Zur Zeit ist viel von ‚kultureller Aneignung‘ die Rede. In Bern zum Beispiel. Da wurde eine Band junger Schweizer Mundartmusiker zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit ausgeladen, weil sie als Weiße jamaikanische Reggae-Musik spielten und einige Mitglieder der Band zudem auch noch Dreadlocks trugen. Zahlreiche Gäste fühlten sich unwohl, empfanden es als übergriffige kulturelle Aneignung. Ähnliches passierte vor Monaten der weißen, ebenfalls Rastalocken tragenden Sängerin Ronja Maltzahn. Ein Auftritt von ihr bei einer Kundgebung von Fridays for Future in Hannover wurde ebenfalls gestrichen. Die Begründung, so die taz in einem Artikel: „Man wolle bei diesem ‚globalen Streik auf ein antikolonialistisches und antirassistisches Narrativ setzen‘ und könne es daher nicht vertreten, eine weiße Person auf der Bühne zu haben, die sich Schwarze Kultur aneigne – ohne die systematische Unterdrückung dahinter erlebt zu haben“.
Um eines vorweg zu sagen: Angesichts von über 500 Jahren brutaler, menschenverachtender und auch kulturell übergriffiger europäischer Kolonialgeschichte ist der Kontext des Problems, in dem diese Debatte stattfindet, nach wie vor höchst virulent und längst nicht aufgearbeitet – beispielhaft stehen dafür Belgien und die Niederlande mit ihrer unbewältigten kolonialen Vergangenheit im Kongo resp. in Indonesien. An dieser Stelle soll jedoch zunächst einmal nur der Begriff ‚kulturelle Aneignung‘ als solcher betrachtet werden. Denn es scheint, dass er in der allgemeinen Diskussion etwas unbedacht verwendet wird. Was anhand einiger Fragen schnell deutlich wird: Was genau ist unter ‚kultureller Aneignung‘ zu verstehen? Angenommen, die Frage könnte zufriedenstellend beantwortet und der Begriff damit zufriedenstellend definiert werden. Dann schließt sich flugs die nächste Frage an: Wer hat diesen Begriff definiert? War der oder die oder die Gruppe dazu legitimiert, diese Definition zu erstellen? Und wenn ja: Wer oder was hat ihn oder sie oder die Gruppe dazu legitimiert, diese Definition zu erstellen? Sollte diese Frage ebenfalls zur Zufriedenheit beantwortet werden können, stellt sich jedoch automatisch eine weitere Anschlussfrage: Wer oder was hat ihn oder sie oder die Gruppe dazu legitimiert, ihn oder sie oder die Gruppe zu legitimieren, diese Definition zu erstellen? Diese Frage generiert, sollte denn auch sie zur Zufriedenheit beantwortet werden können, natürlich ihrerseits eine Anschlussfrage: Wer oder was hat ihn oder sie oder die Gruppe dazu legitimiert, ihn oder sie oder die Gruppe zu legitimieren, ihn oder sie oder die Gruppe dazu zu legitimieren, diese Definition zu erstellen? Unschwer zu erkennen, dass wir hier in einer Art Teufelskreis gefangen sind: Es gibt kein Ende, jede Frage nach der Legitimation generiert stets eine weitere Frage nach der Legitimation. So wie Kinder einen um den Verstand bringen können, weil sie jede Antwort auf ihre Warum-Frage mit wachsender Begeisterung mit einer weiteren Warum-Frage parieren.
Um das Spiel zu beenden, können wir natürlich mit der Faust auf den Tisch hauen. Dies wäre in unserem Fall allerdings die denkbar unangemessenste Reaktion – gleichwohl die einzige, die den Teufelskreis unterbrechen würde. Sieht man einmal von der Möglichkeit ab, das grundsätzliche Problem für den Augenblick einfach zu ignorieren. Was wir jetzt tun wollen. Nähern wir uns also stattdessen der Frage nach der ‚kulturellen Aneignung‘ von einer anderen Seite und fragen danach, wo denn die Grenzen kultureller Aneignung gezogen werden. Oder werden sollen. Müssen. Oder können. Beginnen wir bei besagten Dreadlocks. Sie sind das ikonische Merkmal einer in den 30er Jahren auf Jamaika entstandenen Bewegung unter der dortigen schwarzen Bevölkerung, der Rastafari. Dass sie, zumindest ursprünglich, eine ausgesprochen patriarchale Struktur besaß und von einer Lesben- und Schwulen-Feindlichkeit geprägt war, wird für gewöhnlich geflissentlich übersehen. Dieser Umstand ist zwar höchst bemerkenswert, aber hier nicht weiter von Belang. Von Belang ist lediglich der kulturelle Hintergrund und mit ihm die Vertreter dieser Kultur.
Angenommen, wir haben in unserem Freundeskreis einen ausnehmend sympathischen jungen Mann. PoC. Ein Schwarzer mit Dreadlocks, dessen Eltern Jamaikaner*innen sind. Allerdings hat der junge Mann im Sinne unserer Frage gleich mehrere Makel: Er ist nicht nur in Deutschland geboren, spricht nicht nur ausgezeichnetes Deutsch und besitzt nicht nur einen deutschen Pass – er ist auch durchgehend in Deutschland sozialisiert. Zeit seines Lebens. Ein Deutscher durch und durch. War nie auch nur in der Nähe von Jamaika. Fallen seine Dreadlocks nun unter ‚kulturelle Aneignung‘, weil seine kulturelle Sozialisation ausnahmslos eine war, die sich im geradezu klassisch-piefigen, deutsch-spießbürgerlichen Milieu abspielte und der junge Mann, anders als viele PoC in der deutschen Realität, nie ausgegrenzt, bedroht oder benachteiligt wurde? Oder sind die Dreadlocks bei ihm keine kulturelle Aneignung, weil ja zwei zur Definition offensichtlich relevante Eckdaten, die bei ihm vorliegen – erstens PoC, zweitens Eltern aus Jamaika –, das zu rechtfertigen scheinen? Wobei die Relevanz einer der beiden Eckdaten – Eltern aus Jamaika – für die Akzeptanz augenscheinlich keine nennenswerte Rolle spielt (da kommt gleich Whoopi Goldberg ins Spiel). Sollte dies tatsächlich der Fall sein, würde kulturelle Aneignung nicht über kulturelle Sozialisation, ja nicht einmal über ethnische Zugehörigkeit, sondern eher auf Basis der DNA definiert werden. Was natürlich eine recht heikle Bestimmung wäre, wären wir damit doch nicht mehr allzu weit von der Rassentheorie entfernt (und das ausgerechnet hier, wo ein antirassistisches Narrativ gesetzt werden soll).
Angenommen, wir wüssten nichts über die Herkunft unseres jungen Mannes. Wir wüssten lediglich das Offensichtliche: Unser junger Mann ist ein Dreadlock-tragender PoC. Unabhängig davon, ob er jemals persönlich Ausgrenzung, Benachteiligung, Bedrohung oder systematische Unterdrückung erlebt hat oder nicht. Unabhängig davon, ob er in einer ‚Schwarzen Kultur‘ sozialisiert wurde oder nicht. Unabhängig davon, ob er als PoC überhaupt damit einverstanden wäre, dass wir als Weiße (sic!) allein das Faktum seiner Hautfarbe als relevantes Kriterium für die Berechtigung nehmen, auf ihn als Einzelperson die gesamte grausame koloniale Hegemonialgeschichte des Abendlandes zu projizieren. Und auch unabhängig davon, ob er nicht genau das als eine besonders perfide Variante unserer typisch selbstbesoffenen westlichen Übergriffigkeit empfinden würde: Hand aufs Herz – reicht nicht den Meisten von uns allein schon das Offensichtliche, die Hautfarbe, um ein Urteil darüber zu fällen, ob es sich um kulturelle Aneignung handelt oder nicht, wenn jemand Dreadlocks trägt?
Die Tradition der Dreadlocks entstand nicht in Hamburg. Auch nicht in Boston, Massachusetts. Oder im brasilianischen Sao Paulo. Sie entstand auf Jamaika. Die kulturelle Rahmung lautet also keineswegs pauschal: ‚Culture of PoC‘. Damit würden wir alles unisono in einen Topf werfen. Und uns damit keineswegs als woke, sondern vielmehr als postkolonial erweisen. Die Rahmung sollte eher lauten: ‚Culture of the PoC of Jamaica‘. Allerdings ist die Tradition der Dreadlocks eine Tradition der Schwarzen, nicht die anderer PoC. Weshalb man in diesem Fall vielleicht eher von ‚Schwarzen Menschen‘ sprechen sollte, Black People (BP). Die kulturelle Rahmung würde demnach nicht ‚Culture of the PoC of Jamaica‘ lauten, sondern präziser: ‚Culture of the BP of Jamaica‘. Was aber, wenn ein junger Inder in Boston, Massachusetts, sich dazu entscheidet, Dreadlocks zu tragen? Unabhängig davon, wie jemand das nun persönlich empfindet: Handelt es sich dabei de facto um kulturelle Aneignung oder nicht? Und was ist mit besagter Whoopi Goldberg? Sie ist die wohl bekannteste Trägerin dieser Frisur. Aber sie ist eindeutig nicht auf Jamaika sozialisiert, sondern in New York City. Kulturelle Aneignung oder nicht? Nicht? Warum nicht? Weil sie ein Schwarzer Mensch ist? Ist demnach ‚Schwarz sein‘ ein hinreichendes Kriterien dafür, dass es sich bei den entsprechenden Träger*innen von Dreadlocks nicht um kulturelle Aneignung handelt? Hat Whoopi Goldberg allein aufgrund ihrer Hautfarbe die ‚Schwarze Kultur‘ in sich aufgesogen? Ist damit allgemein akzeptiert, dass sie Dreadlocks tragen kann, ohne der kulturellen Aneignung bezichtigt zu werden? Wenn ja: Wie haben wir uns dieses Aufsaugen der Kultur vorzustellen? Ist die systematische Unterdrückung der Schwarzen in den USA, in der Karibik, in Südafrika oder Rhodesien ihr in die Seele inskribiert? Wenn ja: Wie haben wir uns diese Einschreibung im Detail vorzustellen? Spielt etwa der konkrete jamaikanische kulturelle Kontext keine Rolle bei der Beantwortung der Frage, wann das Tragen von Dreadlocks eine Form kultureller Aneignung darstellt?
Versuchen wir einmal für einen Moment dem Begriff ‚kulturelle Aneignung‘ die aktuelle Brisanz zu nehmen und betrachten ihn wertfrei als die Bestimmung eines Sachverhalts: Der FC Bayern München hat irgendwann die folkloristische Neigung entwickelt, seine Mannschaft – und damit auch seine Neuverpflichtungen – beim alljährlichen Lederhosen-Fotoshooting bei Paulaner am Nockherberg zu präsentieren. Dieses Jahr war der vom FC Liverpool verpflichtete Senegalese Sadio Mané mit dabei. So weit, so gut. Aber ein PoC, der eindeutig nicht im bayrischen Kulturraum sozialisiert wurde, in geradezu prototypischer bayrischer Tracht? Kulturelle Aneignung oder nicht? Brechen wir den Sachverhalt spaßeshalber einmal etwas herunter: Was ist mit den Heerscharen von Saupreiß’n, japanischen/schwedischen/westfälischen, die jedes Jahr das Oktoberfest mit ihren Dirndln und Lederhosen bevölkern? Kulturelle Aneignung oder nicht? Vom Japaner und Schweden ja, vom Westfalen nein? Oder von allen? Oder von niemandem? Wenn ja, warum nicht? Wenn niemand von ihnen in der bayrischen Kulturlandschaft aufgewachsen ist, sollte das Tragen dieser gewöhnungsbedürftigen Kleidungsstücke doch als kulturelle Aneignung empfunden werden (was zumindest bei vielen bayrischen Traditionalisten ja auch der Fall ist). Was ist nun, wenn arabische oder asiatische Geschäftsleute in Anzug und Krawatte auftreten? (K)eine Form kultureller Aneignung? Oder ist etwa dieser Begriff ‚kultureller Aneignung‘ unidirektional, reserviert für den weißen Mann und die weiße Frau, da ihm eine gewisse koloniale Konnotation zugeschrieben wird: Kulturelle Aneignung von Elementen, die Bi_PoC zugehörig sind, ist für Weiße tabu, weil sie mit jahrhundertelanger systematischer Unterdrückung verbunden ist? Können also allein Weiße den Tatbestand ‚kulturelle Aneignung‘ erfüllen, alle anderen per definitionem nicht? Sollte dies der Fall sein: Wer wäre dazu legitimiert, diese Definition zu formulieren? Und wer hätte wiederum sie oder ihn oder die Gruppe dazu legitimiert, diese Definition zu erstellen…und wer hätte wiederum sie oder ihn oder die Gruppe dazu legitimiert, sie oder ihn oder die Gruppe zu legitimieren, diese Definition zu erstellen… und wer hätte wiederum sie oder ihn oder die Gruppe dazu legitimiert, sie oder ihn oder die Gruppe zu legitimieren, sie oder ihn oder die Gruppe zu legitimieren, diese Definition zu erstellen…und…wieder schließt sich der Teufelskreis…
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KUNO irritiert seit einiger Zeit, daß die Freiheit des Ausdrucks immer mehr reglementiert werden soll. Eine Ernüchterungskompensationsbewegung will die Parole Liberté, Égalité, Fraternité durch die der Identität ersetzen. Eine Glosse zum Thema, sowie Übungen für Correctless von Angelika Janz.
Weiterführend →
KUNO würdigte das Buch Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? von Stefan Oehm mit einem Rezensionsessay. – Eine Leseprobe finden Sie hier.