delectare et prodesse

Vorbemerkung der Redaktion: Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt.

BENKEL welche symbiosen zwischen leben und kunst erlebst du bei deinen kulturreisen sowie besuchen von theatern, opernhäusern, museen und galerien?

BERGMANN In erster Linie ist es das Neue, die Neuartigkeit des Blicks auf Wirklichkeiten und Formen, auch Sichtweisen, die mich interessiert und bewegt und zu Erkenntnissen und zum Umdenken oder zur Erweiterung meines Denkens treibt. Das können auch alte Bilder, bildhauerische und architektonische Arbeiten leisten. Die Ausdeutung des Kunstbegriffs und die Erweiterung dessen, was als ästhetisch gilt: das hat einiges zu tun mit der Deutung von Lebenswirklichkeiten und vor allem mit Prozessen der Konsensbildung. Natürlich lese ich nicht jedes Buch, sehe ich nicht jedes Bild oder Theaterstück, höre ich nicht jede Musik ausschließlich in dieser Weise, sondern es gibt auch Staunen, Freude am Erlebten, und zwar unmittelbar, intuitiv, sinnlich – selbsttherapeutische Wirkungen sind hier durchaus im Spiel, und das ist auch gut so, das fördert die Gesundheit – vor allem im Zusammenspiel mit der Intellektualisierung. Und wenn ich nach dem Theater ins Restaurant gehe – dann erlebe ich, wenn ich mit den richtigen Leuten zusammen bin, noch eine zweite Katharsis; so gesehen kann der Genuss von Kunst sowohl den Kopf bereichern wie auch den Bauch erfreuen – delectare et prodesse.

BENKEL sind für dich kreativität und spiel auch gegenwelten zur profanen lebenswirklichkeit?

BERGMANN Gegenwelten? Nein. Meine Erzählungen, auch die besonders spielerischen, sehe ich als Abbilder unserer Welt, in der wir leben. Spielerisch kann hier bedeuten, dass in diesen fiktiven oder nachempfundenen, teils autobiografisch geprägten Erzählungen Wirklichkeit perspektivisch gebrochen, variiert oder satirisch zugespitzt werden. Auf diese Weise kann eine kritische Intention lesbar werden, so gesehen impliziert jede Kritik ein Gegen, aber nicht unbedingt eine Gegenwelt. Schon gar nicht hat mein erzählerisches Spiel mit Wirklichkeiten und Perspektiven die Funktion, ein schlechtes Leben, Scheitern, Unglück oder nicht realisierte Wunschvorstellungen zu kompensieren. Meine Erfindungen haben auch keine religiösen Dimensionen. Letztlich bleiben sie selbst als absurde Findungen der Wirklichkeit verpflichtet.

BENKEL von welchen künsten empfängst du die meisten und intensivsten anregungen?

BERGMANN Literatur: Romane, Erzählungen, Lyrik – Theater/Oper/Tanztheater – Musik – Bildende Kunst; vielleicht in dieser Reihenfolge, aber temporär kann alles ganz oben sein. In meiner Jugend waren Filme ebenso wichtig, verloren aber ihre Wirkung.

BENKEL in welchen maße basiert deine seelische jugend auf deinem glücksanspruch?

BERGMANN Meine Liebe zum Leben war von Anfang da. Bin ich seelisch jung? Ich fühle mich wie immer und bin doch heute ein ganz anderer als in meiner Kindheit oder frühen Jugend, und trotzdem bin ich in vielem unverändert. Vermutliche Ursprünge meiner Lebensliebe: Meine Mutter liebte mich innig, als ich noch nicht über mich selbst nachdenken konnte. Ich wuchs auf unmittelbar nach dem Weltkrieg, mein Vater war in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, aber meine Großmutter liebte und förderte mich in meiner Kindheit und frühen Jugend. Meine in mir wohnende Neugier war und ist immer da. Meine erste Ehe und das Familienleben gaben mir viel Kraft. Mein Lehrerberuf ebenso. So überstand ich den frühen Tod meiner Frau gut. Meine zweite Ehe wurde ein Lebensgeschenk. Schließlich hatte ich selbst viel Glück mit meiner Gesundheit.

Die Lebensbedingungen außerhalb meiner Privatsphäre waren nie entscheidend, allerdings auch nicht wirkungslos. Auch hier habe ich viel Glück – historisch, politisch, wenn ich von der langen Kriegsgefangenschaft meines Vaters in der Sowjetunion und von der deutschen Teilung absehe.

Und der Tod? – Ich hoffe, wir treffen uns nicht als Feinde.

BENKEL wie ist aus dem träumerischen kind, das du warst, ein beliebter lehrer geworden, der seinen beruf nicht nur ausgehalten, sondern selbst gestaltet hat, nicht zuletzt aufgrund seiner kreativen und spielerischen gaben?

BERGMANN Ich weiß es nicht, ich muss mir hier mit einer ziemlich spekulativen Narration antworten: Mich hat erst schweres Scheitern zur Wirklichkeit gebracht – sitzengeblieben in der Unterprima, und nach der Bundeswehr ein betrügerisches Gammlerjahr. Erst als ich ganz unten war, stellte ich mich den Lebensforderungen, fand zur Realität: Nachholen des Abiturs und Studium. Im Studium allerdings ein gefährlicher Rückfall ins allzu Träumerische, ich verlor Jahre. Erst meine Heirat und Familiengründung zwang mich, endlich fertigzuwerden mit dem Studium. Als ich das Referendariat beendete, wurde ich gerade noch als Lehrer eingestellt. Das war knapp! Von da an ging’s bergauf – und es gelang mir, meine träumerische Art zu bewahren und zu integrieren in meiner Berufsausübung, indem ich die literarischen ‚Träume‘ unterrichtete und die Schule meine Bühne wurde, und das auch noch gut bezahlt. Allmählich gerierte ich zum Lebenskünstler. Längst nicht alles war Plan und Berechnung. Vieles ergab sich. Ich begann mit dem Studium der Mathematik und Physik, wechselte zu Germanistik und Geschichte, weil meine Kommilitonen nichts anderes im Sinn hatten als Zahlen. Erst in der Mitte meines Studiums wurde mir klar, dass ich eigentlich nur Lehrer werden konnte, was in meiner Schulzeit mal mein Wunsch war, der sich später verlor.

BENKEL aus welchen quellen kommen die sublimierungen, verwandlungen und paradoxien deiner literarischen texte und wie fließen sie zusammen?

BERGMANN Das weiß ich nicht genau. Wahrscheinlich spielt alles was ich mal gelesen habe, eine große Rolle, vor allem also die deutschsprachige Literatur. Vielleicht auch Donald Duck und Prinz Eisenherz. Der Lateinunterricht. … Und wie sich das alles verbindet und zu dem wird, was ich schreibe, ist mir völlig unklar. Vielleicht fließt da gar nichts zusammen.

BENKEL wohin erweiterst du dein ich, wenn du dich, real oder fiktiv, verwandelst und anverwandelst?

BERGMANN Ich hatte schon in früher Jugend den Willen, möglichst viel zu erfahren und zu wissen in den Bereichen: Belletristische Literatur, Philosophie, Musik, Kunst. Auch Reisen, Umgangsformen, Begegnungen, Liebe, Ehe und Familie sollten dazu beitragen, mich im Rahmen meiner Möglichkeiten zu vervollkommnen.

In meinem Beruf als Lehrer habe ich am meisten gelernt in den Rollenspielen und Begegnungen mit Schülern, Eltern und Kollegen.

BENKEL unter welchen persönlichen und gesellschaftlichen bedingungen können sich reflexives denken, relativismus, ironie und menschenfreundlichkeit miteinander verbinden und verbünden?

BERGMANN Die Frage verstehe ich so: Wie kann Intellektualität sozial wirksam werden? Der einzelne Intellektuelle muss das nicht allein leisten, das ist eine Sache für Teamarbeit, also gegenseitige Ergänzung. Die besten Bedingungen dafür schafft eine demokratisch verfasste Gesellschaft mit einer gut funktionierenden Wirtschaft.

BENKEL welche perspektiven haben kulturundbildungsbürger individuell und kollektiv?

BERGMANN Der Begriff des Bildungsbürgers hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt – erfreulich ist dabei die Erweiterung des Kulturbegriffs. So gehören selbstverständlicher und stärker als noch in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts Bereiche zur Kultur, die früher eher nicht zählten: Sport, Gastronomie, Sexualität, Ökologie, Handwerk, Mode und andere Bereiche. Der Kulturbegriff ist reicher geworden, vernetzter, er hat mehr Sitz im Leben. Das bereichert den Einzelnen und die gesamte Gesellschaft, weil ein solcher Kultur- und Bildungsbegriff viel politischer und nützlicher geworden ist, zumal sich die kulturellen Aspekte gegenseitig viel mehr verstärken. Große Ideen kann ein Einzelner zwar, wie zu allen Zeiten, haben, aber ihre Umsetzung wird zunehmend stärker abhängig von Kollektiven.

BENKEL worin und womit hat dich deine kindheit in halle an der saale geprägt?

BERGMANN Die große Acht-Zimmer-Wohnung meiner Großeltern, in der ich mit meiner Mutter wohnte, das war die gesamte obere Etage eines großen wilhelminischen Wohnhauses mit zwei Balkonen, Vorderhaus und Hinterhaus; hinzu kamen Bad und Toilette, Speisekammer, Küche, zwei Flure und zwei weitere Zimmer außerhalb der Wohnung, eins beim hinteren Treppenhaus, ein weiteres im Dachgeschoss des Vorderhauses. – Die Saale, die ganz in der Nähe war, das lange Promenadenufer mit der großen Ziegelwiese und dem Giebichenstein. – Die im Krieg fast unzerstörte Stadt mit dem großen Markt. – Die ungeheure Freiheit, die ich hatte – ab meinem sechsten bis zum zehnten Lebensjahr konnte ich, allein und mit meinem Freund, meinen Erkundungsradius auf etwa fünf Kilometer im Umkreis des Hauses in der Senefelderstraße erweitern, auf Bäume klettern und stundenlang unterwegs sein. Ich musste nur zum Abendessen wieder zu Hause sein. Ich konnte sämtliche Schränke, Regale, Schubladen, Kisten und Kasten meiner Großeltern durchsehen und damit spielen, ich konnte also mit Möbeln, Tischen und Stühlen zum Beispiel Burgen bauen. – Meine Großeltern erklärten mir alles, was ich sie aus Büchern fragte. Sie spielten mit mir Karten, Domino, Mikado, Mühle und Dame. Nach nur wenige Monaten befreite mich meine Großmutter aus dem Kindergarten. – Prägend war natürlich auch, dass mein Vater in sowjetischer Gefangenschaft war, keiner wusste, ob er noch lebt. So sehr mir der Vater fehlte, so war seine Abwesenheit der Grund meiner besonderen Freiheit.

BENKEL welche deiner lebensformen und fähigkeiten sind rheinisch und romanisch grundiert?

BERGMANN Ich bin in Halle an der Saale geboren und wuchs dort in den ersten zehn Jahren meines Lebens auf. 1955 kam ich ins Rheinland, wo ich bis heute lebe. Ich bin kein Rheinländer, auch kein assimilierter. Ich spreche hochdeutsch, das kommt von meiner Mutter. Alle Eigenschaften, die sich mit Rheinischem vertragen, brachte ich mit oder entwickelte sie aus mir selbst, ohne dass mir ein rheinisches Vorbild dafür erschien. Neben meiner Neigung, manches nicht zu genau zu nehmen, habe ich einen sehr ausgeprägten Ordnungssinn. Ich betrachte bestimmte Orte und Situationen meines Lebens zeitweise als Bühne, liebe Schauspielerei im engeren und weiteren Sinne, spiele gern in Gesprächen mit Inhalten oder dem Gegenüber, ahme gern andere Menschen und Verhaltensweisen nach, besser gesagt: ich spiegele sie. Die rheinische Sentimentalität, also Schunkeln oder Klüngeln, liegt mir sehr fern.

Ähnliches gilt für das Romanische. Es stimmt, ich mag romanische Lebensart, und soweit ich sie in Deutschland leben kann, tue ich, was ich kann – das betrifft meinen Hang für Cafés und Restaurants, das Leben auf der Straße allgemein. Reden und Palavern lernte ich im Vaterhaus. Das Katholische liegt mir in seiner Sinnlichkeit, etwa in der Kunst seit der Renaissance – aber die Kirche und die Instrumentalisierung der Religion verabscheue ich. Ich bin protestantisch aufgewachsen, also antipäpstlich.

In vielem bin ich sehr deutsch – das betrifft Ordnung und Organisation. Aber auch die Musik einschließlich ihrer österreichischen Varianten vom Barock bis zur Spätromantik. Oder die deutschsprachige Literatur und Philosophie. Nationale Gefühle betrachte ich jedoch mit Vorsicht.

BENKEL worin bestehen aus deiner sicht die wichtigsten unterschiede zwischen westlichen und östlichen kulturen?

BERGMANN Ich bin derart westlich aufgewachsen, geschult und durch Erfahrungen geprägt, dass mir Östliches nicht so recht nahekam. Französische Literatur und Philosophie, angelsächsische Erzählungen, skandinavische, italienische, spanische und südamerikanische Literatur – das war der prägende Schwerpunkt. Allerdings schätzte ich seit meiner frühen Jugend die ältere russischen Literatur, später kamen Chlebnikow, Jessenin, Daniil Charms hinzu – begeistert las ich Stanislaw Lems überragende Science-Fiction-Erzählungen und die Gedichte von Wisława Szymborska.

Die Unterschiede kann ich aufgrund meiner geringen Kenntnisse östlichen Denkens und Erzählens nicht angemessen beschreiben. Ich sehe eher viele Ähnlichkeiten sowohl in der älteren Literatur als auch in der Suche nach Neuem und im Übergang zur Moderne, so auch in der Kunst. In der Musik habe ich viel mehr Kenntnisse – hier kenne ich alle wichtigen östlichen Komponisten und ihre Werke, auch die der Moderne: Bartok, Janacek, Strawinsky, Zemlinsky, Szymanowsky, Prokofiew, Rachmaninow, Schostakowitsch, Weinberg, Lutoslawski, Ullmann, Penderecki, Gubaidulina, Kancheli, Schnittke, Eötvös, Kurtag, Kancheli … Auch hier sehe ich eher die gegenseitigen Durchdringungen von West und Ost, der Versuch, das Östliche im Unterschied zum Westlichen zu charakterisieren, führt leicht zu Cliché-Untiefen.

BENKEL welche deiner erfahrungen in china waren für dich am ungewohntesten und überraschendsten und was wirkt von deiner lehrtätigkeit dort nach?

BERGMANN Mich überraschte, dass Studenten im 6. Semester in ihrer seelischen Reife kaum anders wirkten als deutsche Schüler einer 10. oder 11. Klasse, oft geradezu noch kindlicher. Ich führe das zurück auf die starke Disziplinierung der Chinesen im Kindergarten und in der Schule. Das hat nicht nur zu tun mit der Herrschaft der kommunistischen Partei, sondern auch mit dem Kollektivgedanken, der schon in der Kaiserzeit eine große Rolle spielte und in der konfuzianischen Tradition steht, die nun allerdings parteiideologisch umgedeutet wird. Auch die Ein-Kind-Politik hat dazu beigetragen, indem Kinder übermäßig behütet und verwöhnt werden. Mir fiel auch die politische Unwissenheit und Unaufgeklärtheit auf – sie steht im Zusammenhang mit den Herrschaftsverhältnissen in China.

Genauso frappierend war für mich die nicht ganz unerwartete Bestätigung meiner Annahme, dass die Chinesen mir nicht fremd waren, im Gegenteil, ich kam mir in allen menschlichen Dingen vor, als wäre ich zu Hause.

Der Grad der Europäisierung/Amerikanisierung war erschreckend. Hier zeigt sich die Macht des global wirkenden Kapitalismus. Der einzige Sektor, der seine Eigenheit und Selbständigkeit bewahren könnte, ist das chinesische Essen, dessen gesunde Qualität, Vielseitigkeit und Schmackhaftigkeit geradezu vorbildlich ist.

Meine Lehrtätigkeit zeigte mir, wie tief die Kluft zwischen der chinesischen Zeichensprache und unseren europäischen Sprachen ist.

BENKEL wie gelang es dir, schicksalsschläge literarisch zu gestalten und aufzuheben?

BERGMANN Es gelang mir, Schicksalsschläge besser zu überwinden, indem ich schrieb. Dabei achtete ich darauf, dass mein Schreiben nicht primär selbsttherapeutische Funktion annimmt, sondern allgemeinere Bedeutung. Ich schrieb nach dem Tod meiner ersten Frau meine Träume auf und beobachtete, wie in den Träumen nach und nach die Gestorbene ferner rückte und wie andere Bilder in den Vordergrund rückten. Erst als ich Abstand von den mich betreffenden Inhalten der Träume gewonnen hatte, Jahre später, verarbeitete ich einige Träume in anderen erzählerischen Zusammenhängen.

Eine andere Methode bestand darin, Erzählungen zu erfinden, die solche Trauerträume ersetzten, und das geschah bereits vor dem Erlebnis des Todes. Ich habe also die eigentlichen Träume vorweggenommen, sie gleichsam vorgeträumt. Allerdings beschäftigten sich diese Erzählungen noch nicht mit dem Verlust, den ich erlitt, sondern dem Leid des vom Tode gezeichneten, verlorenen Menschen.

Ganz bestimmt ist der Roman meiner Kindheit, „Doppelhimmel“, auch eine Verarbeitung erlittenen Schicksals: Erst das Fehlen des Vaters und dann der Verlust der Mutter nach der Auferstehung des Vaters. Aber das betrifft mehr den Plot. Wesentlicher ist die Reifung des Kindes, seine Individuation – am Schluss des Romans steht der Abschied von der Kindheit.

In einem weiteren Roman, „Janusdämmerung“, habe ich die Schicksalsschläge verarbeitet, die ich mir in meiner viel zu ausgedehnten Jugend selbst zufügte. Da diese Fehler längst geheilt sind, fehlt der selbsttherapeutische Aspekt hier vollkommen – das Schicksal wird hier mehr ausgebeutet im Interesse der Erzählung, es wird zum Material, allenfalls zum Stoff einer allgemeinen Mahnung oder Abschreckung.

BENKEL welche der aktuellen fehlentwicklungen, ungebremster egoismus, soziale kluften, umweltschäden und gewalt, sind noch am ehesten korrigierbar?

BERGMANN Die Verringerung sozialer Unterschiede – mit vielleicht positiven Auswirkungen auf alle anderen Probleme.

BENKEL inwieweit helfen verfremdungen des todes im leben und wie oft bist du in deinen texten schon auferstanden?

BERGMANN Das ist die schwerste Frage. Der Tod ist in der Tat ein häufiges Motiv in meinen Erzähltexten. In jüngeren Jahren kokettierte ich mit dem Tod, weil ich ihn in weiter Ferne glaubte. Ich sah in ihm eine Spielfigur – das passte immerhin zu meinen Erzählfiguren, die wesentlich jünger waren als ich, der erzählende Verfasser. Je näher das Ende meines Lebens rückt, umso vorsichtiger werde ich mit einem solchen Spiel umgehen.

Geholfen hat mir das Spiel mit dem Tod nicht, es sei denn, dass es der Ausdruck meiner Lebensfreude war, vielleicht auch unbewusster Trost beim Älterwerden. Aber das weiß ich nicht. Das Verfremdungsspiel selbst macht Freude, solange man es sich leisten kann, weil man noch genug Leben vor sich zu haben glaubt. Ich habe jedenfalls mit dem Motiv des Todes keine tiefere Absicht gehabt außer der, die Bedeutung des Lebens zu unterstreichen angesichts unserer Endlichkeit. Dieses memento mori führt wie schon in der Barockzeit den Leser unserer Zeit zu der doppelten Aufgabe: Carpe diem, ergreife den Tag, genieße ihn – und das heißt auch: nütze deine Zeit für Wesentliches. Im Fall meines Romans „Janusdämmerung“ bedeutet das: Erkenne deinen Irrweg, geh nun einen besseren Weg. Janus hat am Ende des Romans die Chance einer Auferstehung, wenn er sich und seine Lage erkennt und ändert.

Am Ende des Romans „Doppelhimmel“ ist der Weg Janus‘ aus der Kindheit in das Erwachsensein auch so etwas wie eine Auferstehung. Letztlich ist auch das Erwachen in jeden neuen Tag eine Auferstehung für den, der leben will. So gesehen ist mein ganzes Leben ein Auferstehungszyklus.

 

 

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Weiterführend → Zwischen 1995 und 1999 hat A.J. Weigoni im Rahmen seiner Arbeit für den VS Kollegengespräche mit Schriftstellern aus Belgien, Deutschland, Rumänien, Österreich und der Schweiz geführt. Sie arbeiteten am gleichen „Produkt“, an der deutschen Sprache. Dieser Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Ulrich Bergmann steht in dieser Tradition.

→ Lesen Sie auch ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. – Ein faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier.

→ Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte von Ulrich Bergmann aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.