- Differenzierung
2.1
In dem Augenblick, in dem das Kind die Infrastruktur geteilter Intentionalität ausbildet, wird es zum Handlungssubjekt, zum aktiv mitgestaltenden Teil seiner Lebenswelt. Ab dem zweiten Lebensjahr treten die Kinder zunehmend in die Phase des Erwerbs der gesprochenen Sprache ein. Während dabei die Funktion der Zeigegesten erhalten bleibt, werden demgegenüber ikonische Gesten zunehmend weniger zu kommunikativen Zwecken benutzt. Diese Funktion übernimmt mehr und mehr die gesprochene Sprache. Ikonische Gesten werden stattdessen zu spielerischen Zwecken ‚umgeleitet‘: Kleinkinder entwickeln auf ihrer Basis das „So-tun-als-ob-Spiel“ (Tomasello 2017: 167). Ich ‚trinke‘ aus einer leeren Tasse – das heißt, ich tue so, als ob ich trinken würde. Mit dieser Form des Spiels beschäftigen sich die Kinder ihre gesamte Kindheit über „und werden dann schließlich zu Erwachsenen, die sich allen möglichen Arten von künstlerischen Unternehmungen widmen wie zum Beispiel dem Theater und der darstellenden Kunst“ (ebd.: 167; cf. auch Oehm 2019b: 340f.). Das ‚So-tun-als-ob-Spiel‘[1] der Kinder, dessen Entwicklung ohne die ausgebildete Infrastruktur geteilter Intentionalität nicht möglich wäre, würde sich somit als erstes Stadium der Entwicklung zumindest der darstellenden Künste erweisen.
Generell basiert das menschliche Spiel als eine Form kooperativer Zusammenarbeit und sozialer Interaktion auf den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Motivationen geteilter Intentionalität. Wer nun nicht über diese ontogenetisch etablierte psychologische Infrastruktur geteilter Intentionalität verfügt, kann sich prinzipiell nicht an der situativen Ausgestaltung und Umsetzung sozialer Aktivitäten und damit an den spezifisch menschlichen Formen der Zusammenarbeit und Kommunikation beteiligen, bei denen ein ‚Wir‘, das heißt ein Subjekt im Plural auftritt: „Die unabdingbare Voraussetzung gemeinschaftlicher Handlungen ist ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Festlegung der Beteiligten darauf, dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen“ (Tomasello 2017: 195). Zu den gemeinsamen Absichten und geteilten Überzeugungen gesellen sich als weitere unabdingbare Voraussetzungen noch ein wechselseitiges Hintergrundwissen (das heißt, um ein bei den in der gleichen Lebenswelt sozialisierten Beteiligten wechselseitiges implizites Wissen) sowie die gemeinsame Aufmerksamkeit dazu. Das heißt, diese ontogenetisch etablierte psychologische Infrastruktur geteilter Intentionalität kennzeichnet die dispositionelle Grundverfassung des Menschen auf der Handlungsebene – hinter sie kann der Mensch, ist sie einmal etabliert, im gesunden Zustand nicht mehr zurückgehen:
- Ontogenetische Ebene: Geteilte Intentionalität/Wir-Intentionalität als elementare psychologische Infrastruktur menschlich-kooperativer Akte und dispositionelle Grundverfassung des Menschen.
- Handlungsebene: Jegliche menschliche Handlung präsupponiert die ontogenetisch einmal etablierte Infrastruktur der geteilten Intentionalität (A.), unabhängig davon, welche Form der Intentionalität bei den Beteiligten im Vollzug einer aktualen Handlung situativ gegeben ist.
Das heißt, die geteilte Intentionalität als die im Vollzug einer aktualen Handlung situativ vorliegende Intentionalitätsvariante, wie sie von Wilfrid Sellars, Raimo Tuomela, Kaarlo Miller, John R. Searle, Michael Bratman, Margaret Gilbert, Frank Liedtke u.a. diskutiert wird, und die geteilte Intentionalität als elementare psychologische Infrastruktur menschlich-kooperativer Akte, wie sie Michael Tomasello beschreibt, sind auf zwei verschiedenen Ebenen zu verorten.
2.2
Menschen sind nun, anders als Menschenaffen, in der Lage, von sich zu abstrahieren und bei Bedarf die Rolle des anderen einzunehmen: „(M)enschliche Kleinkinder (verstehen) die gemeinsame Tätigkeit aus einer ‚Vogelperspektive‘“ (ebd.: 193). Spielen Schimpansen, so spielen sie stets sich. Spielen Menschen, so spielen sie sozial interaktiv. Die Vorstellung der gemeinsamen Tätigkeit des menschlichen Spiels bedeutet demnach, dass das Spiel als soziale Interaktion stets aus Spieler und Mitspieler besteht, die um die Rollen des jeweils anderen wechselseitig wissen und bei Bedarf imstande sind, die Perspektive zu wechseln und die Rollen zu tauschen. Selbst wenn das Kind alleine spielt, spielt es mit sich, ist es sich selbst Mitspieler (das wird deutlich, wenn Kinder verträumt mit ihren Puppen Rollenspiele spielen). Mit anderen Worten: Die Kategorie ‚Mitspieler‘ ist eine originär soziokulturelle, die in allen Formen sozialer Interaktion gegeben ist – im ‚Spiel‘ und der ‚Kunst‘ ebenso wie im ‚Dialog‘.
Wollen wir den Begriff ‚Mitspieler‘ aber nun in einem nicht allein auf das Spiel als soziale Interaktion beschränkten, sondern die sozialen Institutionen übergreifenden Sinn verwenden, müssen wir uns zunächst vor Augen führen, dass der Gebrauch des Wortes Mitspieler (cf. Differenzierung des Gebrauchs des Wortes Kunst in: Oehm 2019: 272) auf verschiedenen Ebenen stattfinden kann. Dabei erzeugen die „Gebrauchsregeln (…) die Kategorien, nach denen wir unsere Welt klassifizieren“ (Keller 2018: 127), wobei diese Gebrauchsregeln nichts anderes sind als die Bedeutungen, aus denen sich die Begriffe bilden. So lassen sich auf zwei verschiedene Ebenen mindestens drei Gebrauchsweisen des Wortes Mitspieler differenzieren:
- Mikroebene -> Gebrauch des Wortes Mitspieler (Handlungsebene: Ebene konkreter episodaler Ereignisse):
BM : Mitspieler – bezogen auf ein konkretes kompetitives Spiel, ein spezifisches Werk der modernen Kunst, einen situativen Dialog etc.
- Makroebene -> Gebrauch des Wortes Mitspieler (Ebene sozialer Institutionen):
CM.1 : Mitspieler – bezogen auf episodale Ereignisse spezifischer überindividueller sozialer Institutionen (z.B. kompetitives Spiel, moderne Kunst, Dialog)
CM.2 : Mitspieler – bezogen auf spezifische überindividuelle soziale Institutionen (z.B. Spiel, Kunst, Kommunikation)
Damit aber nicht genug. Denn wir haben es zum Beispiel bei kompetitiven Team-Spielen (kT) wie etwa dem Fußball oder dem Eishockey auf der Handlungsebene – das heißt: auf der uns hier vornehmlich interessierenden Mikroebene konkreter Ereignisse (1.) – zudem mit mindestens drei verschiedenen Typen von Mitspielern (M) zu tun:
BM.kT.1 : Die ‚Mitspieler‘ als Spieler meines Teams, die mit mir in gemeinschaftlicher Handlung agieren. Das heißt: ‚Wir‘ haben ein gemeinsames Ziel. Darüber hinaus besteht eine gemeinsame Festlegung aller Beteiligten, dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen.
BM.kT.2 : Die ‚Mitspieler‘ als Gegenspieler, also als Spieler des gegnerischen Teams, die auch in gemeinschaftlicher Handlung agieren und als ‚Wir‘ ebenfalls ein gemeinsames Ziel haben, bei dem eine gemeinsame Festlegung aller Beteiligten besteht, dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen.
BM.kT.3 : Die ‚Mitspieler‘ im Sinne Hans-Georg Gadamers, also als Zuschauer. Das heißt: der am Spiel teilnehmenden Beobachter. Sie sind konstitutiv für das Spiel[2]. Ohne sie wäre ein Spiel kein Spiel (eine Ahnung davon bekommen wir gerade ganz konkret in Zeiten leerer Stadien angesichts der Corona-Schutzmaßnahmen). Dabei ist das Spiel für Gadamer geradezu Wesensbestimmung der Kunst: als ein freies Spiel, das ohne den Mitspieler im Sinne dieser dritten Bestimmung nicht bestehen kann. Er nennt es „die participatio, die innere Teilnahme“ (Gadamer 2012: 39). „(D)er Zuschauer ist offenkundig mehr als nur ein bloßer Beobachter, der sieht, was vor sich geht, sondern ist als einer, der am Spiel ‚teilnimmt‘, ein Teil von ihm“ (ebd.: 39). Und weiter in einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übriglässt: „Der Mitspieler gehört zum Spiel“ (ebd.: 42), das wir als ‚Kunst‘ im Sinne einer sozialen Institution bezeichnen (auf der Handlungsebene etabliert der Mitspieler, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe [Oehm 2019a: 15, auch Oehm 2019b: 194], durch seine teilnehmende Rezeption des Werks das Werk als Kunst-Werk: als rein subjektive, flüchtige Signatur des Mitspielers, die keinen Bestand hat. Sie gehört nicht zum Werk selber, sondern ist der Disposition des Mitspielers geschuldet. Besitzt er keine diesbezügliche Disposition, keine Empfänglichkeit, wird das betreffende Werk ihm auch ‚nichts sagen‘.).
Bleiben wir einen Moment auf der Mikroebene konkreter Ereignisse und dort bei den kompetitiven Teamspielen (kT): Hier ist zum einen zu beachten, dass, treten zwei Mannschaften gegeneinander an, diese intern jeweils als ‚Wir‘ konvergierende Interessen verfolgen, die extern jedoch als divergierende Interessen wahrgenommen werden: Jeder will gewinnen, will den anderen besiegen. Und zum anderen: Auf der Metaebene des regelgeleiteten kompetitiven Spiels spielen beide Mannschaften ein gemeinsames Spiel. Das heißt, es besteht eine spezifische Konvergenz zwischen diesen beiden konkurrierenden Mannschaften: beide agieren in korrespondierender Handlung und haben, auf Basis der gemeinschaftlich akzeptierten Regeln, ein gemeinsames Ziel, bei dem eine gemeinsame Festlegung aller Beteiligten besteht, dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen: Möge der Bessere gewinnen!
Bei der Bestimmung der jeweilig vorliegenden Intentionalität auf der Mikroebene konkreter Ereignisse, der Handlungsebene (B.), gilt es im Rahmen regelbasierter kompetitiver Team-Spiele also zumindest drei verschiedene Formen der Intentionalität zu differenzieren:
- Die geteilte Intentionalität (gINT), die intern innerhalb eines Teams (als konvergierendes Interesse) bei Spielern und Mitspielern vorliegen muss.
- Die kollektiv-selbstbezogene Intentionalität (ksINT), als die sich die geteilte Intentionalität eines Teams extern dem gegnerischen Team (als divergierendes Interesse) gegenüber darstellt.
- Die korrespondierende Intentionalität (kINT) der konkurrierenden Teams eines kompetitiven Spiels: Beide verfolgen ihre jeweils selbstbezogenen Ziele im Rahmen geteilter Intentionalität auf Basis gemeinsam akzeptierter Regeln.
- Beschreibung
3.1
Es lässt sich also festhalten: Die im Vollzug aktualer Handlungen situativ vorliegenden diversen Intentionalitätsvarianten, so auch die der geteilten Intentionalität (gInt), präsupponieren die ontogenetisch ausgebildete psychologische Infrastruktur geteilter Intentionalität. Nach ihrer Ausbildung im frühen Kindesalter zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr ist jede Form kommunikativer Akte in diese infrastrukturelle Gegebenheit eingebettet, sie ist uns mithin zur eigentlichen Natur geworden. Der Mensch kann, so hat es Paul Watzlawick einmal prägnant formuliert, nicht nicht kommunizieren. Tomasellos Forschungsergebnisse zeigen nun, dass der Mensch nicht nur stets kommuniziert, sondern dies auch immer auf Basis der Infrastruktur geteilter Intentionalität tut (eine Störung dieser prinzipiellen infrastrukturellen Gegebenheit deutet deshalb in der Regel auf eine psychotische Krise hin).
Jede Form menschlich-sozialer Interaktion erweist sich demnach strukturell als intersubjektives Unternehmen mit wechselseitig vorausgesetzter prosozialer Motivation zur Kommunikation: Was den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, ist seine Fähigkeit, die reflexive Intention des anderen erkennen zu können. Er kann von sich abstrahieren, kann die Rolle des anderen einnehmen und die gemeinsame Tätigkeit aus einer Vogelperspektive betrachten. Mit anderen Worten: Der Mensch spielt nie allein, selbst wenn er allein ist. Er agiert als Mensch stets im Rahmen der Struktur Spieler – Mitspieler. Auf der Handlungsebene, der Mikroebene konkreter episodaler Ereignisse, haben wir nun, beispielhaft für die soziale Interaktion ‚konkretes kompetitives Spiel‘, vorerst drei verschiedene Typen von ‚Mitspielern‘ differenziert (Mitspieler als Spieler meines Teams, als Gegenspieler sowie als Zuschauer), bei denen wiederum zumindest drei Intentionalitätsvarianten zu differenzieren sind: die geteilte, die kollektiv-selbstbezogene sowie die korrespondierende Intentionalität:
Kompetitives Teamspiel
BM.kT.1 -> gINT : Die ‚Mitspieler‘ als Spieler meines Teams, die mit mir auf Basis geteilter Intentionalität (gINT) in gemeinschaftlicher Handlung agieren. Das heißt: ‚Wir‘ haben ein gemeinsames Ziel. Darüber hinaus besteht eine gemeinsame Festlegung aller Beteiligten, dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen: ‚Wir‘ wollen gegen das andere ‚Wir‘ gewinnen.
BM.kT.1 -> ksINT : Die Intentionalität, die sich innerhalb eines Teams als geteilte Intentionalität mit konvergierenden Interessen darstellt, stellt sich gegenüber dem konkurrierenden Team als kollektiv-selbstbezogene Intentionalität (ksINT) mit divergierendem Interesse dar: Das andere ‚Wir‘ will gegen ‚Uns‘ gewinnen.
BM.kT.1 -> kINT : Bei einem regelgeleiteten kompetitiven Spiel spielen die konkurrierenden Mannschaften – und damit die jeweiligen ‚Mitspieler‘ auf beiden Seiten – in spezifischer Hinsicht ein gemeinsames Spiel. Beide ‚Wir‘ agieren auf Basis gemeinschaftlich akzeptierter Regeln mit korrespondierender Intentionalität (kINT). Das heißt, sie haben, trotz aller Konkurrenz, ein gemeinsames Ziel, bei dem eine gemeinsame Festlegung aller Beteiligten besteht, dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen: Möge der Bessere gewinnen!
BM.kT.2 -> gINT : Die ‚Mitspieler‘ als Gegenspieler, also als Spieler des gegnerischen Teams, agieren auch auf Basis geteilter Intentionalität (gINT) in gemein-schaftlicher Handlung. Dabei haben sie, vice versa, als ‚Wir‘ ein gemeinsames Ziel, bei dem eine gemeinsame Festlegung aller Beteiligten besteht, dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen: ‚Wir‘ wollen gegen das andere ‚Wir‘ gewinnen.
BM.kT.2 -> ksINT : Analog zu BM.kT.1 -> ksINT stellt sich die Intentionalität der Gegenspieler, die sich ihnen intern als geteilte Intentionalität mit konvergierenden Interessen darstellt, ‚Uns‘ als kollektiv-selbstbezogene Intentionalität (ksINT) mit divergierendem Interesse dar: Das andere ‚Wir‘ will gegen ‚uns‘ gewinnen.
BM.kT.2 -> kINT : entspricht als korrespondierende Intentionalität (kINT) der beiden konkurrierenden Mannschaften BM.kT.1 -> kINT
BM.kT.3 : Die ‚Mitspieler‘ als teilnehmende Zuschauer nehmen eine spezifische Rolle ein. Einerseits sind sie konstitutiv für kompetitive regelbasierte Spiele, andererseits sind sie aber nicht unmittelbar an diesem Spiel beteiligt. Sie gehören laut Regelwerk nicht zu den Spielern eines Teams und damit qua definitionem zu keinem der beiden möglichen ‚Wir‘. Auch wenn die emotionale Identifikation des einen oder anderen Zuschauers mit seiner Mannschaft bisweilen so weit gehen kann, dass sie in ihrem Selbstverständnis durchaus zu einem ‚Wir‘ gehören, ja manchmal sogar meinen, das wahre ‚Wir‘ zu repräsentieren (aber dieses ‚Wir‘ liegt auf einer anderen Ebene). Ihre Intentionalität als teilnehmende Zuschauer ist dementsprechend nicht integraler Bestandteil der Spielhandlung, also weder der geteilten, kollektiv-selbstbezogenen oder korrespondierenden Intentionalität der teilnehmenden Spieler zuzuordnen.
3.2
Ein gemeinsames Ziel und die gemeinsame Festlegung zu haben, eben dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen, scheint ein durchgehendes Merkmal aller kompetitiven Team-Spiele zu sein. Analoges lässt sich von der disputatio[3], die im Mittelalter übliche und mithin regelgeleitete Form der Klärung wissenschaftlicher Streitfragen, sagen. Ihr gemeinsames Ziel war nicht, wie bei einem komplementären Sprechakt, die ‚kooperativ erarbeitete und komplementär hergestellte Deutung‘, sondern die ‚schlüssigste Deutung‘. Hier wie in typisch kompetitiven Team-Spielen (Fußball, Basketball, Eishockey etc.) konkurrierten Spieler und Gegenspieler auf Basis gemeinschaftlich akzeptierter Regeln mit korrespondierender Intentionalität miteinander: Es handelte sich bei allen Teilnehmern der disputatio um ‚Mitspieler‘, die insofern eine gemeinsame Handlung ausführten, als dass sie ein gemeinsames Ziel verfolgten – möge der Bessere gewinnen. Die ‚Mitspieler‘ der eigenen Mannschaft besaßen bei konvergierenden Interessen im Innenverhältnis eine geteilte Intentionalität, die sich als kollektiv-selbstbezogene Intentionalität bei divergierenden Interessen im Außenverhältnis gegenüber der konkurrierenden Mannschaft darstellte.
Kommt es bei den Beteiligten kompetitiver Team-Spiele[4] zu Abweichungen vom gemeinsamen Ziel ,Möge der Bessere gewinnen!‘ (Spieler/Team verlassen während des laufenden Spiels das Spielfeld; Spieler/Team spielen während des Spiels im Sinne des gegnerischen Teams; Spieler/Team nehmen nicht am Spiel teil etc.), so liegt bei ihnen offensichtlich nicht die für den erfolgreichen Vollzug der Spielhandlung erforderliche geteilte, kollektiv-selbstbezogene und korrespondierende Intentionalität vor: ‚Mitspieler‘ (‚Spieler des eigenen Teams‘ oder ‚Gegenspieler‘) kann auf der Handlungsebene nur der sein, der die Regeln und Implikationen des jeweiligen kompetitiven Spiels kennt und beachtet, sich also ihnen entsprechend verhält. ‚Mitspieler‘ sind in kompetitiven Team-Spielen aber nicht allein die unmittelbar an dem Spiel Beteiligten, sondern zudem auch die teilnehmenden Zuschauer. Welche Bedingungen nun jemand erfüllen muss, um nicht nur bloßer Beobachter, sondern teilnehmender Zuschauer, also in dieser Hinsicht auch ‚Mitspieler‘ sein zu können, ist wiederum von verschiedenen Faktoren abhängig, die ihrerseits von Spiel zu Spiel, von Epoche zu Epoche, von Kultur zu Kultur und von Gesellschaft, sozialer Gruppe, Sprachgemeinschaft und Ethnie zu Gesellschaft, sozialer Gruppe, Sprachgemeinschaft und Ethnie verschieden sein können. So kann in manchen Spielen der Beobachter nur dann teilnehmender Zuschauer resp. ‚Mitspieler‘ sein, wenn er in eben der spezifischen Lebenswelt sozialisiert wurde, in der das Spiel gespielt wird. Dies gilt insbesondere für solche Spiele, die einem kultischen Ritual dienen, wie es bei den mesoamerikanischen Ballspielen der Fall war. Bei anderen Spielen können die Bedingungen gegebenenfalls weniger rigide sein, so dass aus einem bloßen Beobachter leichter ein teilnehmender Zuschauer und damit ein ‚Mitspieler‘ werden kann. So zum Beispiel auch ein Beobachter, der nicht in der europäischen Kultur sozialisiert wurde und weder etwas über die spezifische Ausprägung geteilter, kollektiv-selbstbezogener und korrespondierender Intentionalität in Fußballspielen noch über ‚die participatio, die innere Teilnahme‘ des teilnehmenden Zuschauers und seine emotionale Verbundenheit mit der einen oder anderen Mannschaft weiß. Erlebt er dann live die Atmosphäre der Gelben Wand, der Dortmunder Südtribüne, von The Kop, der Fantribüne des FC Liverpool an der Anfield Road oder in La Bombonera, dem Stadion der Boca Juniors aus Buenos Aires inmitten euphorisierter Zuschauer der Heimmannschaft, so wird auch er, vorausgesetzt, er verfügt über eine bestimmte dispositionelle Grundverfassung, im Laufe des Spiels schnell zum teilnehmenden Zuschauer, ergo zum ‚Mitspieler‘ werden.
3.3
Wie verhält es sich nun bei der sozialen Aktivität ‚Dialog‘? Es gibt zum einen Formen, die durch die geteilte Intentionalität von ‚Spieler‘ und ‚Mitspieler‘, den beiden Gesprächspartnern, gekennzeichnet sind (komplementäre Dialoge). Bei ihnen muss die gegenseitige stillschweigende Übereinkunft bestehen, dass sie eine gemeinsame Handlung ausführen, bei der sie ein gemeinsames Ziel verfolgen und es eine gemeinsame Festlegung besteht, eben dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen. Auch wenn sie dabei kein klar konturiertes Ziel vor Augen haben wie der Trupp Möbelpacker, der ein Klavier von A nach einem definierten B tragen soll, so können sie sich doch im Geiste geteilter Intentionalität, die auf die Maxime gelingender Kooperation ausgelegt ist, ad hoc ein offenes, gemeinsam bestimmtes Ziel ‚setzen‘: Lass uns gemeinsam eine plausible Antwort finden! Demgegenüber gibt es aber auch Formen, bei denen dies nicht der Fall ist (kompetitive Dialoge). Das verdeutlicht der Linguist Frank Liedtke in einer Gegenüberstellung komplementärer und kompetitiver Gesprächssituationen anhand transkribierter Dialoge, die im Leipziger Museum der Bildenden Künste aufgenommen wurden. In einem ersten Dialog, bei dem es um die Deutung eines Bildes geht, haben beide am Gespräch Beteiligte konvergierende Sichtweisen. Es liegt somit „der Fall eines gemeinsamen, kooperativ hergestellten und damit ko-konstruierten Sprechakts“ (Liedtke 2019: 16) ergo der einer geteilten Intentionalität (Wir-Intentionalität) vor. Ein zweiter Dialog hingegen ist durch divergierende Sichtweisen beider Beteiligten geprägt, was als „Vorkommnis zweier individueller Sprechakte (…) aufzufassen“ (ebd.: 16) ist: Es treffen hier zwei selbstbezogene Intentionen aufeinander; eine geteilte Intention ist nicht gegeben. In diesem Fall greift, so Liedtke, allein das „Grice’sche Kooperationsprinzip[5], das lediglich die Einhaltung einer gemeinsamen Richtung des Gesprächs verlangt“ (ebd.: 16).
Meine Erachtens handelt es sich dabei jedoch um zwei verschiedene Formen kompetitiver Dialoge, die sorgsam auseinandergehalten werden sollten:
- Bei kompetitiven Dialogen, bei denen sich die Beteiligten, die divergierende Sichtweisen vertreten, auf Basis rein selbstbezogener Intentionalität begegnen und strikt ihre selbstbezogenen Ziele verfolgen, agiert der Andere nicht als ‚Mitspieler‘, sondern ausschließlich als ‚Gegenspieler‘. In diesem Fall, bei dem keine korrespondierende Intentionalität der Gesprächsteilnehmer vorliegt, kann man nur sehr bedingt davon sprechen, dass es einen gemeinsam akzeptierten Zweck oder eine akzeptierter Richtung des Gesprächs Und nur das würde die Aussage rechtfertigen, dass hier das Grice’sche Kooperationsprinzip greift. So aber lautet der Schlachtruf konsequent selbstgezogen: Ich hab recht (und werde gewinnen)!
- Bei kompetitiven Dialogen, bei denen das Grice’sche Kooperationsprinzip greift,
verfolgen die Gesprächsteilnehmer ihre jeweils selbstbezogenen Ziele und divergierenden Sichtweisen auf Basis einer gemeinsam vertretenen diskursiven Ethik, die in gewisser Hinsicht ein gemeinsames Ziel[6] definiert – die Gesprächs-teilnehmer begegnen sich im Rahmen korrespondierender Intentionalität als ‚Spieler‘ und ‚Mitspieler‘, der als ‚Gegenspieler‘ auftritt. So lautet der Slogan hier eher ähnlich wie bei regelbasierten kompetitiven Team-Spielen: Möge das bessere Argument gewinnen!
Bei kompetitiven Dialogen, bei denen das Grice’sche Kooperationsprinzip greift, gibt es unter den ‚Mitspielern‘ die stillschweigende Vereinbarung, nach Vorlage der Argumente die Deutung des anderen als die schlüssigere zu akzeptieren. Hier wäre der idealtypisch-herrschaftsfreie Diskurs zu verorten, den Jürgen Habermas in seiner Theorie kommunikativen Handelns vor Augen hat, wie auch die mittelalterliche disputatio, die ähnlich wie ein regelbasiertes kompetitives Team-Spiel konzipiert ist. Erweitert man die Teilnehmer des Leipziger Dialogs mit divergierenden Sichtweisen auf beiden Seiten tentativ um mindestens eine Person, so wird dies augenfällig: Bei beiden ‚Dialog-Teams‘ liegt intern eine geteilte Intentionalität (gINT) vor, die sich extern, in der spielerischen Konfrontation beider Teams, dem jeweils anderen Team als kollektiv-selbstbezogene Intention (ksINT) darstellt. Wobei beide Parteien wiederum, vorausgesetzt, sie erachten die gemeinsam verabredeten und akzeptierten Regeln als verbindlich, eine korrespondierende Intentionalität (kINT) besitzen. Das heißt: Im Rahmen intern geteilter Intentionalität verfolgen die konkurrierenden ‚Dialog-Teams‘ ihre jeweils kollektiv-selbstbezogenen Ziele auf Basis einer beide Teams umfassenden korrespondierenden Intentionalität.
Je nach Konstellation des Dialogs kann gegebenenfalls die Etablierung weiterer Begriffe ‚Mitspieler‘ erforderlich werden. So bei Diskursen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und an denen sich eine größere Anzahl Teilnehmer unterschiedlicher Provenienz und Interessenslage beteiligen (z.B. bei Interventionen in die ‚allgemeinen diskursiven Kontexte ihrer Zeit‘ [Quentin Skinner]). Hier finden sich solche ‚Mitspieler‘, die ganz im Sinne eines Dialog-Teams argumentieren, den kompetitiven Charakter des Diskurses außer acht lassen und im Innenverhältnis im Sinne geteilter Intentionalität einen komplementären Dialog führen, den Blick ausschließlich auf das gemeinsame Ziel gerichtet. Dann finden sich auch ‚Mitspieler‘, die sich, wie bei einem kompetitiv organisierten Team-Spiel auf Basis korrespondierender Intentionalität im Sinne des übergeordneten Ziels (möge das bessere Argument gewinnen!) verhalten und zum ‚Mitspieler‘ eines Dialog-Teams und damit zum ‚Mitspieler als Gegenspieler‘ des anderen Dialog-Teams werden: Verfügen sie im Gemeinschaftsverhältnis über korrespondierende Intentionalität, verfügen sie im Innenverhältnis über geteilte/Wir-Intentionen, die sich im Außenverhältnis als kollektiv-selbstbezogene Intentionen darstellen. Werden die Dialoge im öffentlichen Rahmen geführt, kann es zudem zu Interventionen in die diskursiven Kontexte kommen, die die dialogische Konstruktion substantiell erweitert. Leser, Zuhörer, Zuschauer et al. können dabei zu teilnehmenden Lesern, Zuhörern, Zuschauern und damit ebenfalls zu ‚Mitspielern‘ werden – sowohl im Sinne komplementärer Dialoge als auch kompetitiver Dialoge, bei denen das Grice’sche Kooperationsprinzip greift. In diesem Fall können sie sich zwar dem übergeordneten Ziel verpflichtet fühlen, müssen dabei aber weder die eine noch die andere divergierende Sichtweise eines der Dialog-Teams goutieren, vice versa also weder mit der einen noch der anderen Sichtweise konvergieren. Sie können eine dritte, vierte oder fünfte etc. Position vertreten, so dass sich die Anzahl der konkurrierenden Dialog-Teams ad infinitum erweitern kann. Auch gibt es Teilnehmer, die sich nicht nur keinem Team, sondern auch nicht dem Grice’sche Kooperationsprinzip verpflichtet fühlen, also einen kompetitiven Diskursbeitrag liefern, der einer divergierenden Sichtweise entspricht und konsequent selbstbezogen ist – um nur einige mögliche Typen von Teilnehmern (sprich: ‚Mitspielern‘) zu nennen, die im Laufe des Diskurses in der Diachronie denkbar sind.
3.4
Auch ‚Kunst‘ ist insofern ein kooperatives Unternehmen, als es allen daran Beteiligten gar nicht möglich wäre ‚mitzuspielen‘, würden sie nicht über diese phylogenetisch angelegte und ontogenetisch jeweils ausgebildete elementare psychologische Infrastruktur geteilter Intentionalität und den damit einhergehenden Fähigkeiten, Fertigkeiten und Motivationen zum kooperativen Handeln verfügen. Aber bei diesem spezifisch kooperativen Unternehmen ‚Kunst‘ ist einiges anders als bei den kooperativen Unternehmen ‚Spiel‘ oder ‚Dialog‘. Es beginnt bereits damit, dass es ‚die Kunst‘ als Oberbegriff (und nicht zählbares Substantiv, mass noun) aller künstlerischen Gattungen erst seit gut 200 Jahren gibt. Zuvor waren es nur die diversen einzelnen Künste, zu denen, je nach Epoche, bisweilen recht unterschiedliche Gattungen gezählt wurden. Doch auch diese Künste haben ihre Tücken. Denn reden wir von ihnen, reden wir tatsächlich erst einmal über ein Können: Das althochdeutsche Wort kunst ist ein Verbalabstraktum zu ‚können‘ und bedeutet ursprünglich ‚Wissen, Verstehen‘. Es handelt sich um eine Lehnbedeutung, die sich aus der Übersetzung des lateinischen ars und des griechischen techné herleitet. Mit anderen Worten: Selbst die Aussage, der Begriff ‚Kunst‘ sei abendländisch geprägt, ist mit höchster Vorsicht zu genießen – weder Kelten noch Germanen oder Slawen war etwas derartiges geläufig, was die Griechen mit dem Begriff ‚techné‘ und später die Römer mit dem Begriff ‚ars‘ bezeichneten. Das heißt, wir reden über einen ursprünglich hellenistischen Begriff, der, streng genommen, auf andere Kulturen (Gesellschaften, Sprachgemeinschaften, Epochen) nicht ohne Weiteres anwendbar ist. Insbesondere nicht auf solche, die erst im Zuge der aggressiven europäischen Kolonialisierung der letzten 500 Jahre in den zweifelhaften Genuss gekommen sind, von der abendländischen Kultur, ihren Denkmustern und Traditionslinien überformt zu werden. Die recht unbedarfte Etikettierung ihrer vergangenen, gegenwärtigen und auch kommenden literarischen, musikalischen, malerischen etc. Äußerungen mit dem eurozentrischen Begriff ‚Kunst‘ durch Experten, die im abendländischen Kulturkreis sozialisiert wurden, mutet wie eine Projektion resp. Rückprojektion gegenwärtiger westlicher Kategorien auf andere Kulturen und Epochen[7] an. Verfallen nun gar Experten aus eben jenen Ländern, die Leidtragende des kulturüberformenden und -zerstörenden europäischen Kolonialismus waren, einem solch leichtfertigen Sprachgebrauch, so wirkt dieser Vorgang nachgerade verstörend.
Aber lassen wir an dieser Stelle diese grundsätzlichen Erörterungen einmal beiseite. Konzentrieren wir uns darauf, was in abendländischer Tradition derzeit Künste genannt wird oder als ‚Kunst‘ gilt (cf. die Differenzierung der verschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes Kunst in Oehm 2019b: 83, 92ff.; auch: Oehm 2019a: 10ff.): So sehr, wie unter Kunstwissenschaftlern und Kunstsoziologen Einigkeit darüber besteht, dass der Status der verschiedenen überindividuellen sozialen Institutionen (Musik, bildende Kunst, Theater etc.) und deren Artefakte in den verschiedenen Epochen der verschiedenen europäischen Kulturen ein jeweils anderer war und dass dieser Status dementsprechend jeweils aus seiner Zeit und seiner Kultur heraus verstanden werden muss, so wenig halten sich viele dieser Experten an die Konsequenzen ihrer eigenen Einsicht. Anders ist es kaum zu erklären, dass selbst die Höhlenmalerei von Altamira heute noch ganz selbstverständlich und völlig unwidersprochen Kunst genannt wird. Ganz so, als gäbe es von dort aus eine direkte, ungebrochene Traditionslinie bis in die New Yorker, Londoner oder Düsseldorfer Ateliers heutiger Kunstschaffender. Ja, als besäße das, was auf den verschiedenen Ebenen recht inflationär und gerne mythisch raunend Kunst genannt wird, Ewigkeitscharakter: Wir etikettieren durchgängig durch alle Epochen und Kulturen die verschiedensten sozialen Institutionen und Artefakte als Kunst. Wobei sich vor allem eine Frage stellt: Was legitimiert uns eigentlich dazu? Wenn keine dezidiert dichte Beschreibung der jeweiligen synchronen Konstellationen und der „allgemeinen diskursiven Kontexte ihrer Zeit“ (Skinner 2009b: 81) vorgelegt werden kann, die eine Kennzeichnung von Institutionen und Artefakten aus ihrer Zeit heraus und für diese Zeit als Kunst schlüssig rechtfertigt – handelt es sich dann nicht eher um eine Rückprojektion des heutigen Verständnisses von Kunst auf vergangene künstlerische Äußerungen (cf. Gallus 2019)? Wird dabei im Gebrauch des Etiketts Kunst, ungeachtet des Wandels seiner Gebrauchsweise und Implikationen, nicht unbewusst, ungeplant, unreflektiert das eurozentrische Weltbild perpetuiert und global zementiert?
Unabhängig davon, wie diese Fragen im Einzelfall zu beantworten sind: Ein wesentlicher Unterschied heutiger Kunstschaffender globaler Provenienz zu den ‚Kunstschaffenden‘ vergangener Epochen und Kulturen ist, dass sie „nicht mehr in einer Gemeinde“ (Gadamer 2012: 10) wirken. Ihre Äußerungen in den jeweiligen künstlerische Gattungen sind nicht mehr wie selbstverständlich in das in der jeweiligen Synchronie gegebene kollektive Verständnis einer ‚Gemeinde‘ eingebettet. Ihre ‚Gemeinde-mitglieder‘ können folglich diese Äußerungen nicht mehr ‚im Schlaf verstehen‘, wie dies vielleicht noch die Griechen konnten, wenn sie ins Theater gingen, um die Stücke von Aischylos, Sophokles oder Aristophanes zu sehen. Oder die mittelalterlichen Adligen, die den Dichtungen der Troubadoure lauschten, die leseunkundigen Gläubigen, die ehrfürchtig staunend die Bedeutungsmalerei in einer gotische Kirche betrachteten oder auch die Japaner, die den Aufführungen des Kabuki oder No-Theaters beiwohnten. Eben diese Unfähigkeit bezeichnet aber gerade ein historisches Momentum: Bei der modernen Kunst handelt es sich nicht mehr um eine in spezifischer Weise gemeinschaftliche Handlung der Mitglieder einer Gesellschaft. Es ist keine Konstellation mehr zu erkennen, bei der „ein Subjekt im Plural, ein ‚Wir‘ auftritt“ (Tomasello 2017: 17), wo es „gemeinsame Ziele, gemeinsame Absichten, wechselseitiges Wissen, geteilte Überzeugungen“ (ebd.: 17) gibt. Es besteht auch kaum mehr gemeinsames Hintergrundwissen bei gemeinsamer Aufmerksamkeit (bestenfalls bei einer kulturinteressierten und kunstaffinen peer group). Ebenso wenig wird ein gemeinsames Ziel verfolgt mit einer gemeinsamen Festlegung der Beteiligten darauf, eben dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen. Damit verliert das Kunstschaffen seine Funktion, gruppenspezifische Bindungen auf Basis eines gemeinsamen begrifflichen Hintergrunds unter Festlegung auf gemeinsame kulturelle Ziele zu stärken, was zur Konstitution der gemeinsamen Identität einer Gesellschaft beitragen kann.
Kunstschaffen ist heute, wie Gadamer bereits betonte, ein weitgehend singulärer Akt ohne Gemeinde, der die Rezipienten zur aktiven Teilnahme auffordert. Wobei es dabei primär nicht um ein Verstehen geht, schon gar nicht um ein Verstehen von Kunst, sondern um einen perlokutionären Akt, eine intentionale Inspiration zur Assoziation: ‚A will B durch x zu etwas bewegen‘. Es ist befreites, befreiendes, selber schaffendes, eigenverantwortliches Mitspielen des Rezipienten. Das immer wieder ein episodal neues, intersubjektiv konstituiertes und damit ein zeitlich befristetes, gemeinsames Kunstverständnis (genauer gesagt: diverse neu konstituierte Verständnisse von ‚Kunst‘, denn es gibt auf der synchronen Achse nie nur genau ein Verständnis, das für die Dauer einer Episode verbindlich für alle gilt) innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft auf der Mikro- wie Makroebene schafft und wandelt: durch die Rezipienten, durch die Kunstschaffenden, durch den Prozess der unsichtbaren Hand.
3.5
Fragen wir nach dem Begriff ‚Mitspieler‘ und seinen Differenzierungen in der Kunst, kommen wir nicht umhin, die jeweilige Ebene, Gattung, Epoche und Kultur zu befragen. So ist auf der ontogenetischen Ebene, wie bei allen sozialen Aktivitäten, die elementare psychologische Infrastruktur kooperativen Verhaltens gegeben. Mit ihrer Ausbildung wird sie dem Menschen zur eigentlichen Natur. Selbst ein Kunstschaffender, der, abgeschottet von allen anderen, sein Leben als ewiger Robinson auf einer einsamen Insel verbringt, vermag seine Kunst nicht ohne diese ihm ontogenetisch gegebene Infrastruktur zu erschaffen. Insofern kann er, erschafft er ein Werk, aufgrund seiner dispositionellen Grundverfassung als kooperatives, intersubjektiv agierendes Wesen in gewisser Hinsicht nie allein sein. Er ist sich selbst stets Freitag und damit ‚Mitspieler‘.
Um nun auf der strukturellen Handlungsebene der modernen Kunst die verschiedenen Begriffe ‚Mitspieler‘ bestimmen zu können, müsste zuvor der Begriff ‚moderne Kunst‘ selbst bestimmt werden. Handelt es sich doch bei dem Begriff ‚Kunst‘ wie gesagt um einen erst im 18. Jahrhundert etablierten Oberbegriff aller Gattungen und Schöpfungen. Zudem beansprucht dieser Begriff, dass er die Komprehension aller Künste, also die Menge aller vergangenen, heutigen wie auch zukünftigen Kunstgattungen umfasst. Der auf diesen Begriff rekurrierende Begriff ‚moderne Kunst‘[8] müsste also gewissermaßen als episodales Ereignis aus diesem Oberbegriff extrahiert und in einem nächsten Schritt auf gegenwärtige spezifische überindividuelle soziale Institutionen – also den verschiedenen Künsten – abgebildet werden (cf. Oehm 2019b: 83, 92ff.; auch: Oehm 2019a: 10ff, unsere vorläufige Differenzierung der Gebrauchsweisen des Wortes Kunst würde sich dann um eine weitere Gebrauchsweise erweitern: ‚Kunst‘ als episodales Ereignis der allgemeinen überindividuellen sozialen Institution).
Welches sind aber nun die Künste, die zur Zeit zur ‚modernen Kunst‘ gerechnet werden? „Wir haben heute“, so konstatiert die Kunstphilosophin Juliane Rebentisch, „lauter Werke vor uns, die ganze Gattungen begründen, aber doch zugleich nur für dieses jeweilige Werk: Nirgends geht es mehr darum, Prototypen fürs Kunstmachen im Allgemeinen zu generieren“ (Rebentisch 2015: 110). Wer vermag in Zeiten solch entgrenzter Gattungen da noch die Künste zählen, geschweige denn analysieren, wann und wo welcher Begriff ‚Mitspieler‘ resp. welche Form der Intentionalität bei den Beteiligten jeweils vorliegt? Es bleibt uns nicht viel anderes übrig, als recht willkürlich Gattungen (resp. Werke, die eine ganze Gattung begründen) herauszugreifen, die gegenwärtig in den abendländisch geprägten Gesellschaften und Kulturen in allgemeiner Akzeptanz bei relevanten Gruppen[9] als ‚moderne Kunst‘ gelten, um an ihnen exemplarisch aufzuzeigen, welche Begriffe ‚Mitspieler‘ zu differenzieren sind:
(i) Bildende Kunst: moderne Malerei
- Literatur: Slam-Poetry
- Performance: ‚A minute of silence‘ (Marina Abramovic)
- Anwendung
(i) Bildende Kunst: moderne Malerei
Stand jetzt[10] haben wir es in der modernen Malerei auf struktureller Handlungsebene nicht mit einer Konstellation geteilter Intentionalität zu tun. Es gibt kein ‚Subjekt im Plural‘, keine gemeinschaftliche Handlung der Beteiligten, der Kunstschaffenden und Rezipienten: Sie agieren nicht als ‚Wir‘ in gemeinsamer Unternehmung, arbeiten nicht an einem gemeinsamen Werk als ein gemeinsames Ziel. Ist jedoch der Rezipient aufgrund seiner Sozialisation mit den spezifischen kulturellen Bedingungen der Rezeption nicht-transitorischer Werke vertraut, so besteht zwischen Kunstschaffenden und Rezipienten zwar keine geteilte Aufmerksamkeit[11], aber zumindest doch ein spezifisches gemeinsames Hintergrundwissen bezüglich des allgemeinen Ziels und der allgemeinen Funktion künstlerischer Äußerungen. Insofern lässt sich davon sprechen, dass zwischen ihnen in diesem sehr spezifischen Sinn ein gemeinsames Ziel sowie eine gemeinsame ‚Festlegung‘[12] besteht, wie dieses Ziel zu verfolgen ist, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein gemeinsames Ziel im Sinne der korrespondierenden Intentionalität wie zum Beispiel bei den Dialog-Teams, die sich im Rahmen eines kompetitiven Dialogs gemeinsam einer diskursiven Ethik verpflichtet fühlen (Möge das bessere Argument gewinnen!).
Besteht eine entsprechende dispositionelle Grundverfassung seitens des Rezipienten, so erfolgt, inspiriert durch die perlokutionäre Kraft des Eingriffs in den sozialen Diskurs durch den Kunstschaffenden mittels des von ihm geschaffenen Werks, durch den Rezipienten eine teilnehmende assoziative Rezeption des Werks auf Basis dieses gemeinsamen Hintergrundwissens[13] – der Rezipient wird damit zum ‚Mitspieler‘. Dieser Rezeption geht in der Regel eine unmittelbare physische und/oder psychische Reaktion voraus. In jedem Moment der teilnehmenden assoziativen Rezeption durch den Rezipienten (‚Mitspieler‘) wird das Werk von ihm neu aufgefasst, gesehen, gelesen, gehört und mit immer neuen Assoziationen in Verbindung gebracht. Es sind dies die Kunst-Werke, die rein subjektiven, flüchtigen Signaturen der Rezipienten, die keinen Bestand haben. Sie gehören nicht zum Werk selber, sondern sind der jeweiligen Disposition des Rezipienten geschuldet. Besitzt der Rezipient keine diesbezügliche dispositionelle Grundverfassung, keine Empfänglichkeit, wird ihm das betreffende Werk auch ‚nichts sagen‘. Er hat schlicht keinen Sinn dafür. Und solange sich kein Rezipient findet, der eine diesbezügliche Grundverfassung besitzt, sich also nicht durch das Artefakt unmittelbar und automatisch inspiriert fühlt, bleibt das Werk ein Werk und wird nie zum Kunst-Werk. Besitzen Rezipienten jedoch eine entsprechende dispositionelle Grundverfassung, sind sie, im Gegensatz zu den Kunstschaffenden, zwar nicht konstitutiv für das Werk, aber als teilnehmende Zuschauer ‚Mitspieler‘. Und als solche konstitutiv für das Kunst-Werk (cf. Oehm 2019b: 193ff., auch Oehm 2019a: 14ff.).
Der Schritt nach dieser assoziativ grundierten Rezeption, die auf der strukturellen Handlungsebene auf Basis eines gemeinsamen Hintergrundwissens mit unbewusst selbstbezogener Intention erfolgt, ist die reflexive, interpretative Rezeption. Bei ihr kann der Rezipient kein ‚Mitspieler‘ sein. Es handelt sich nicht um eine gemeinschaftliche Handlung mit einem gemeinsamen Ziel und einer gemeinsamen Festlegung der Beteiligten darauf, dieses Ziel zu verfolgen (wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen). Der interpretierende Rezipient agiert ganz auf Basis bewusster selbstbezogener Intentionalität. Ebenso wie all die, die durch ihre individuelle intentionale Zuschreibung von etwas als Kunstwerk unbeabsichtigt, ungeplant und unbewusst ihren Teil dazu beitragen, dass aus der Vielzahl intentional gleichgerichteter individueller Zuschreibungen in einem kollektiven Prozess der unsichtbaren Hand als episodales Ereignis die kollektive, allgemein akzeptierte Zuschreibung von etwas als Kunstwerk (die Attribuierung eines Werks als Kunst resp. Kunstwerk) innerhalb einer Sprachgemeinschaft (sozialen Gruppe, Kultur, Epoche) resultiert[14]. Gleiches gilt für exponierte Vertreter diverser Institutionen der Kunstwelt, die im fachwissenschaftlichen resp. fachspezifischen Diskurs ebenso zu autoritativen Zuschreibungen neigen wie die, die integraler Bestandteil des Kunstmarkts sind (Museen, marktbeherrschende Galerien, Auktionshäuser, Käufer, Sammler etc.).
(ii) Literatur: Slam-Poetry
Als literarischer Vertreter moderner Kunst stellt die Gattung ‚Slam-Poetry‘ auf struktureller Handlungsebene ein Phänomen dar, das sich gegen eine präzise Beschreibung sperrt. Obgleich es als performative Dichtung gerne in eine Traditionslinie vom kulturgeschichtlich frühen Erzählen über mündlich tradierte Märchen und Volksballaden bis hin zu den dadaistischen Lautgedichten Hugo Balls, der Konkreten Poesie von Franz Mon und Ernst Jandl und der Literatur der Beatniks, allen voran William S. Burroughs‘ und Allen Ginsburgs, gestellt wird, gibt es einen Dissens um ihre Verortung. So wird bisweilen bestritten, dass es sich um eine explizit literarische Gattung handelt. Vielmehr sei es eine Kunstform, die sowohl literarische als auch nichtliterarische Aspekte vereint – neben den Merkmalen der Performance auch solche des Wettkampfs, wie sie bereits im antiken Dichterwettstreit zu finden sind.
Letzteres ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Steht doch auf der einen Seite der Literat, der, ähnlich dem Komponisten oder dem bildenden Künstler, zumeist als Einzelner seine Werke unter Ausschluss der Öffentlichkeit erschafft – und auf der anderen Seite steht derselbe Kunstschaffende als Performer seiner eigenen Texte im grellen Licht der Öffentlichkeit. Durch sein inszenatorisches Talent, durch das ganze Arsenal seiner rhetorischen Mittel, transformiert der Slam-Poet sein literarisches Werk in ein performatives, transitorisches Artefakt. In ein dramaturgisch inszeniertes Werk, aufgeführt oftmals im Rahmen eines Poetry-Slams. Eines Wettbewerbs, bei dem die Zuschauer den Sieger küren. Das heißt, das Werk ist in diesem Fall ausdrücklich und unmittelbar adressatenorientiert. Der Zuhörer wird hier vom Kunstschaffenden während des Prozesses seines Kunstschaffens nicht nur unmittelbar in das Ereignis involviert und zur teilnehmenden assoziativen Rezeption inspiriert (und so zum ‚Mitspieler‘). Er ist auch qua Strukturdefinition des Ereignisses ‚Poetry-Slam‘ zur Bewertung aufgefordert. Damit wird er in einem weiteren Sinn des Begriffs ‚Mitspieler‘ zum ‚Mitspieler‘: als konstitutiver Teil des Wettbewerbs ‚Poetry-Slam‘.
Haben wir es aber nun bei der Gattung Slam-Poetry als Poetry-Slam bei Performer und Zuschauer/Zuhörer mit einer Konstellation geteilter Intentionalität zu tun, bei der ‚ein Subjekt im Plural, ein Wir‘ auftritt? Wir erinnern uns an die Definition, die Tomasello gibt: „Die unabdingbare Voraussetzung gemeinschaftlicher Handlungen ist ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Festlegung der Beteiligten darauf, dieses Ziel zu verfolgen, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen“ (Tomasello 2017: 195) – dies alles geschieht auf Basis eines gemeinsamen Hintergrundwissens bei gemeinsamer Aufmerksamkeit. Damit der Wettbewerb gemäß seiner Regularien erfolgreich über die Bühne gehen kann, muss dieses Wissen zwingend bei allen unmittelbar Beteiligten, bei dem Performer ebenso wie bei den ‚Mitspielern als Gegenspieler‘ (selbst bei den ‚Mitspielern als Zuschauer/Zuhörer‘), vorliegen, damit sie imstande sind, sich situativ angemessen verhalten zu können. Zudem müssen sie das dem Wettbewerb inhärente Ziel (Möge der Bessere gewinnen!) als gemeinsames Ziel akzeptieren und sich gemeinsam darauf festlegen, dieses Ziel zu verfolgen. Insofern muss bei diesem regelgeleiteten Wettbewerb, ganz ähnlich dem kompetitiven Team-Spiel oder einer disputatio, bei Performer und ‚Mitspieler als Gegenspieler‘ im Gemeinschaftsverhältnis eine korrespondierende Intentionalität vorliegen. Aber da die Konkurrenten nun mal in keinem komplementären Verhältnis zueinander stehen, kann bei ihnen auch nicht von einer geteilten Intentionalität die Rede sein: Sie agieren beide jeweils mit selbstbezogener Intentionalität. Würden jedoch nicht einzelne Performer, sondern Performing-Teams auf der Bühne stehen, würden die einzelnen jeweils beteiligten Team-Mitspieler als ‚ein Subjekt im Plural, ein Wir‘ auftreten. Das heißt: Die (individuell-)selbstbezogene Intentionalität der Einzelnen synchronisiert sich im Innenverhältnis des Teams zur intersubjektiv vermittelten, kooperativen Intentionalität, sprich: zur geteilten Intentionalität (‚Wir-Intentionalität‘), die sich im Außenverhältnis als kollektiv-selbstbezogene Intentionalität darstellt.
Dem ‚Mitspieler als Zuschauer/Zuhörer‘ kommt in diesem kompetitiven ‚Kunstspiel‘ eine ganz eigentümliche Rolle zu: Anders als bei anderen transitorischen Kunstformen ist es nicht allein die participatio, die innere Teilnahme, die ihn zum ‚Mitspieler‘ werden lässt. Vielmehr ist er gemäß den Regeln des Poetry-Slams konstitutives Element des Wettbewerbs, ohne aber dabei kompetitives Element zu sein: Mit spezifisch selbstbezogener Intention agiert er in diesem Wettbewerb nicht als Konkurrent, das heißt als mitspielender Gegenspieler. Er agiert vielmehr als außenstehender Mitspieler: als Inquisitor. Er wertet. Und bestimmt im Verbund mit anderen, wer Sieger ist und wer Verlierer.
Sehen wir einmal von der kompetitiven Seite, dem Wettkampfmodus des Poetry-Slam, ab und betrachten isoliert die Seite, bei der das Werk das durch den Kunstschaffenden noch nicht dramaturgisch inszenierte Poem darstellt: die literarische Kunstform des Slam-Poetry. Hier lässt sich die Konstellation ganz ähnlich wie bei der modernen Malerei beschreiben: Kunstschaffende und Rezipienten vollziehen weder eine gemeinschaftliche Handlung noch arbeiten sie an einem gemeinsamen Werk im Sinne eines gemeinsamen Ziels. Besteht zwischen ihnen ein spezifisches gemeinsames Hintergrundwissen bezüglich des allgemeinen Ziels und der allgemeinen Funktion künstlerischer Äußerungen, lässt sich auch hier davon sprechen, dass zwischen ihnen in diesem spezifischen Sinn ein gemeinsames Ziel sowie eine gemeinsame ‚Festlegung‘ formuliert wird, wie dieses Ziel zu verfolgen ist, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und die Festlegung teilen. Und auch hier muss eine entsprechende dispositionelle Grundverfassung zur Rezeption seitens des Rezipienten bestehen, damit bei ihm, inspiriert durch die perlokutionäre Kraft, eine teilnehmende assoziative Rezeption des Werks auf Basis des gemeinsamen Hintergrundwissens mit unbewusst selbstbezogener Intention erfolgen und er so zum teilnehmenden Leser, zum ‚Mitspieler‘ werden kann, der das Werk als Kunst-Werk und damit als seine rein subjektive, flüchtige Signatur konstituiert[15].
Allerdings handelt es sich beim Slam-Poetry als strukturell darstellender Kunst um eine transitorische Kunstform, bei der der assoziativ rezipierende Zuschauer/Zuhörer im Moment der Aufführung der Poems bei der Entstehung des eigentlichen Werks, des performativen Artefakts, als episodales Ereignis anwesend ist. Das heißt, sowohl seine Aufmerksamkeit als auch die der Kunstschaffenden gilt in diesem Augenblick dem Werk (wie ein solches episodales Ereignis bei der Reproduktion durch Tonträger u.ä. und damit auch der Status dieses ‚Mitspielers als Zuschauer/Zuhörer‘ zu beschreiben ist, dazu später mehr). Hingegen gehört die Malerei als nicht-transitorische Kunstform zu den Gattungen, bei denen sich Werk, Kunstschaffender und Rezipient nur selten zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden – die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer geteilten Aufmerksamkeit kommen kann, ist demnach äußerst gering. Zudem rezipiert hier der Betrachter in aller Regel das Werk des Kunstschaffenden nicht während dessen Entstehung, sondern erst nach dessen Entstehung.
(iii) Performance: ‚A minute of silence‘ (Marina Abramovic)
Wenn die Kunstphilosophin Juliane Rebentisch von Werken spricht, „die ganze Gattungen begründen, aber doch zugleich nur für dieses jeweilige Werk“ (Rebentisch 2015: 110), so mag sie vielleicht die Performance A minute of silence der serbischen Künstlerin Marina Abramovic vor Augen gehabt haben: 2010 verbrachte die Künstlerin, auf einem Stuhl sitzend, während eines Zeitraums von drei Monaten mit insgesamt 1.565 ihr fremden Personen jeweils eine Minute der Ruhe. Die Künstlerin und die unmittelbar beteiligten ‚Mitspieler‘ saßen dabei einander gegenüber, wobei die Künstlerin den verschiedenen ‚Mitspielern‘ stets regungslos verharrend in die Augen schaute. Jeder wurde von ihr gleich behandelt: neutral[16]. Die ‚Mitspieler‘ hingegen, zunächst bemüht um eine ebenso neutrale Konfrontation, hielten diese unnatürliche Begegnung nicht lange aus und reagierten im Laufe der Minute mit typischen Gesten der Unsicherheit. Zudem wurde diese Situation gefilmt, also für weitere Rezipienten im Nachgang als transitorisches Werk erlebbar gemacht. Diese Rezipienten standen jedoch in einer strukturell anderen Beziehung zur Künstlerin als die während der Aufführung der Performance A minute of silence involvierten ‚Mitspieler‘. Handelte es sich bei diesen um unmittelbar Beteiligte[17], handelte es sich bei jenen um mittelbar teilnehmende Beobachter. Bei den Zuschauer des episodalen Ereignisses, der Performance A minute of silence, wiederum handelte es sich um eine dritte Art von ‚Mitspielern‘: um die unmittelbar teilnehmenden Beobachter. Durch das hautnahe Erleben des episodalen Ereignisses, der einmalig-transitorischen Konfrontation der Künstlerin mit den in die Performance involvierten ‚Mitspielern‘, war ihre teilnehmende assoziative Rezeption eine andere als die der mittelbar teilnehmenden Beobachter, der Rezipienten des Videos.
Bei der Performance A minute of silence haben wir es demnach mit zumindest drei verschiedenen Arten ‚Mitspielern‘ zu tun, bei denen sich die Frage stellt, welche Formen der Intentionalität sich bei ihnen finden lassen:
- Künstlerin – ‚Mitspieler‘ als unmittelbar beteiligte An
- Künstlerin – ‚Mitspieler‘ als unmittelbar teilnehmende Beobachter Bn
- Künstlerin – ‚Mitspieler‘ als mittelbar teilnehmende Beobachter Cn
Im Fall (a.) vollziehen die Künstlerin und die jeweiligen ‚Mitspieler‘ An als unmittelbar Beteiligte offensichtlich eine gemeinschaftliche Handlung bei gemeinsamer Aufmerksamkeit und haben sogar, für jeweils diese eine Minute, in gewisser Weise ein gemeinsames Ziel. Solange sich diese ‚Mitspieler‘ (unmittelbar Beteiligte) an die ‚Spielregeln‘ halten und die Performance nicht mit einer Parodie verwechseln, liegt die gemeinsame Festlegung vor, dieses Ziel in dieser Minute zu verfolgen. Dabei verstehen alle Beteiligten jeweils wechselseitig, dass sie dieses Ziel und die entsprechende Festlegung teilen. Insofern besteht zumindest soviel gemeinsames Hintergrundwissen, dass unter normalen Umständen die jeweiligen Etappen der Performance – und damit mit großer Wahrscheinlichkeit auch die gesamte Performance – erfolgreich im Sinne des intendierten Zieles der Künstlerin verlaufen wird. Das in gewisser Weise gemeinsame Ziel, dass Künstlerin und die jeweiligen ‚Mitspieler‘ An als unmittelbar Beteiligte für die Dauer einer Minute haben, ist jedoch nicht das künstlerische Ziel, das die Künstlerin mit ihrer gesamten Performance verfolgt: Dieses Ziel wird nicht gemeinschaftlich ‚verabredet‘. Vielmehr setzt es die Künstlerin auf dieser Ebene allein mit selbstbezogener Intention. Und lässt 1.565 Personen für jeweils eine Minute ‚mitspielen‘. Sie ist es auch, die bestimmt, wie dieses Ziel erreicht wird und wann resp. ob es erreicht ist (vielleicht ändert sie das Ziel sogar spontan während der Performance). Deshalb kann vielleicht davon die Rede sein, dass Künstlerin und ‚Mitspieler‘ An gemeinsam an dem Werk arbeiten, jedoch nicht davon, dass sie an einem gemeinsamen Werk arbeiten.
Der Umfang der Gemeinsamkeiten bei Kunstschaffenden und ‚Mitspielern‘ als unmittelbar Beteiligte (Handlung, Aufmerksamkeit, Hintergrundwissen, Festlegung des singulären Ziels, wechselseitiges Verstehen des Teilens des Ziels und seiner Festlegung) ist in dieser Konstellation weit größer als bei Kunstschaffenden der modernen Malerei und den ‚Mitspieler‘, die letztlich nur mittelbar teilnehmende Beobachter sind. Er ist so groß, dass man fast versucht ist, hier bereits von geteilter Intentionalität zu sprechen. Aber doch erreicht sie nicht den Status geteilter Intentionalität, den wir beispielsweise bei einem komplementären Dialog oder dem Trupp Möbelpacker antreffen, die in einem kooperativen Akt ein Klavier von A zu einem klar definierten Ziel B tragen. Er würde nur dann vorliegen, wenn zwischen beiden, Künstlerin und ‚Mitspieler‘ An, Gleichrangigkeit bestünde und das Ziel als ihr gemeinsames Ziel definiert würde, wobei alle wechselseitig verstehen, dass sie dieses gemeinsame Ziel und seine Festlegung teilen.
In der vorliegenden spezifischen Art gemeinschaftlicher Handlung von Künstler/Mitspieler tritt der ‚Mitspieler‘ An als unmittelbar Beteiligter des Werks ins Werk und wird somit zum konstitutiven Element der Performance. Wobei er im Rahmen dieser Performance in seiner Rolle als unmittelbar Beteiligter nicht mit selbstbezogener Intentionalität agiert. Dies schließt ihn strukturell – auf dieser Ebene, für diesen Moment, in dieser Konstellation, in dieser Funktion – als Rezipienten aus. Auf der Ebene der Rezeption hingegen kann eben dieser ‚Mitspieler‘ An im gleichen Moment die Rolle des unmittelbar teilnehmenden Beobachter und ‚Mitspielers‘ Bn einnehmen. Bei ihm würde, inspiriert durch die perlokutionäre Kraft der Künstlerin, mit unbewusst selbstbezogener Intention eine teilnehmende assoziative Rezeption des Werks erfolgen, die das Werk als Kunst-Werk und damit als seine, rein subjektive, flüchtige Signatur konstituiert. Immer vorausgesetzt, es besteht bei ihm als ‚Mitspieler‘ Bn eine entsprechende dispositionelle Grundverfassung zur Rezeption.
Im Fall (b.) vollziehen die Künstlerin und die jeweiligen ‚Mitspieler‘ Bn als unmittelbar teilnehmende Beobachter keine gemeinschaftliche Handlung: Sie arbeiten nicht an einem gemeinsamen Werk im Sinne eines gemeinsamen Ziels. Obschon beider Aufmerksamkeit demselben Faktum gilt, besteht keine gemeinsame Aufmerksamkeit, da ihr jeweiliger Handlungsvollzug nicht kooperativ erfolgt – es liegt eben keine gemeinschaftliche Handlung vor. Besteht jedoch ein gemeinsames Hintergrundwissen bezüglich des allgemeinen Ziels sowie der allgemeinen Funktion künstlerischer Äußerungen, so besteht in gewisser Weise mittelbar ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame ‚Festlegung‘, wie es zu verfolgen ist. Aber auch hier muss eine entsprechende dispositionelle Grundverfassung zur Rezeption seitens der Rezipienten Bn gegeben sein, damit bei ihnen, inspiriert durch die perlokutionäre Kraft, eine teilnehmende assoziative Rezeption des Werks auf Basis des gemeinsamen Hintergrundwissens mit unbewusst selbstbezogener Intention erfolgen und sie so zu ‚Mitspielern‘ werden können, die das Werk als Kunst-Werk und damit als ihre rein subjektive, flüchtige Signatur konstituieren. Dabei operiert die Künstlerin auf Basis der ontogenetisch angelegten Infrastruktur geteilter Intentionalität auf dieser Handlungsebene mit bewusster selbstbezogener Intentionalität, während demgegenüber bei dem unmittelbar teilnehmenden Beobachter, dem auf gleicher Basis operierenden ‚Mitspieler‘ Bn, im Moment seiner teilnehmenden assoziativen Rezeption eine unbewusste selbstbezogene Intention vorliegt.
Wie im Fall (b.) so vollziehen auch im Fall (c.) die Künstlerin und die jeweiligen ‚Mitspieler‘ Cn als mittelbar teilnehmende Beobachter keine gemeinschaftliche Handlung. Insofern gilt das, was für (b.) gilt, weitgehend auch für (c.). Mit einem entscheidenden Unterschied: Da die Rezeption des Werks des Kunstschaffenden nicht während dessen Entstehung, sondern erst zu einem nicht zu definierenden Zeitpunkt nach dessen Entstehung, das heißt nach Vollendung erfolgt, muss die teilnehmende assoziative Rezeption des Werks durch den ‚Mitspieler‘ Cn als mittelbar teilnehmender Beobachter zwangsläufig eine andere sein als die durch den ‚Mitspieler‘ Bn als unmittelbar teilnehmenden Beobachter. Ist bei diesem die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass er – vorausgesetzt, es liegt bei ihm eine entsprechende dispositionelle Grundverfassung vor – dem Werk in einem Akt teilnehmender assoziativer Rezeption ganz ergriffen mit unbewusst selbstbezogener Intentionalität begegnet (wobei diese Rezeption bei einem gemeinsamen Hintergrundwissen anders ausfallen dürfte als ohne dieses implizite Wissen), so ist bei jenem, dem ‚Mitspieler‘ Cn als mittelbar teilnehmendem Beobachter, eher wahrscheinlich, dass er das Werk von Anfang an mit bewusst selbstbezogener Intention rezipiert. Damit wäre die teilnehmende assoziative Rezeption bereits ein Stück weit der Macht der Ratio unterworfen. Und läge in unmittelbarer Nähe zur teilnehmenden reflexiven, interpretativen und evaluativen Rezeption.
***
Was gibt es in der Kunst zu „verstehen“?, Rigorose Reflexionen zum Kunstbegriff von Stefan Oehm. Königshausen & Neumann, 2021
Die inflationäre Verwendung des zentralen Terminus technicus im Kunstdiskurs geht mit einer befremdlichen sprachlichen Sorglosigkeit einher. Keiner der Beteiligten nimmt eine systematische Begriffsdifferenzierung vor, um sicherzustellen, dass alle wissen, worüber sie reden, worüber sie miteinander reden und worüber der Andere redet. Wie kann ein Verstehen gewährleistet sein, wenn nicht dieses Wissen gewährleistet ist? Über welchen Begriff ›verstehen‹ reden wir in der Kunst? Geht es in der Kunst überhaupt darum, etwas zu verstehen oder verstehen zu geben? Die hier vorliegenden fünf Aufsätze widmen sich einigen grundsätzlichen Überlegungen, um von diversen liebgewonnenen Topoi Abschied zu nehmen. Helfen werden Gedanken des Ethnologen Clifford Geertz, den sein Unbehagen an der mangelnden begrifflichen Präzision deutender Ansätze zum Konzept der ›Dichten Beschreibung‹ führte. Des Weiteren jene des Historikers Quentin Skinner, der den Mythen der Rückprojektion bestehender Konzepte in die Vergangenheit und historischer Kontinuitäten Einhalt bot. Und nicht zuletzt des Anthropologen Michael Tomasello, der die Infrastruktur geteilter Intentionalität als Basis menschlicher Kommunikation und kooperativen Handelns identifizierte – die Basis dessen, was wir so gerne Kunst nennen.
Weiterführend →
KUNO würdigte das Buch Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? von Stefan Oehm mit einem Rezensionsessay. – Eine Leseprobe finden Sie hier.
Literatur:
Fuchs, Thomas (2020a): Jenseits des Menschen? Kritik des Transhumanismus, in: Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie, Frankfurt a. M.: Verlag Suhrkamp.
Fuchs, Thomas (2020b): Der Schein des Anderen. Empathie und Virtualität, in: Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie, Frankfurt a. M.: Verlag Suhrkamp.
Gadamer, Hans-Georg (2012): Die Aktualität des Schönen, Stuttgart: Reclam Verlag.
Gallus, Alexander (2019): Die Schule von Cambridge – Wort, Satz und Sieg, Frankfurter Allgemeine Zeitung (https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/quentin-skinner-und-die-schule-von-cambridge-16480789.html, zuletzt abgerufen am 29.01.2020) Grice, Herbert Paul (1975/1979): Logik und Konversation, in: Georg Meggle (Hrsg.), Handlung Kommunikation Bedeutung, Frankfurt a. M.: Verlag Suhrkamp. Hoye, William J. (1997): Die mittelalterliche Methode der Quaestio, in: Philosophie: Studium, Text und Argument, hrsg. von Norbert Herold, Bodo Kensmann u. Sibille Mischer, Münster: LIT Verlag, 155-178, online unter: http://www.hoye.de/name/quaestio.pdf (zuletzt abgerufen am 08.10.2020)
Jocks, Heinz-Norbert (2020): Das digitale Weltmuseum (Interview mit P. Weibel), in: Kunstforum International Bd. 269 08/09.2020.
Keller, Rudi (42014): Sprachwandel, Tübingen: A. Francke Verlag. Keller, Rudi (22018): Zeichentheorie, Tübingen: UTB/A. Francke Verlag. Liedtke, Frank (2016): Moderne Pragmatik, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag. Liedtke, Frank (2019): Sprechhandlung und Aushandlung, in: S. Meier, L. Bülow, F. Liedtke u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Speech Acts. Bilanz und Perspektiven (Hg.), Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag (ich zitiere aus einem autorisierten Manuskript des Autors). Nagel, Thomas (2016): What Is It Like to Be a Bat?/Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, Stuttgart: Reclam Verlag.
Oehm, Stefan (2019a): Entwurf einer grundsätzlichen Erörterung des Begriffs ‚Kunst‘, in: Mythos Magazin (http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/so_kunst.htm) Oehm, Stefan (2019b): Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden?, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann.
Rebentisch, Juliane (32015): Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg: Junius
Verlag. Skinner, Quentin (2009a): Über Interpretation, in: Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Skinner, Quentin (2009b): Interpretation und das Verstehen von Sprechakten, in: Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Tomasello, Michael (42017): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.
Tomasello, Michael/Carpenter, Malinda (2007): Shared intentionality, in: Developmental Science. 10, 2007, S. 121–125
Wittgenstein, Ludwig (1977): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.
[1] Das Vermögen, Virtualität und Realität, Schein und Wirklichkeit unterscheiden zu können, unterscheidet uns Menschen von den Tieren, da wir „die Wirklichkeit immer auch unter Vorbehalt stellen, uns etwas Nicht-Seiendes vorstellen können, das heißt, weil wir so denken und so tun können, als ob. Die Sprachform des Irrealis – wäre, hätte, könnte – ist der Ausdruck unserer Befähigung zur Phantasie, zur Fiktionalität und damit auch zur Virtualität“ (Fuchs 2020b: 120; cf. 122ff.). Wir erkennen, auch wenn wir tagträumen, „die eigene Vorstellung immer noch als Vorstellung“ (ebd.: 127). Nicht anders ergeht es den Kindern in ihren ‚So-tun-als-ob‘-Spielen, den Schauspielern und auch uns als Zuschauer, „wenn wir uns in einen Schauspieler im Theater einfühlen“ (ebd.: 127): Wir tun das „mit dem zumindest latenten Bewusstsein, dass er seine Rolle nur spielt“ (ebd.: 127). Demgegenüber ist in „der Psychopathologie (…) die Psychose meist mit einem Zusammenbruch des ‚Als-ob‘ verbunden, das den Übergang in den Wahn anzeigt“ (ebd.: 129): „(D)er Schein (wird) auf einmal zur illusionären Wirklichkeit“ (ebd.: 129) – ein geradezu klassisches Motiv, das wir aus dem Film Matrix ebenso kennen wie aus Ovids Metamorphosen (Pygmalion) oder E.T.A. Hoffmanns Sandmann, aber auch aus den transhumani-stischen Prophezeiungen eines Ray Kurzweil und Nick Bostrom zu dem optimierten Menschen der technologischen Singularität, dem „Homo optimus“ (Fuchs 2020a: 98).
[2] Eine in dieser Rigidität natürlich recht gewagte These. Wittgenstein erläutert am Begriff ‚Spiel‘ sein Konzept der Familienähnlichkeit (Wittgenstein 1977: 57, PU §67), das sich durch das Phänomen ‚überlappender Merkmale‘ auszeichnet: Diverse Spiele (A) verfügen über eine Anzahl gleicher Merkmale. Andere Spiele (B) verfügen nicht über diese Merkmale, jedoch über eine andere Anzahl von Merkmalen, über die auch die Spiele (A) verfügen. Die Spiele (C) wiederum besitzen keinerlei Merkmalsschnittmengen mit (A), sehr wohl aber mit (B) usw. Auf die situative Handlungsebene der faktisch gespielten Spiele angewandt bedeutet das: Zu einem kompetitiven Team-Spiel wie dem Fußball-Spiel gehören teilnehmende Zuschauer offensichtlich konstitutiv dazu, zur Kunst als freiem Spiel ebenso. Aber auch zum Schach-Spiel, das zwar kein Team-Spiel, aber ein kompetitives Spiel ist? Oder zum Puppen-Spiel? Es scheint, als sei es selbst bis zur tentativen Klärung des Sprachgebrauchs noch ein weiter Weg.
[3] Die disputatio war im Mittelalter ein vermutlich von den Scholastikern entwickeltes, auf antiken Traditionen aufbauendes Streitgespräch, bei denen es nicht um Konsens, sondern um Sieg und Niederlage ging. Es wurde zwar nach strengen Regeln ausgetragen, endete aber nichtsdestotrotz häufiger in wüsten Schlägereien. „Nach einer Definition, die Thomas von Aquin zugesprochen wird, ist eine Disputation eine syllogistische Veranstaltung (actus syllogisticus) zwischen mindestens zwei Gesprächspartnern (duae personae opponentis et respondentis inter quas vertitur disputatio) mit dem Zweck, eine Proposition zu demonstrieren“ (Hoye 1997: 10; zitiert nach: http://www.hoye.de/name/quaestio.pdf, Hervorhebung S.O.), so der Philosoph und katholische Theologe William J. Hoye.
[4] Für diese Art von Spielen ist es charakteristisch, dass ihr Ziel bestimmt, aber offen ist. Weshalb zum Beispiel ‚Wrestling‘, eine vor allem in den USA populäre Schaukampf-Sportart, kein solches Spiel sein kann, steht hier doch das Ergebnis von vornherein fest.
[5] „Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird“ (Grice 1979: 248).
[6] Folgt ein kompetitiver Dialog weitgehend dem Grice’sche Kooperationsprinzip und einem gemeinsamen Ziel – möge das bessere Argument gewinnen! –, so liegt m.E. bei den ‚Gegenspielern‘, die das Gespräch auf Basis dieser diskursiven Ethik führen, eine korrespondierende Intentionalität vor. Ein geradezu prototypisches Beispiel für einen kompetitiven Dialog, bei dem zumindest bei einem der Beteiligten keine solche korrespondierende Intentionalität vorlag, war das TV-Duell zwischen dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump und seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden Ende September 2020 auf Fox News. Bemühte sich Biden noch halbwegs um eine Gesprächsführung entlang des Grice’schen Kooperationsprinzips, so ging es Trump offensichtlich um einen gezielten Bruch mit eben diesem Prinzip und dessen inhärenten Maximen (so zum Beispiel: ‚Versuche deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist‘, ‚Sage nichts, was du für falsch hältst‘ und ‚Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen‘ [Grice 1979: 249]).
[7] In der renommierten deutschen Kunstzeitschrift ‚Kunstforum International‘, die sich im Bd. 269/2020 ganz dem Thema Entzauberte Globalisierung widmet, nennt der Kunstkritiker Heinz-Norbert Jocks in einem Interview mit dem Kunst- und Medientheoretiker Peter Weibel das Problem der eurozentrischen Sichtweise bisheriger Kunstgeschichtsschreibung beim Namen. Es ist dies „die apriorische Anwendung westlicher Begriffe, Kategorien, Kriterien und Einordnungsmuster auf die nichtwestliche, von der Moderne teils unbefleckte Kunst“ (Jocks 2020: 69). Peter Weibel, der sich in seiner Kritik am Eurozentrismus mit Jocks einig weiß, weist in seiner Antwort darauf hin, dass „(i)m Unterschied zum westlichen Kunstsystem der immer schnelleren Brüche (…) die nichtwestliche Kunst der Tradition verhaftet“ (ebd.: 69) ist. Da wird, völlig zurecht, die Unangemessenheit der apriorischen Anwendung westlicher Begriffe, Kategorien, Kriterien und Einordnungsmuster angeprangert, um dann im gleichen Atemzug völlig unbefangen von der ‚nichtwestlichen Kunst‘ zu sprechen. Und das, wo doch der zentrale Begriff der Kunstgeschichtsschreibung – ‚Kunst‘ – ein eurozentrischer Begriff par excellence ist. Die Zeit scheint reif für ein neues, unvorbelastetes Begriffsinventarium.
[8] Damit nicht genug. Es stellt sich auch die Frage, ob der Begriff ‚moderne Kunst‘ kulturinvariant verwendet werden kann. Oder ob die verschiedenen spezifischen überindividuellen sozialen Institutionen, auf die der Begriff ‚moderne Kunst‘ Anwendung finden soll, ad hoc festgelegt werden oder ob es eine allgemein akzeptierte Liste solcher Institutionen in der Synchronie gibt. Und auch, ob unsere Verwendung des Begriffs ‚Kunst‘ im fachspezifischen Diskurs nicht von der alltagssprachlichen Gebrauchsweise des Wortes Kunst diktiert wird: Wer denkt, wenn er den Begriff ‚moderne Kunst‘ hört, nicht intuitiv zum einen an den Begriff ‚Kunst‘, der für das konkrete Werk steht, und zum anderen an den Begriff ‚Kunst‘, der für genau eine spezifische überindividuelle soziale Institution steht: die bildende Kunst? Wir wollen uns an dieser Stelle provisorisch auf die unscharfe ad hoc-Festlegung des Begriffs ‚moderne Kunst‘ als das episodale Ereignis der kulturinvariant gegebenen, allgemeinen überindividuellen sozialen Institution ‚Kunst‘ festlegen, das in eben den spezifischen überindividuellen Gattungen repräsentiert wird, die in allgemein akzeptierter Gebrauchsweise des Wortes Kunst gegenwärtig als ‚Kunst‘ apostrophiert werden (wer auch immer nun diese Allgemeinheit darstellt). Alltagstauglich gesprochen: Zum Umfang dessen, was als Gattung unter den Begriff ‚moderne Kunst‘ fällt, wollen wir an dieser Stelle all die Künste zählen, die zur Zeit zur ‚modernen Kunst‘ gerechnet werden.
[9] Als ‚relevant‘ sollen hier kulturinteressierte und kunstaffine peer groups gelten. Selbstverständlich ist diese Festlegung nur als eine dem Arbeitsziel geschuldete Verkürzung zu verstehen, die keinen Anspruch auf Gültigkeit erhebt.
[10] Zumindest für jene Begriffstypen, zu denen ‚Kunst‘ gehört (anders als der Typus, zu denen Begriffe wie ‚Primzahl‘, ‚Gold‘ etc. gehören [sogenannte ‚Frege’sche Begriffe‘]) gilt: Was heute gilt, hat keinen Anspruch auf zukünftige Gültigkeit. Wer weiß schon, ob nicht morgen irgendwo auf der Welt ein Kunstschaffender ein Konzept geteilter Intentionalität in der Malerei etabliert?
[11] Im Gegensatz zu transitorischen Kunstformen verläuft bei der Malerei die Hervorbringung künstlerischer Äußerungen und deren teilnehmende assoziative Rezeption nicht zeitgleich, sondern in der Regel zeitversetzt. Zudem sind Werk, Kunstschaffender und Rezipient nur selten zur gleichen Zeit am gleichen Ort, können also aus naheliegenden Gründen nicht die dem Werk geltende Aufmerksamkeit teilen.
[12] Eine solche Festlegung darf man sich nicht als bewussten, geplanten Akt der Vereinbarung vorstellen, der von den Beteiligten gemeinsam vollzogen wird. Vielmehr erfolgt sie in einem Prozess der unsichtbaren Hand und ist das stets fluide, das heißt in Wandlung begriffene kollektive und nicht intendierte Resultat gleichgerichteter intentionaler Handlungen Einzelner.
[13] Ob auf dieser Basis bei den Rezipienten bereits im Moment der teilnehmenden assoziativen Rezeption eine selbstbezogene Intention vorliegt oder erst im Moment der teilnehmenden reflexiven, interpretativen Rezeption? Lege ich Rudi Kellers Begriffspräzisierung zugrunde – „(i)ntentional und planvoll sind keine Synonyme; intentional und unbewusst sind keine Gegensätze“ (Keller 2014: 29) – müsste die Antwort wohl lauten: Bereits im Moment der teilnehmenden assoziativen Rezeption liegt eine selbstbezogene Intention vor. Allerdings eine unbewusste, keine bewusste.
[14] Diese Art der Zuschreibung ist auf der Makroebene (der Gemeinschaft) das spontane Resultat des Zusammenwirkens der Einzelnen einer Gemeinschaft (Mikroebene). Insofern lässt es sich als Phänomen der Emergenz beschreiben.
[15] Der in Heidelberg lehrende Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs weist im Rückgriff auf Thomas Nagels berühmt gewordenen Aufsatz Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? darauf hin, dass jede Art des subjektiven Erlebens, also der „intentionale(n) Beziehung von Subjekt und Welt“ (Fuchs 2020: 182) an eine „zentrierte Perspektive gebunden ist, die sich nicht in einer objektiven, physikalischen Beschreibung rekonstruieren lässt“ (ebd.: 182). Dabei geht er sogar noch einen Schritt weiter: „Subjektive Tatsachen“, so zitiert er den Philosophen Hermann Schmitz, „sind sozusagen in höherem Maß als objektive Tatsachen tatsächlich“ (ebd.: 183). Was erklärlich macht, warum bestimmte künstlerische Äußerungen bei manchen Rezipienten eine immense emotionale Wucht besitzen, während andere Rezipienten dieselbe künstlerische Äußerung völlig kalt lässt.
[16] Eine Ausnahme bildete die Konfrontation der Künstlerin mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten und künstlerischen Partner Ulay, der ohne ihr Wissen als unmittelbar beteiligter ‚Mitspieler‘ an dieser Performance teilnahm. Hier wusste sich selbst die sonst so beherrschte Künstlerin nicht zu beherrschen. Es war ein ganz und gar nicht durch sie intendierter Aspekt der Arbeit. Was die interessante Frage aufwirft, ob solche und ähnliche von der Künstlerin nicht intendierten Aspekte, unabhängig von ihrer nachträglichen Einschätzung, als konstitutiver Teil des Werks aufgefasst werden können.
[17] Es ist eben dieser Aspekt, der die Performance A minute of silence m.E. grundlegend von anderen unterscheidet und sie in gewisser Weise zu einer Gattung ihrer selbst macht: Sie ist nicht einfach nur eine ephemere Kunstform, bei der in Gegenwart unmittelbar teilnehmender Beobachter Künstler und Werk zu verschmelzen scheinen – sie ist in diesem Fall eine Kunstform, bei der ein Zuschauer als unmittelbar Beteiligter des Werks ins Werk tritt und somit zum konstitutiven Element dieses episodalen Ereignisses selbst wird. Ein anderes Konzept wird bei der Immersion verfolgt, der Entgrenzung von teilnehmenden Beobachtern und dem Artefakt, bei der die ‚Mitspieler‘ in das bereits bestehende Werk ‚eintauchen‘ sollen, um so zu einer neuen Ebene teilnehmender assoziativer Rezeption zu gelangen (Stichwort: Virtual Reality).