Twitteratur – die Kunst der Verkürzung

Der Traum des Kritikers ist es, eine Kunst durch ihre Technik zu definieren.

(Roland Barthes)

Drei Jahre nach dem ersten „Tweet“ erscheint die Textsammlung: Twitterature von Alexander Aciman und Emmet Rensin

Am 21. März 2006 verschickte Jack Dorsey den erste „Tweet“ mit dem Inhalt „just setting up my twttr.“. Dies erinnert die KUNO-Redaktion an das erste Telefonat von Alexander Graham Bell: „Watson, come here. I need you.“ Die Online-Plattform Twitter war zu Beginn das chaotische, jedoch höchst lebendige Gehirn einer diskutierenden Welt. Nun ist es zum Spielzeug eines anscheinend völlig durchgeknallten Milliardärs geworden. Musk kann Twitter im Grunde nur zugrunderichten, schreibt Linette Lopez in einem lesenwerten Essay im Business Insider. Musks Prinzip bei seinen anderen Unternehmen war stets, in eine Lücke zu stoßen, wo noch keiner war, weltveränderde Versprechen zu machen und Geld von Fanboy-Milliardären und Staaten einzuwerben. „Twitter ist das Gegenteil einer ‚Elon-Musk-Firma‘. Es ist ein einflussreicher aber kleiner Player in einem Feld, das von gigantischen und gut mit Geld ausgestatteten Wettbewerbern dominiert wird. Regierungen weisen Twitter eher in Schranken, als es mit Staatsaufträgen zu versorgen. Und Twitter-Angestellte haben Optionen: Sie können den Laden verlassen und für Firmen arbeiten, die sie besser behandeln, als Musk es je tun würde.“

Aus Twitter ist „Xitter“ geworden, was man im Englischen unterschiedlich aussprechen kann, als „Zwitter“, aber auch als „Shitter“.

Timothy Garton Ash

Mit einer ursprünglichen Beschränkung auf 140 Zeichen pro Tweet setzt die neue Gattung Twitter auf die Tugenden epigrammatischer Kürze, Aphorismen lassen sich als analoger Vorläufer bezeichnen. „Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb.“, schrieb der Herausgeber des analogen Blogs Die Fackel, der begnadete Zyniker Karl Kraus. Bereits zwischen 2006 – 2009 finden sich auf Twitter selbständige einzelne Gedanken, Urteil oder Lebensweisheiten. Aufgrund der Reduzierung auf 140 Zeichen sind es oft nur ein Satz oder oder anderthalb Sätze. Oft formulieren die User eine besondere Einsicht rhetorisch als allgemeiner Sinnspruch, als eine Sentenz, Maxime, Aperçu oder Bonmot. Auch finden sie hier geflügelte Worte oder pointierte Zitate oder eben das, was bislang als Aphorismus bekannt ist.

Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist das Aperçu in Form des Mikroblogging eine auflebende Form

Twitteratur folgt einer Verdichtungsökonomik, sie ist eine Poesie, die man von den japanischen Haiku kennt, sie scheint auf besondere Weise verfügbar und dienstbar zu sein. Bestand die Modernität dieser Mikrogramme bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Bisher bilden die Mikrolithen in der Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte und der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist das Aperçu in Form des Mikroblogging eine auflebende Form.

Bedeutet die Feststellung Existenzminimum, daß man seine Existenzberechtigung verloren hat, sobald man darunter liegt?

Die Produktion von Ambiguität – was Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in der Kunstform der Twitteratur wieder. Verfremdung bedeutet, die Dinge nicht mehr in ihrer Evidenz darzustellen. Die retardierende Unterbrechung, führt zu einem Staunen, ob der entdeckten Zustände, daß erst die kritische, nämlich nicht mehr in der allgemeinen Evidenz befangene, Stellungnahme des Publikums zu den Vorgängen, wie auch zur Art der Darstellung ermöglicht.

Kritik bedeutet unterscheiden, was sagen die Kritiker des Unterscheidungsvermögens?

Über die Bedeutung der Twitteratur wird seit 2006 gerätselt: „Miniaturen? Anekdoten? Essays? Witze? Parabeln? Fabeln? Texte? Aphorismen oder gar Denksprüche, Apophthegmen? Gebete, vielleicht Weisheitsliteratur?“ Wir setzen uns davon ab, oft Gehörtes zu wiederholen, dies kann zwar für den Buchmarkt von Vorteil sein, denn Leser bevorzugen bekanntlich Texte, die ihnen noch mal schöner erzählen, was sie eh schon wissen. Deshalb hat auch das Lesen des Lieblingsfeuilletons eher etwas Rituelles, Gottesdienstartiges, als daß es einen auf neue Gedanken stößt. KUNO verabschiedet sich vom klassischen Autorenbegriff. Die Herausforderungen der kommenden Gesellschaft sind zu komplex, um von einem einzelnen definiert, aufbereitet und auch noch niedergeschrieben zu werden.

Die Interpretation ist die Rache des Intellekts an der Kunst.

Susan Sonntag

In diesem Online-Magazin präsentieren wir öfter die Mythen des Alltags und interessieren uns für die Wechselwirkung von Emotionen und Marktwirtschaft. Um der Literatur willen besteht kein Bedarf an engagierten Schriftstellers. Engagement für die Literatur ist so unnötig wie eine engagierte Literatur. Es bedarf des Engagements in der Literatur. Wer sein Schreiben ausüben kann, braucht sich nicht zu beklagen, auch nicht über das Unrecht der Welt. Und wen die Kunstausübung überfordert, der unterlasse sie eben besser. Politisch wirksam wird sie, sobald sie sich den Ideologien entzieht. Ein Schriftsteller, der auf den Grenzen seines Metiers besteht, provoziert heute mehr als jeder Grenzgänger. Zeitgenössische Literatur ist keine Stilrichtung. Wo sie etwas Gültiges über unser jetziges Dasein aussagt, das wird sich erst in 50 Jahren zeigen. Wenn, frei nach Goethe, der letzte gestorben ist, der sich noch persönlich an heutige Schriftsteller erinnert. Das Vorurteil wird dahin sein. Vergessen oder Mythos folgt. KUNO stilisiert sich nicht als eines dieser gallischen Dörfer, das den Eindringlingen erfolgreich Widerstand leistet, wir leisten auf ästhetischer Ebene Widerstand gegen die Durchökonomisierung der Branche.

Ein Aphorismus ist der letzte Ring einer langen Gedankenkette.

Marie von Ebner-Eschenbach

Das erste Twitter-Logo ist ein Design-Klassiker: Der blaue Vogel „Larry“.

Johann Wolfgang Goethe hat erklärt (und Generationen von Germanisten sind ihm willfährig darin gefolgt), dass es „nur drei echte Naturformen der Poesie“ gebe, nämlich „Epos, Lyrik und Drama“. KUNO zählt den Aphorismus und seinen digitalen Nachfolger unbedingt dazu. Wir haben in diesem Jahr versucht, dies mit dem Schwerpunkt Twitteratur seit 2009 ironisch aufzubrechen. Es entstand etwas ganz Eigenes. Nicht der Kontrast zwischen Alt und Neu, auch nicht das intellektuell vergleichbar simple Nachahmen, sondern ein dritter Weg. Verfremdung bedeutet, die Dinge nicht mehr in ihrer Evidenz darzustellen, sondern die dargestellten Zustände erst zu entdecken, indem man sie unterbricht und so ermöglicht, sich von ihnen zu distanzieren. Die Verfremdung, durch eine solche schockhafte, retardierende Unterbrechung, führt also zu einem Staunen, ob der entdeckten Zustände, das erst die kritische, nämlich nicht mehr in der allgemeinen Evidenz befangene, Stellungnahme des Publikums zu den Vorgängen, wie auch zur Art der Darstellung ermöglicht.

Wird Netz-Flüchtigkeit zur Text-Flüchtigkeit?

Hypertext bietet eine Erweiterung: Online-Sein heißt Verflüchti­gung, und im Glauben, alles zu erfassen, kann selbst der interessierte Leser doch nur seine Ohnmacht ange­sichts der Zeichenschwemme einge­stehen. Der se­man­tisch entris­sene Text tritt als Fließtext in Kon­kurrenz zu anderen Texten und Bildern, die immer auch auf den eigent­lichen Text als Diskurs­produkt zurückwirken. Auch die Text­intention ändert sich durch die mediale Verschiebung, sodaß die Netz-Flüchtigkeit zur Text-Flüchtigkeit wird. Natürlich kennt auch die Welt jenseits der Kunst eine vergleichbare Dichte von Information, vor allem im Internet, wo das Enzyklopädische in kollaborativer Anstrengung zu neuem Leben erweckt wird.

Die Aufgabe von Twitteratur:

• hat Haltung und kann auf die Frage „Wozu“ in einem Satz antworten.

• ist die Haltung der digitalen Naissance

• versteht digitale Technologie als künstlerische Möglichkeit

• versteht sich als Teil der Netzgesellschaft

• ist wagemutig, neugierig, provozierend

• versichert sich reflektierend der Themen der Gesellschaft

• ist vielformatig und lässt sich von neuen Formen inspirieren

• kann Komplexes komplex erzählen

• verwandelt sich vom Industrieliteratur zur fluiden Poesie

• ist kollaborativ und kooperativ, bindet jeden Mitarbeiter künstlerisch ein

• vernetzt sich mit der Welt und ist Zentrum eines künstlerischen Netzwerks

• macht die Organisation des Online-Archivs zu einem künstlerischen Gebilde

Die Kulturnotizen (KUNO) verstehen sich als Ort der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt. In dem die Themen behandelt werden, die die Menschen und die Gesellschaft bewegen und zwar mit maximaler formaler Freiheit. Die Themen, die die Menschen zum Lesen bewegen. In der Semantik des paradoxen Humors lehnt sich KUNO gegen die Zumutungen des Daseins auf. Twitteratur ist im Fluß, hier die Hochkultur, dort die Allesverfügbarkeit und auch Allesproduzierbarkeit durch das Internet – dies ist kein Gegensatz, sondern eher der Beweis für das Langlebige und Überzeitliche der Poesie. 

 

 

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Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019 (4. überarbeitete Auflage).

Das Hungertuch von Haimo Hieronymus in der Martinskirche, Linz am Rhein

Weiterführend →

KUNO hat unterschiedliche Autoren zu einen Exkurs zur Twitteratur gebeten, und glücklicherweise sind die Antworten so vielfältig, wie die Arbeiten dieser Autoren. Ein einführender Rezensionsessay von Holger Benkel in den Aphorismus. Ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. Über den Vorläufer der Twitteratur berichtet Maximilian Zander. Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Ulrich Bergmann sieht das Thema in seinem Einsprengsel ad gloriam tvvitteraturae! eher kulturpessimistisch. Für Karl Feldkamp ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Jesko Hagen denkt über das fragile Gleichgewicht von Kunst und Politik nach. Sebastian Schmidt erkundet das Sein in der Timeline. Gleichfalls zur Kurzform Lyrik haben wir Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Und sie machen erste Vorschläge, wie es zu kartographieren wäre. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Maximilian Zander berichtet über eine Kleinform der spanischen Literatur. Holger Benkel begibt sich mit seinen Aphorismen Gedanken, die um Ecken biegen auf ein anderes Versuchsfeld. Die Variation von Haimo Hieronymus Twitteratur ist die Kurznovelle. Peter Meilchen beschreibt in der Reihe Leben in Möglichkeitsfloskeln die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren. Sophie Reyer bezieht sich auf die Tradition der Lyrik und vollzieht den Weg vom Zierpen zum Zwitschern nach. Nur auf KUNO sind die Mikrogramme von A.J. Weigoni zu finden. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Mit dem fulminanten Essay Romanvernichtungsdreck! #errorcreatingtweet setzte Denis Ulrich den vorläufigen Schlußpunkt.