langsamer lesen, schneller verstehen

Vorbemerkung der Redaktion: Zum Welttag der Poesie wurde der 21. März von der UNESCO ausgerufen. Dieser Tag wird seit 2000 jedes Jahr gefeiert, er soll an „die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern.“ Weiterhin soll ein interkultureller Austausch gefördert werden. Der Gedenktag soll dazu beitragen, dem Bedeutungsverlust der Poesie entgegenzutreten. Im 19. Jahrhundert seien, so der Literaturwissenschaftler Nikolas Immer, 20.000 Lyriksammlungen allein im deutschsprachigen Raum veröffentlicht worden – eine Zahl, die inzwischen utopisch erscheint.

KUNO dankt Walter Stonet für die Kooperation

Seit 1989 untersucht das Online-Magazin KUNO (Kulturnotizen) das Spiel mit Sprecher-, Autorin- und Text-Ich, dass sich an bewussten oder verweigerten Identifikationen abarbeitet. Die Redaktion blieb seither stets in Äquidistanz. Lyrik ist eine Gattung, die zwischen den Zeilen Zeit und Raum gibt, weil diese Leerstellen dann ihrerseits vom Leser Raum und Zeit einfordern. Gedichte dehnen sich aus, wenn man sie liest. Das Abtragen der Schichten, Auffächern der Bedeutungsstränge, der Rhythmen und Klänge, der Brüche und Widersprüche, die es, diese Königsdisziplin, in sich trägt. KUNO angemessen abzuschließen, bedeutet vom Ende her zu denken und dieses Online-Magazin als eine Anthologie im Ganzen zu betrachten. Was wir Poesie nennen, ist ein hergestellter Speicher, ein narratives Rhizom, in dem die Bedeutung in Bewegung gerät. Spätestens seit der Pandemie hat sich eine zunehmende Furcht breitgemacht. Die Furcht davor, sich zu einer Haltung zu bekennen, die nicht mehrheitsfähig ist. Die Furcht vor den Ausschlägen einer Cancel Culture, die ohne Debatte zum sozialen Ausschluss führen. Die Redaktion fasziniert bis heute die Vorstellung, dass eine Kultur durch ihre Wegwerfartikel mehr über sich aussagt als durch ihre vermeintlich verehrten Kunstwerke oder politischer Korrektheit. Höhenkamm oder Trash, wer mag dies im 21. Jahrhundert noch zu unterscheiden?

Lyrik interessiert mich eigentlich nicht. Ich weiß nicht, was mich interessiert. Vielleicht Unverschnarchtheit. Echte Lyrik ist tote Lyrik, egal wie hübsch sie daherkommt.

Charles Bukowski

KUNOs Intention wird geleitet von dem hermeneutischen Imperativ, das Verstehen sei wesentlich das des Fremden. 1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie. 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie. 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt. Es geht auch bei den folgenden essayistischen Kulturnotizen um die Frage der poetischen Produktion. Es sind neue Textformen entstanden, mit denen die Gesellschaft sich von sich selbst erzählt: Soziale Poetik, Sound–Poetik und Social Reading. Geht das Verständnis für die Kulturleistung Poesie verloren, zerfällt Gemeinschaft buchstäblich aufgrund von mangelndem Verständnis. Die Redaktion stellt in diesem Essay Autorinnen und Autoren vor, für die Gedichte andauernde Suchbewegungen nach einer Sprache sind, die der Erkenntnis einen Ausdruck verleiht. Lyrik ist das Wortwerden des Unaussprechbaren. Gedichte bleiben für KUNO eine unendliche Geschichte der literarischen Textformen, die einer neuartigen Perspektive Gestalt verleihen. Es bleibt das ewige Zusammenspiel von Textgestalt und Textgehalt. Auch in der freien Gestalt ist die Form ist nicht beliebig, sondern integraler Teil des Denkens. Das Textäussere besitzt damit heuristischen Wert, insofern es zum poetischen Gehalt beiträgt. Das Wesen der Poesie lässt sich nicht abschließend klären. Was bleibt, was hat man noch in der Hand und was ist längst entglitten?

Ist Lyrik übersetzbar?

Unlängst gab es eine Diskussion darüber, wer die Gedichte von Amanda Gorman übersetzen sollte. Dabei wurde nicht nach Qualifikation gesucht, sondern die Verlag suchten nach einer jungen Aktivistin, im besten Fall schwarz. Was an dieser Diskussion befremdete, war das Faktum, daß diese Frage das eigentliche Problem nicht thematisiert: „Ist Lyrik überhaupt in eine andere Sprache übersetzbar?“

Ich stehe ja auf dem Standpunkt „nichts ist unübersetzbar“. Auch Lyrik nicht. Es kommt auf Sprachgefühl an, auf einen großen Wortschatz, Flexibilität im Hirn, und man muss üben üben üben. Mit Hautfarbe hat das nichts zu tun.

Ní Gudix

Woon-Jung Chei, Lyrikerin und Übersetzerin

Als Gegenbeispiel verweisen wir auf die Übersetzerin durch Woon-Jung Chei und ihre kongeniale Übertragungen Die Sterne über dem Land der Väter von Ko Un. In diesem Band finden wir Erinnertes und aus Empfindungen Imaginiertes, Rückblicke bis in die frühen Wanderjahre, in die Zeit der ersten Auflehnung gegen das Militärregime nach dem zweiten Weltkrieg und darin eingebettet die Utopie oder besser Hoffnung, es werde der Tag des Festes kommen, der Wiedervereinigung des so lange in Süd und Nord zerstückelten ›Landes der Väter‹. Chei ist auch selbst als Lyrikerin hervorgetreten. Ihre Poesie beeindruckt durch ihre Abkehr von künstlicher Komplexität, sie basiert auf natürlicher Einfachheit. Chei schreibt aus ihrem koreanischen Hintergrund heraus über die Freiheit, die Liebe und den Tod. Dabei macht die gegenseitige Befruchtung östlicher und westlicher Kultur einen besonderen Reiz ihrer Lyrik aus. In ihren Texten beschreibt Chei die Kultur in Korea als Spiegelbild, aber auch als notwendigen Gegenpol, des Existenzkampfes. Hier kann man lesen, daß die Inhalte wichtiger sind als Identitätspolitik.

Lyrik ist nach Hölderlin der Wunsch, „die eigene Rede des andern“ zu verstehen.

Ulrich Bergmann, ein jovialer und schalkhafter Grandseigneur

Wir schätzen beim Online-Magazin Kulturnotizen im Poetenpingpong der Positionen die ästhetische Gegenposition eines Ulrich Bergmann, die meistenfalls hinreichend begründet daherkommt. Er ist ein Glücksgeborener. Und damit meint KUNO nicht nur das äußerliche Glück, sondern die seelische und psychische und, davon ausgehend, geistige und kulturelle Prädisposition und Begabung für Glückswahrnehmungen, die ihn selbst noch die Ironisierungen und Parodien seiner eigenen glücksbezogenen Größenphantasien als Glück erleben läßt. Gegen die Auffassung, daß die Verschmelzung von Glück und Kunst eine vormoderne Vorstellung sei, setzt er seine Modernisierungen des Glücksempfindens. Wenn er sein Leben in seinen Texten dialektisch paradox durch Spiel, Theater, Phantasie erweitert, weiß er, daß die ungedachten Gedanken und die unrealisierten Pläne immer besser als die gedachten und gelebten sind und der ideale Text eigentlich Liebesakt, Geburt und Erleuchtung vereint. Sein Werk reicht von intensiven Alltagsbeobachtungen über die Wiederbelebung historischer Figuren bis zur reinen Fiktion. Er ist ein Freigeist, ihm gelten nur die Regeln der Syntax, er geht mit kühler Distanz an allen kunstideologischen Prämissen und saisonalen Tendenzen vorbei, ohne sich in der Attitüde zu verhärten. Wir verliehen Ulrich Bergmann für die Reihe „Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben” den KUNO-Lyrikpreis 2016. Drüber hinaus schätzt die Redaktion seine redaktionelle Arbeit für den Dichtungsring. Diese Literaturzeitschrift widerlegt die Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene. KUNO dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck. Auf KUNO ist die Reihe Kollegengespräche wieder aufgelebt, daher stellen wir auf KUNO den Briefwechsel von Ulrich Bergmann mit dem Lyriker HEL näher vor.

Die Beweg­lichkeit des Denkens mit einem anti­syste­matischen Impuls verbinden

Photo: Konstantin Reyer

Nicht nur Gott, auch die Lyrik ist schon oft für tot erklärt worden. Von der Sporaden-Insel Lesbos, dem kulturellen Zentrum des 7. vorchristlichen Jahrhunderts bis hin in die pannonische Landschaft des 21. Jahrhunderts hat die Lyrik diverse Überformungen erhalten. Der Weg von Sappho zu Sophie findet sich hier. Vielfältig ist das lyrische Werk von Sophie Reyer, daß sich als eine lyrische Entpuppung Im Monat der Seidenraupe darstellt und in Baumzyklen mündet. Einzig der Kraft der Sprache verpflichtet sichten ihre Texte die Natureindrücke. Der Begriff des Differentiellen und der Geist der Dekonstruktion haben ihr die Augen für bestimmte Schreibstrategien geöffnet. Vertiefend von der Redaktion zur Lektüre empfohlen, sei das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni zum Projekt Wortspielhalle.

Der Gruss der Lyriker untereinander sollte sein: ‹Lass dir Zeit!›

Selten gab es so viele viel versprechende Talente in der anspruchsvollen Lyrik wie in diesen Tagen, selten eine so gut ausgebildete Lyrikergeneration. Und dennoch führt Lyrik ein Nischendasein. Die Einladung zu einer Verabredung mit meinem Publikum muß man erst einmal am Anschlag finden. Lyriker schreiben im 21. Jahrhundert Gedichte aus dem einzigen Grund, weil sie es wollen; und der ‚Sinnzerstreuungsbeauftragter im Zeilenkrieg‘ Ralph Pordzik weiß, worüber er textet. Er zeigt sich darin als denkendes, mitfühlendes, künstlerisches Subjekt auf Augenhöhe mit seinem Gegenstand. Die meisten in diesem Band versammelten Gedichte bestechen durch die Intensität ihrer Bilder und den Rückgriff auf unterschiedliche Dichtungstraditionen, die fremde Stimmen und Idiome in einer Sprache konzentrierten Ausdrucks und lyrischer Intensität zu einer inneren Welt erträumter Zusammenhänge verdichten. Die Dichter auf die sich Pordzik bezieht sind mehr als nur Vorläufer der Heutigen. Insbesondere auch der Radikalität wegen, mit der sie den Wert eines Gedichts von der Gewichtigkeit seines Sujets schieden und einzig an die Prägnanz der sprachlichen Umsetzung banden. Der Lyriker, wie involviert auch immer, ist der Abstandhalter par excellence. Die unpathetische Rede ohne metrischen Leierkasten gehört inzwischen zum Standard. Die durch Einfügung von Dingen aus entlegenen Kontexten und überraschende Metaphern erzielte Verfremdung zählt heute als surrealistischer Effekt ebenso zum Grundbestand dichterischer Verfahren wie der Umgang mit hyperbolischen und metonymischen Figuren, Bewusstseinsstrom, pointierte Raffung und profanierter Symbolismus. In ihrem lakonischen Grundton verstehen sich Pordziks Gedichte zugleich als Provokation der klanglich wie stilistisch überholten Sprache der Poesie und erweisen sich als eine moderne Praxis des Schreibens, die durch ihre strenge, karge Grazie und ihren kunstvollen Gestus psychologischer Selbstüberwindung fasziniert. Dieser Lyriker ist ein filigraner Wortmetz, der sich jahrelang als Leser in den Höhen und Niederungen der Literatur getummelt hat und daran sein eigenes Handwerkszeug schärfen konnte. Seine Gedichte sind Explorationen in die Gelassenheit der Passivitätskompetenz. In diesem Band wimmelt es von Philosophien, dazu kommen Wortwitze und Wortspielereien. Genau genommen, ist es ein Wimmelbuch für Sprachverliebte. Es ist großartig, wenn sich Literatur so etwas traut, und es ist großartig, wenn sich ein Verlag traut, solche Literatur zu verlegen. Verabredung mit meinem Publikum ist ein von jener intellektuellen und poetischen Eigensinnigkeit, die vom großteilig in Fadheit genormten Gedudel des Gegenwartsliteraturbetriebes mit fataler Zwangsläufigkeit auf einen Außenseiterposten verbannt wird. Gelegentlich sollte man Verabredungen ernst nehmen.

Poesie hat keinen Gesellschaftsvertrag mit der Wirklichkeit.

Theodor W. Adorno

Folgt man den Überlegungen der Kulturkorrespondentin Sigrid Löffler in Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler, dann handeln die spannendsten Romane der Gegenwart von Migrationsgeschichten. Dies mag für Liebesgedichte nicht weniger gelten. Safiye Can entdeckt in diesem Erlebnis das Substrat der künstlerischen Kreativität. Die Autorin knüpft an die Klassiker der osmanischen Lyrik an, indem sie das Prozesshafte der Bewegungen von einer Sprache in die andere überführt und sich die vielfältige Gefühlswelt aneignet. Solche Prozesse prägen Weise die heutige Weltgesellschaft, die von Migrationsströmen im großen Stil geschaffen und neu erfunden wird. Die Literatur spielt in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Mit nichts als den Mitteln der Sprache stellt Can immer neue Regeln auf und stürzt immer neu alle Regeln und alles schon Gewußte um. Dort, wo dies gelingt reicht der Impuls über die Sprache hinaus, kommt die richtigstellende Kraft der Dichtung ins Spiel. Diese Lyrikerin transformiert die Wirklichkeit. Die Topografie der neuen Weltliteratur benennt Löffler mit dem 1990er Jahre-Passus aus der Kunstkritik Hybrid, weil ihre Erzähler zwischen zwei Kulturen leben und aus dieser Spannung ihre neue Identität gewinnen. Die Lyrik von Safiye Can durchschlägt die Zeiten und verbindet einander ferne Räume, und sie verteidigt dem Sinnlichen und dem Unsinnigen seinen Platz in dieser Welt. Gedichte über die Liebe sind schwierig, einerseits praktiziert der Poet die Auflösung der Wirklichkeit im Gedicht, andererseits holt sie aus derselben in selbiges herein. Auf dem schmalen Grat zwischen Euphorie und Traurigkeit wandelnd, gelangen ihr vehemente Weltentwürfe aus Spiegelbildern, Rätseln und Träumen. Es geht dieser Lyrikerin um Sehnsucht und Enttäuschung, um Nähe und Entfremdung und den Versuch, das Amouröse zu versprachlichen. Das Schöne an der Poesie wie an der Liebe ist das inhärente Versprechen, daß da etwas ist im Leben, das nicht aufgeht, das sich nicht bändigen läßt, unaufgelöst bleibt. Diese Gedichte sind Eigen-Sinnigste Lyrik.

Wie ein Archäologe hebt Holger Benkel Dinge, Gedanken, Zusammenhänge, die begraben wurden von der Zeit, ans Licht unserer Tage. Und belässt ihnen dabei doch ihr Geheimnis.

Holger Benkel, ein poetischer Feldforscher

Das Gespräch mit den Toten ist einen nicht unwesentlicher Aspekt des Dialogischen in der Lyrik von Holger Benkel. Gedichte bedeuten für ihn etwas, das Seamus Heaney so beschreiben hat: “die Authentizität archäologischer Funde, wobei die vergrabene Tonscherbe nicht weniger zählt als die Ansiedlung; Dichtung als Ausgrabung also, als das Ans-Licht-Holen von Fundstücken, die am Ende als Pflanzen dastehen.” Es um eine Phantasie, die zugleich frei und verbindlich ist. Ein Naturmystizismus wird beschworen und gleichzeitig dekonstruiert. Zu Benkels Realismus gehört eine feine Sensibilität für mythologische Motive, die tiefer und wahrer sind als die Oberfläche der sogenannten Wirklichkeit. Klarheit und Magie sind für diesen Lyriker keine Widersprüche. Dieser Lyriker hat ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen. Sein Beharren auf der ehemals kultischen oder liturgische Funktion der Poesie ist wohltuend. Zugleich streicht Benkel das Dilemma aller heutigen dichterischen Bestrebungen hervor. In seinen Augen funktioniert die Verknüpfung des Sprachmaterials in der Lyrik wie die Technik des Aufnehmens und Schneidens der Bilder im Film (shots and cuts), wobei das beide Verbindende in der Dichtung wie im Film der Rhythmus ist. Wer das Handwerk der Verskunst aus dem Zusammenhang der kultischen Sinngebung herausreißt, wird mit dem Geschenk der Freiheit belohnt. Der Aufbruch in eine Freiheit ohne jegliche Verbindlichkeit ist das trügerische Geschenk einer Kultur, die nichts so sehr ersehnt wie Autonomie und Ungebundenheit. Benkel stellt die Fragen nach kultureller und nationaler Identität nicht rhetorisch, sondern als drängende Suche; auch nach dem Ich. Durch die Originalität seiner Wortfindungen kann er das Prestige des Schamanen und Geisterbeschwörers noch verwalten. Man muss sich auf dieses Schreiben einlassen, als buchstabiere man mit Benkel die Welt neu. Dann gehen einem Augen und Ohren auf, und viele Zeilen prägen sich nachhaltig ein.

In sich gekehrt, um sich der Welt zu öffnen. Lyriker versuchen mit ihren Werken immer wieder den eigenen Geist und die eigenen Gesten, mit der Materie zu verbinden

Manchmal erscheinen Bücher mit einem Titel, bei denen man sich wundert, daß es sie noch nicht gibt. Mit ihren Sexophismen meldet sich eine kühne Stimme in der deutschsprachigen Lyrik zu Wort. Swantje Lichtensteins Verse sind ausdrucksstark; sie zeichnet mit Metaphern Sprachbilder in die Vorstellungen der Leser. Diese erotische Dichtung hält gleichsam die Mittelstellung und fundiert eine Grenze zur „platten Ansicht“, indem sie nicht nur das Erleben möglichst deutlich vorstellen, sondern auch die Zusammenhängen der Erlebenskultur und -tradition erschließbar machen und mit Sexophismen kommentieren kann. Das Verhältnis dieser beiden Seiten zueinander ist wesentlich für die Stimmung einer gedichteten Erotik. Lesenswert ist dieser Zyklus nicht nur wegen der souverän eingesetzten sprachlichen Mittel, die vom volksliedhaften bis zu einem manchmal recht pathetischen Ton reichen und über ein großes Formenspektrum verfügen, sondern auch wegen der Anregung zu Mit- und weiterdenken. “Entlang der lebendigen Linie“ tastet sich diese Lyrikerin sophistisch zu ihren Sexophismen, welche mit sogenannten „Portalen“ den Lesern Zugang zum Schreiben der Dichterin und Wissenschaftlerin verschaffen. Lichtenstein läßt die deutsche Sprache in der Schwebe, geht ihrem Klang nach, ihrem Rhythmus, bis sich Assoziationsräume öffnen. Der Verkapselung, Verdichtung und Verknappung ist es wohl auch zuzuschreiben, daß Lichtensteins Gedichte dunkel, oder hermetisch genannt werden. Man muss sich erst mal in diese Sprache hineinlesen. Dieses Buch ist sperrig, kaum daß man glaubt, den Zyklus im Griff zu haben, verrutschen die Zeilen, man blättert zurück und will es genauer wissen. Die Mühe wird durch das Dechiffriersyndikat belohnt. Jede Zeile erzeugt einen neuen Text aus einer alten Leserin, dergestalt bewegt sich Lichtenstein augenzwinkernd zwischen Archaik und Moderne.

Bevor Beat zur Pop-Literatur verniedlicht wurde, war er gefährlich. Beat-Literatur hat ihren Reiz nicht verloren, doch in einer Zeit, da Originalität von der Stange erhältlich ist, muss sie sich schriller präsentieren, um noch Aufmerksamkeit zu wecken.

Peter Engstlers Gedichte wenden sich radikal gegen alle gesellschaftlichen Normierungen, gegen den ganzen Literaturbetrieb und dies ausdrücklich auch orthographisch, provozierend mit einer verwegenen Verknäuelung von Hybris und Demut, Tiefsinn und Posse. Seine Lyrik streift das Ephemere von den Momenten und Gelegenheiten, die sich dem dichterischen Zugriff bieten, fast vollständig ab und führt sie in Augenblicke glasklarer Betrachtung über. Ohne Rücksicht auf soziale Rituale und Reglements bricht Engstler verkrustete Strukturen auf. Dieser Autor interessiert sich gleichermaßen für die Wirklichkeit, die Psyche und das Unbewusstsein, hier sucht er nach der letzten Wahrheit. Seine Texte entäußern die innere Bewegung und verinnerlichen zugleich das Äußere. Schon früh hat sich dieser Autor in das Biosphärenreservat an die Rhön zurückgezogen. Den vulkanischen Ursprung dieses Gebirgszugs ahnt man ebenso als Bodensatz seines Schreibens, wie die offenen Fernen. Aus diesem Hinterland gelingt ihm ein Transfer der Normalität ins Pathetische. Mitunter nicht ohne ironischen Nebenton, der als kritisches Element in seinem Band »Strophen eins« mitschwingt. Es geht in diesem Band um die andere Wirklichkeit, die durch Literatur in die Welt kommt. Diese Lyrik ist kein Selbstzweck, sondern eine klug angelegte, tief gestaffelte Vorrichtung, in der das Publikum auf Wortfelder trifft. Behutsam fächert Engstler die Variationen des Blicks auf die Gegenwart auf und lädt dazu ein, das eigene Begreifen als vorläufiges, vergängliches zu begreifen. Dies ist ein Buch voller Lebensweisheit, aber es stellt diese Weisheit an keiner Stelle zur Schau. Es geht in »Strophen eins« darum, den Lesern das Disparate nahezubringen. Mit einfachen Worten: Es geht um prismatische Wahrnehmung.

Eine Linie nehmen und sie spazieren führen.

Diesen Vorschlag des großen Künstlers Paul Klee nimmt die Lyrikerin Joanna Lisiak im wahrsten Sinne wörtlich: Sie komponiert Gedichte aus Wörtern, die Paul Klee in seinen Tagebüchern, Briefen und anderen Schriften benutzt hat. So entstanden sprachintensive und bildreiche Texte, die dazu einladen, die eigenen Gedanken, Assoziationen und Gefühle spazieren gehen zu lassen. „Der Humor von Paul Klee und von Joanna Lisiak geben sich ein Stelldichein.“ Das lyrische Erwachen, gepaart mit dem Bewußtsein über ihre Liebe zur Sprache stellten sich bei Joanna Lisiak fast zwangsläufig ein. Der sprachlich-kulturelle Umstand ist wahrscheinlich verantwortlich dafür, daß diese Autorin um den Wert von Handwerk und Sprache weiß und virtuos, sprachspielerisch, mitunter erfinderisch mit der Sprache umzugehen versteht, jedoch keineswegs eine linguistische Bastlerin ist. Auch das akkurate Hinschauen selbst auf vordergründig gewöhnliche Vorgänge und Gegebenheiten, vermag die Autorin immer wieder auf ungewöhnliche Weise in neues Licht zu rücken und ihr eigenes Staunen darüber literarisch kundzutun. Bei all dieser funkelnden Vielflächigkeit bleiben Lisiaks Texte stets überlegt inszeniert und folgen einer Rhetorik, die einzelne Beobachtungen zur Realität und ihre Idiosynkrasien nur so lange ins Rampenlicht stellt, wie es braucht, um realistisch klare Vorstellungen zu erzeugen, die ins Subjektive kippen.

Sprache ist Atem, gefüllt mit Sinn.

Serhij Zhadan

Coverphoto: Leonard Billek

Die Redaktion verweist auf einen Sprechsteller, der von zehn Jahren mit einer poetischen Performance abgetreten ist: „Dieses Ich ist kein anderer“, es ist von Buch zu Buch und zu Hörbuch: A.J. Weigoni. Das Frühwerk Wiederbeatmung, die Trilogie Letternmusik – ein lyrisches Polydram in fünf Akten, Dichterloh – ein Kompositum in vier Akten und Schmauchspuren – eine Todeslitanei, ergänzt durch die Langgedichte & Zyklen: Parlandos, sind erscheinen in einer limitierten und handsignierten Ausgabe von 100 Exemplaren, ergänzt durch das auf vier CDs erweiterte Hörbuch. Mit dem Holzschnitt präsentiert Haimo Hieronymus eine Drucktechnik, er hat ihn auf die jeweiligen Cover der Gedichtbände von Weigoni gestanzt. Bei dieser künstlerischen Gestaltung sind Gebrauchsspuren geradezu Voraussetzung. Man kann den Auftrag der Farbe auf dem jeweiligen Cover haptisch nachvollziehen, der Schuber selber ist genietet. Und es gibt keinen Grund diese Handarbeit zu verstecken, die Aura des Handgemachten passt zum Genre der Lyrik wie ein Handschuh. Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. Die Redaktion fasst die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.

Als Angelika Janz im Rheinland in den 70er Jahren erste Schritte in die Literatur- und Kunstszene unternahm, lehrte in Düsseldorf Joseph Beuys, in der Kunst wurden nicht die Schlachten des 19. Jahrhunderts geschlagen, sondern zwischen Pop Art und Fluxus wurde im Zukunftslabor gearbeitet.

Michael Gratz

Daß moderne Literatur nicht nur im begrenzten Format eines Buches seinen Platz hat, belegen der Multimediakünstler Peter Meilchen, der Sprechsteller A.J. Weigoni oder die visuelle Poetin Angelika Janz nachdrücklich. Alle vorgenannten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch, als auch interdisziplinär. Ein Ansatz, der bei den germanistischen Fliegenschißdeutern keine große Beachtung findet, weil die Rezeption von Literatur im Gegensatz zu der von bildender Kunst größtenteils im 19. Jahrhundert steckengeblieben ist. Die Literaturtheorie sollte daher im 21. Jahrhundert zu einer dienenden Rolle zurückfinden und endlich ihre Unterwürfigkeit ablegen. Die Collagen von Angelika Janz bestehen jeweils aus Bildelement und Text. Sie weisen Eigenschaften sowohl von Lyrik (Reime und Assonanzen, aber auch rhythmisierte, oft dipodische Sprache) wie auch von Prosa auf. Es ist ein fortwährendes mäandern zwischen der visuellen und semantischen Ebene. Der charakteristische Stil in ihren experimentellen Texten zeichnet sich durch Metaphern, Neologismen und Gegensätze aus. Janz läßt sich nicht auf einen bestimmten Kulturbereich oder Sprachzustand eingrenzen, sie generiert ihre Fragmenttexte aus zufälligen Textfundstücken und setzt so auch das naturalistische Begehren auf überraschende Weise fort, der materiale Aspekt lässt diese Textfragmente gleichzeitig zu Artefakten der bildenden Kunst werden. Ihre Text-Bild-Collagen wurden in Buchform veröffentlicht, man kann sie in Ausstellungen bewundern, frei flottierend zwischen den Kunstgattungen und jenseits des Schubladendenken. Viele ihrer künstlerischen Werke lassen sich unter dem Oberbegriff Visuelle Poesie einordnen. Diese Art der Poesie kann sich zwar als Kunstform verstehen, muß es aber nicht. Und damit kann man Janz als Ideen- und Formenlieferant für alle Bereiche der modernen Informations- und Kommunikationsgesellschaft verstehen. Sie kann also auch als sogenannte angewandte Künstlerin verstanden werden, wenn ihre Innovationen in die Werbung, in die technischen und elektronischen Medien dringen, ohne fürchten zu müssen, gegen Poetiken oder Ästhetiken verstoßen zu haben. Diese Wortplastiken beziehen auch den Betrachter selber als Textlieferanten in den Entstehungsprozess ein. Auch die Arbeit an „Wortbildern“, die mit Hilfe des PC gestaltet werden, gewinnt an Bedeutung. Janz‘ respektlose Art, die Vogelfreiheit des gedruckten Wortes bis zur buchstäblichen Vereinzelung auszuspielen, signalisiert die Elastizität des respektabel Gedruckten, sie wird zu einem künstlerischen Ausdruck zeitgeistiger Verfügbarkeit über Lebendiges, Lebloses, Bewegliches und Unbewegliche Aufforderung zur Weiterverarbeitung inbegriffen. Angelika Janz ist eine der nachhaltigsten Vertreterinnen dieser literarischen Richtung in Deutschland.

Man könnte Janz Verfahren als eine ästhetische Prothetik beschreiben. Sie nimmt vorgefundenen Text zur Grundlage und setzt ihm mit der Schere zu, zerlegt und verstümmelt ihn. Nun aber wird er repariert oder besser ergänzt.

Jan Kuhlbrodt

Gedichte, die sich nicht auf Anhieb nicht eindeutig kategorisieren lassen, wecken seit 1989 das Interesse von KUNO als wir die Lyrik als Seismograph an der Epochenschwelle erkannten. Das Bildzeichen wird seither zum Sprachzeichen und wenn man die Arbeiten von Angelika Janz betrachtet auch umgekehrt. Sie unterscheidet zwischen Bildgegenständen und Textgegenständen, beide können miteinander korrespondieren, müssen es aber nicht. Diese Gedichte haben eine Wendung, einen Satz, ein Wort, oder auch nur einen Klang, der sie mit der konventionellen Erfahrungswelt kurzschließt, einen Anker, an dem man das Verständnis des wirklich Neuen vertäuen kann.

Geblieben ist nur das bewegte Bild einer stufenweise verschwindenden sichtbaren Welt.

Péter Nádas

Gestatten wir uns einen Blick zurück nach vorn: Im Jahre 1961 schrieb Marshall McLuhan das Buch The Gutenberg Galaxis: The Making of Typographic Man, in dem er den Tod des Buches für die 1980er Jahre vorhersagte. Die typographische Kultur hat die Vielfalt der Sinnesempfindungen in den Hintergrund gedrängt, indem sie die Wahrnehmung visuell homogenisierte. Nach McLuhans Argumentation bewirkte die Durchsetzung des Buchdrucks die Entstehung des Nationalismus, des Dualismus, das Dominieren des Rationalismus, die Automatisierung der wissenschaftlichen Forschung sowie die Vereinheitlichung und Standardisierung der Kulturen und die Entfremdung der Individuen. KUNO warf unlängst einen Blick auf das Laboratorium der Poesie. Die Redaktion betrachtet die Schnittstellen zwischen Literatur und digitalen Medien. KUNO versteht digitale Literatur als Text, der wiederum Text verarbeitet und bearbeitet. Auch die Entstehung eines Gedichtbandes ist inzwischen das Ergebnis transmedialer Übersetzungen. Die neuen Vertextungsstrategien lassen einem den Glauben an die alten Gewissheiten verlieren, an die Glaubhaftigkeit der Werte, an die Gewissenhaftigkeit.

Schreiben von Gedichten / ist Übersetzen / aus einer Sprache / die es nicht gibt

Fabjan Hafner

In seiner Gänze sinnt KUNO der Frage dem menschlichen Aspekt schriftlicher, visueler und mündlicher Überlieferung nach. Gedichte liefern dabei eine Positionierung, die Leser erkennen sich selbst und das man der Poesie eine Gestalt geben muss, die als Publikation weit mehr ist, als der individueller Geist. Die Lyrik ist von allen Fesseln befreit, es gibt keine Rückkehr zum Reim, zum Minnelied oder zur Strophenform der Ode. Seit 1989 ist ein neuer Freiraum in die Literatur eingezogen, wir sehen und hören inzwischen die Gedichte, die wir lesen. Gedichte sind nur ein Hauch mit epiphanischen Momenten. In der Lyrik geschieht etwas, das wie eine Loslösung erscheint, als würden Strophen sich vom Wollen derer, die sie schreiben, lösen, sich wie ein unruhiger Fluss den eigenen Weg suchen und nicht nur überraschende Wendungen, sondern auch Staus, Inseln, Stromschnellen erleben und umgekehrt – die reflektieren, die ihn produzieren und vielleicht auch die, die sie später hören und noch später auch lesen. Schreiben ist kontemplative Erinnerungsarbeit, die ein Warnzeichen setzt. Sprache ist nicht nur Werkzeug, sondern eine selbständige, unabhängige Form der Ästhetik. Die Klangfarben der Worte kann man mit Musik verglichen. Worte sind mehr als definierbare Zeichen, Metaphern und Symbole, sie haben auch einen Klang. Ein Zeile in einem Gedicht klingt manchmal wie ein Akkord. Alle Sinne werden angesprochen. Wie das ausschaut, wie es sich anhört und sich lesen lässt, zeigt KUNO in 2024, ein Jahr, in dem sich die Redaktion den Luxus erlaubt, sich ausschließlich mit der Königsdisziplin der Literatur zu beschäftigen.

…will be continued…

 

 

 

Weiterführend

Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott KUNO dieses post-dadaistische Manifest. Porträts von Lyrikerinnen und Lyrikern finden sich in unserem Online-Archiv, z.B. eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel außerdem die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, er schrieb zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, Haimo Hieronymus, André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Joachim Paul, Peter Engstler, Jürgen Diehl, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, Sabine Kunz und Joanna Lisiak. Lesen Sie auch eine Würdigung von Theo Breuer oder eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Der Schuber wurde handgefertigt von Olaf Grevels (Vorwerk Kartonagen) – Photo: Jesko Hagen

In 2017 erschien das lyrische Gesamtwerk von A.J. Weigoni. Jedes Buch aus dem „Schuber“ ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk! KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Probehören kann man die Gedichte von A.J. Weigoni in der Reihe Metaphon die Schmauchspuren und das Monodram Señora Nada. Ebenda der Remix der Letternmusik. Das Original kann zum Vergleich hier gegenhören. Und außerdem die Live-Aufnahme der Prægnarien. Ein Video von Frank Michaelis und A.J. Weigoni aus der Schwebebahn findet sich neben dem Schland aus Herdringen.