstehen.

Der Schauplatz von Reinhardts Biographie ist das Schloss Montaigne. Die Zeit, wird befindet und auf dem Höhepunkt der Bürgerkriege. Es klopft. Ein Mann wurde überfallen und begehrt eilig Einlass. Nach und nach treffen seine Begleiterein. Montaigne schöpft Verdacht: ein trickreicher Überfall! Doch er lässt alle gastfreundlich ein. Die Naivität des Schlossherrn erweicht schliesslich den Anführer, der das Signal zum Abzug gibt. Der Krieg zwingt zu unkonventionellen Überlebensstrategien. Montaigne empfiehlt mit dieser Episode «Natürlichkeit» im Verhalten und zugleich kluge Verstellung. Das ist auch die Strategie seiner Essays: Ob er über Freundschaft und Ehe, gute Gespräche und Erziehung oder über seine Krankheiten, Spleens und Obsessionen schreibt, immer wirkt er ganz arglos und spielt doch mit seinen Lesern. Bisher wurde die Biographie Montaignes meist aus seinen verführerisch authentisch klingenden Schriften abgeleitet. Reinhardt geht den umgekehrten Weg und macht von Montaignes Leben aus die Essays neuverständlich.

 

 

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Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges. Eine Biographie von Volker Reinhardt; C. H. Beck, München 2023

Michel de Montaigne * 28. Februar 1533 auf Schloss Montaigne im Périgord; † 13. September 1592 ebenda)

Weiterführend  Zur Einführung finden sich von Holger Benkel Gedanken über das Denken.

 Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft, seine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, daß die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin liegen, nie alles wissen zu können.

In 2003 stellte KUNO den Essay als Versuchsanordnung vor.

→ In 2013 versuchte KUNO mit Essays mehr Licht ins Dasein zu bringen.

→ In 2013 unternahm Constanze Schmidt Gedankenspaziergänge.