Peter Hille

 

»Es dauert höchstens zwanzig Minuten, Peter!« Er nickte lächelnd – aber er vergaß auch sofort wieder, daß er den Kopf nicht hin- und zurückbiegen durfte, von der Zeitung auf und nieder, und so kam’s, daß ich entweder das rechte oder das linke Auge nicht an seinem Platz oder die Nase zu lang im Verhältnis zur Stirn zeichnete. Und manchmal nahm er noch seinen Bleistift und beschrieb andächtig den weißen Rand des Zeitungsblattes.

»Du kannst gleich weiterzeichnen, schrecklicher Tyrann du!« sagte er und las mühsam entziffernd sein eigenes Schreiben. Es waren einige steinige Einfälle, die er seinem Myrdin und seiner Viviane ferner vermachen wollte. Und er zog die große vergilbte Papierrolle aus seiner Manteltasche und las von den beiden Menschen, die älter waren als Adam und Eva, von seinem Menschenpaar Myrdin und Viviane. Die sprachen eine Sprache, mit der am ersten Schöpfungstage sich Himmel und Erde erzählten – – sie waren mit der Erde zugleich erschaffen – gewachsen mit der Erde – aus der Erde; ja, das fand auch Peter … »Da magst du recht haben!«

Und er saß, den Kopf herabgesenkt auf den großen Lehnstuhl nahe dem Ofen in seinem olivenfarbigen Mantel, als ob er die Wärme mit sich nach Hause nehmen wollte.

Eines Abends klingelte es um halber Mitternacht – das sah Peter ähnlich. Seine Augen lachten mutwillig wie Knabenaugen, die einen Streich hinter sich hatten. »Der Verleger hat mir Vorschuß gegeben – Tino, toller Kerl, komm mit! Wir sitzen alle in der Weinrebe.«

Und Peter sah aus wie ein Bacchus, seine Seele war aufgeblüht wie einer der Weinberge in Alt-Athen. Und wir saßen um ihn im Kreise und sangen: fahrende Schüler, wie die Jünger des Weins aus der bacchantischen Szene seines Werkes »Des Platonikers Sohn«. Wir waren der Most, der Lenz des Weines, das Leben, das wildsüße Auf- und Niederbrausen.

»O Wein, du lieber, dummer Wein,

Was willst du da im Kerker sein?

Hervor du rieselnde Sonne,

Und laß die alberne Tonne.

Weißt du denn nicht, du dummer Wein,

Bin Bruder Lustig, frisch vom Rhein,

Ein Kenner erlesener Tropfen,

So laß mich nicht harren und klopfen!«

Am Morgen in meinem Halbschlaf sah ich Peter; durch seinen langen Bart guckten blaue und gelbe Weinaugen mutwilliger kleiner Dionysinnen mit roten Pausbäckchen und kecker Faunbuben mit frechen Schwänzchen. Und die neckten ihn und zupften ihn an seinen langen Kraushaaren, jauchzten und sprangen um den großen Bacchus, und ein ganz kleines, ängstliches Bacchüschen kroch in seine weite, weite Ohrmuschel. Und wir alle saßen zu seinen Füßen, und er erzählte von seiner Frühjugend, von seinen vielen Liebchen – ja, ja, Bacchus mußte verliebt sein!

*

Einmal an einem Wintermorgen kam Hugo, der Landsknecht, wie ihn Peter seines rauhen Organs und seiner kecken Launen wegen nannte. »Kommen Sie mit, Prinzessin! Peter ist krank, wir wollen ihn besuchen.« »Und wissen Sie auch, Hugo, daß heute sein Geburtstag ist?« Davon wußte er nichts, der Ungläubige. Und wir zogen gen Norden, und als wir durch das Tor seines Hauses traten, lagen vor uns Treppen, zu besteigen wie künstliche Gebirge aus Brettern. »Na, det is man scheene, dat Se sich bis her verstiegen han – – denken Se so wat, er is mir jestern dot in de Arme jeblieben! …« Und Peters gemütliche Wirtin drückte mich an ihren Busen, aus dem der dicke Atem jammerte. Und sie geleitete uns durch die Küche bis an Peters Kammertür, drückte diese behutsam auf und blickte zunächst vorsichtig durch die Spalte. »Nu kommen Se sachte rin!« – – Und da lag der Peter wirklich in seinem Nest halb aufgerichtet: ein kranker grimmiger Geier. Der Kragen seines Mantels hing wie ein dunkler Fittich über dem Bettgestell, und einer der Füße, mit dem Stiefel angetan, scharrte ungeduldig an der senfgelben tapezierten Wand. Als er uns sah, war es, als ob er uns nach und nach erst erkannte, und er fuhr durch seinen Bart wie ein reißender Herbststurm. »Setzt euch, wenn ihr Platz findet, ihr Einbrecher, ihr Störenfriede, setzt euch!« Aber nicht allein der Boden, sondern auch das tausendjährige Sofa war begraben unter großen, gelben Papierflocken. Wir setzten uns auf das kleine Fensterbrett und stellten unsere Füße sündhaft auf die gefüllten Säcke, die, wie wir später hörten, die Manuskripte der Dramen Peters enthielten. »Du, Peter, ich will dir den Doktor holen«, sagte der Landsknecht besorgt. Oh, und das klang so lächerlich, und die dicke Wirtin hatte et och jewollt, »er will aber nich.« »Der Doktor soll mir wohl Sonne oder Mairegen für meinen Katarrh verschreiben?« Und Peter lächelte wieder wie Frühlingsanfang, und auf einmal begann er laut zu reden: »Heute abend muß ich noch ins Theater.« Da fiel seine alte dicke Wirtin vor Schreck auf das tausendjährige Sofa. »Sie wollen im Thiater jehn, Sie?« »Na gewiß«, antwortete Peter und machte die Bewegung, aus dem Nest zu fliegen. In der Küche seufzte die Gute und meinte: »Na, so nötig hat er det Schreiben doch ooch nich, wo er bei uns is!« Und sie brachte ihm zur Fürsorge die dampfende Hafergrütze und zwei Schmalzstullen ins Zimmer. Und dann sich vor uns entschuldigend, sagte sie: »Er ist so reene wie eene Jungfer, ick seh schon, wie se ihm später in de Kirche uffbahren als Heiligen.«

Es war ein kalter Nachmittag; der Mond blähte sich auf zwischen seinen Sternen wie ein goldener Bauch, ein wohlbeleibter Dukatenmillionär. Peter und ich wanderten wohl schon stundenlang durch die Straßen Berlins, durch die Bleiluftgegenden mit den kahlen, grauen Häusern, in denen der Hunger mit seinen tausenden Kindern wohnt. Und über dieser Gegend spazierte behaglich durch das weite Land der Wolken der fette Mond, der satt an Gold getrunkene Mond. »Aber, Tino, ich wußte ja gar nicht, daß du ein kleiner Bebel bist.« »Ja, ich denke an die armen, blassen Kinder, die nie in die Sonne sehen, und an dich, Peter, an dich, dem die Welt ihr jubelndstes, tiefstes Spiel schenkte und das Leben eine Stiefmutter ist.« »O du Fromme«, sagte Peter leise zu mir. Nach einer Weile blieb er unter einer Laterne stehen, nahm ein kleines schwarzes Heftchen aus der großen Manteltasche und schrieb.

Das tat er oft, und ich ging gemächlich des Weges weiter. Wir kamen über einen großen Platz. Vielleicht gaben die schloßartigen Bauten mit den gegossenen Toren, die eisernen Hüter der königlichen Gärten, Peter den Anlaß, mir zu erzählen, daß sein Vater der Fürst S. aus Westfalen sei und seine Mutter eine Leibeigene. Ich war gar nicht verwundert darüber, als ich seine schlanken Hände betrachtete.

»Meine Mutter«, erzählte er weiter, »war eine stille, blasse Frau. Ich kann mich kaum an den Ton ihrer Stimme erinnern; aber als ich meine ›Brautseele‹ dichtete, hörte ich ihr Blut aus meinem Herzen singen, sanft und dann sehnsuchtswild, wie eine einsame Spätherbstblume.« Wir schwiegen beide lange Zeit, über Erinnerungen wandelnd, bis es Abend läutete und die Glocken uns erweckten.

Wir fragten einen Mann, der an uns vorübereilte: »Wie kommen wir aus dem Tiergarten wieder auf die Straße?« Und wir bogen und wendeten uns, bis wir glücklich den Weg wiederfanden. »Sieh, Tino, hier tief im Dickicht habe ich Wochen zugebracht und Dunkelheiten getrunken! Oh, das waren einzige Gottnächte!«

Aber ich sah schmerzlich auf seine eingefallenen Wangen.

*

Ich ging, meiner Ahnung vertrauend, voraus. Peter studierte indessen noch die Hausnummern gegenüber dem großen Gebäude, in das ich eintrat. Und wirklich, hier wohnte Gerhart Hauptmann. Er kam mir schon im Treppenflur entgegen, ja, er war es. »Herr Hauptmann, ich bringe Ihnen den Peter Hille lebendig hier; er hätte sicherlich wieder die verabredete Stunde versäumt.« »Sah ihn schon von meinem Fenster aus«, rief Gerhart Hauptmann, »und komme, den Peter selbst heraufzuholen.« Und der Herrliche sagte zu Hauptmann, mir schelmisch zunickend, »dies ist mein Kamerad, Tino nenne ich sie. Es ist der Name ihres Blutes, die grünrote Ausstrahlung ihrer Seele.« Wir setzten uns, nachdem Hauptmann zärtlich den Mantel von Peter Hilles Schulter genommen hatte. Auf den Tischen lagen überall Journale, die meines Propheten Dichtungen enthielten, auch des Platonikers Sohn fehlte nicht, das wundergroße Schauspiel. Hauptmann schwang es triumphierend in die Höhe. Und ich hörte lauter Melodien; der Dichter Worte wurden Lieder. Und Hauptmanns stolzes Gesicht neigte sich seinem hohen Gaste zu, die Quelle seines Herzens zu erreichen, denn wie aus Leben gehauen saß Peter Hille in dem weiten, klaren Raum, sein Bart wallte ungeheuer.

 

 

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Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920

Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.