Aus dem Hinterland

Eine Würdigung des Literaturvermittlers Theo Breuer

Theo Breuer weiß, daß die Verwendung vertrauter Vorlagen keineswegs das Gelingen sichert. Er hat die Lyrik nie mit dem bloß Schönen verwechselt. Das Ästhetische hängt in den von ihm gemachten Versen eng mit dem Außergewöhnlichen, Unerhörten, Unwahrscheinlichen zusammen. Schauder, Schock und Schrecken sind, konsequenterweise, wiederkehrende (auf den ersten Blick unauffällige) Begleiterscheinungen, die im Kosmos der Gedichte als zwischen sterbendem Eros und werbendem Thanatos, melancholischem Froh- und satirischem Schwermut schwingende Bilder wahrnehmbar werden: der Wurm ist nah hier hilft wohl bloß noch ducken. Gleichsam auf doppelbödiger Wendeltreppe steigt Breuer tief und tiefer in die Stoppelfelder der Sprache hinab, entdeckt immer neue Einschiebungen und Muster im Innern der Muster. Flankiert von poetischen Zitat-Einsprengseln scheint es, als läsen wir hier Palimpseste, jede Seite vielfach beschrieben. Der Inhalt ist codiert, die Sprache ein dichter Brombeerverhau.

Eine beliebte Süßigkeit, die man früher für ein paar Groschen am Kiosk erwarb, war das sogenannte Eßpapier.

Theo Breuer, so scheint es, hat nie mit dem Naschen aufgehört. Ein Buch nach dem anderen nimmt er zu sich, und das Charmante an seinem unstillbaren Lesehunger ist, daß er die Leser daran teilhaben läßt. Sein waches Interesse an neuesten Strömungen in der zeitgenössischen Lyrik und Prosa findet reichhaltigen Ausdruck in den seit 1999 erschienenen Monographien zur Poesie vor und nach 2000. Breuer macht sich jede Anregung umgehend zunutze, verarbeitet sie in einfühlsamen Essays und leitet so eine stilistische Neuorientierung ein, die zu denken gibt. Über deren Tragweite und sein Selbstverständnis als Autor, der einen Weg jenseits von Avantgarde und Postmoderne beschreitet, legt er in den ebenso tiefsinnigen wie luziden Selbstbefragungen seiner Bücher Rechenschaft ab.

„Die Monographien »Ohne Punkt & Komma. Lyrik in den 90er Jahren« (1999), das opus magnum »Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000« (2005) sowie »Kiesel & Kastanie. Von neuen Gedichten und Geschichten« (2008) präsentieren die pralle Pracht der Poesie im deutschen Sprachraum – und darüber hinaus. Der Lyriker, Herausgeber und Verleger Theo Breuer, gleichsam Erfinder der lyrisch-essayistischen Fußnote, drückt dieser mit seinen lyrischen Essays einen sehr persönlichen Stempel auf, er ist zugleich Liebhaber, Sammler und Enzyklopädist, setzt sich der Wörter-, Bilder- und Textflut aus, die uns täglich umspült und sucht aus verqueren Verweisen stimmige Strukturen abzuleiten.

Jan Röhnert betont: »Kiesel & Kastanie. Von neuen Gedichten und Geschichten ist ein wichtiges Buch, vielleicht ist es überhaupt Theo Breuers wichtigste Publikation bislang, zumindest in der gegenwärtigen Situation. Es gibt wohl keinen, der mit einem derartigen Insiderwissen aufwarten „kann, was die Informiertheit über lyrische Neuerscheinungen usw. betrifft, und dabei, was seine äußerliche Isoliertheit im sogenannten Betrieb betrifft, aus einer fundamentalen Außenseiterposition heraus argumentiert. Gerade dieser scheinbare Widerspruch verleiht Autor und Buch die außergewöhnliche Kraft und Schärfe. Theo Breuer legt aus guten und nachvollziehbaren Gründen keinen Wert auf Besprechungen in den Feuilletons, auf Bekanntwerden im Betrieb, aber gerade das wäre diesem Buch im Interesse der Sache, um die es geht, sehr zu wünschen. Die unbequemen Wahrheiten, die, wenn ich mich unter den heutigen Lyrikern umschaue, keiner so unverblümt und ungekünstelt öffentlich macht, wäre nur zu sehr den angehenden Bellatristianern und Bellatristianerinnen, den Schaumschlägern und Schaumschlägerinnen aus dem Berliner Bionadebiedermeier unter die Nase zu reiben: Aber sie werden’s schon lesen, rezensions- und erfolgshungrig wie sie sind, und werden sich höchst wundern, daß es da einer wagt, Tacheles „zu reden, anstatt sie am Babyspeck zu kraulen. Es ist schon so, wie Breuer schreibt: In einem verwöhnten Environment wachsen verwöhnte Kinder heran, die mit der Realität des wirklichen Lebens draußen wenig anzufangen wissen, natürlich gedeiht da nur eine künstlich hochgezüchtete Treibhauslyrik. Ein Grund mehr, warum die tiefe, wirklich existentiell berührende Lyrik heute kaum in Deutschland, sondern andernorts entsteht, wie Breuer anhand verschiedener Beispiele nachweist. Kiesel & Kastanie spricht mir mit vielem, sei es auch scheinbar versteckt in den zahlreichen Fußnoten, aus tiefstem Herzen. Es werden Wahrheiten ausgesprochen, besonders etwa im Kapitel Lyrik 2007 – Kleines Verschieben. Junge Lyrik, usw. (in dem u.a. BELLA triste 17 ausführlich besprochen wird), die anderswo gar nicht veröffentlicht würden: Was Breuer über die Wohnortwahl, über Kritikerhochmut, über Dichterhochmut beim Poetologisieren, über unsinnige Absolutheitsansprüche einiger Poeten, deren Bücher sich allenfalls wenige hundert Mal verkaufen, usw. „schreibt, ist einfach nötig, gesagt zu werden; viele, die meisten vielleicht, werden es kaum hören wollen – aber auch das nützt ihnen nichts. Denn der Leser von Kiesel & Kastanie wird schnell gewahr, daß hier kein beleidigter Zurückgewiesener schreibt, sondern einer, den die Begeisterung zur Poesie treibt und der deshalb die Sache verteidigen will und nicht Personen, die glauben, die Sache als Mittel zur Profilierung mißbrauchen zu können. Der Ton in Kiesel & Kastanie ist deshalb einer der absoluten Redlichkeit, die immer wieder die Poesie und nichts als die Poesie betont, aus keiner Seite spricht Koketterie. Und so bleibt mir am Ende nichts als dieses gelungene Buch, das von neuen Gedichten und Geschichten und mehr handelt, nochmals und nochmals zu preisen.«

Notwehr aus dem Hinterland

Breuer ist literaturbesessen im besten Sinne des Wortes. Er ist nicht nur begeisterter Liebhaber literarischen Schaffens, sondern einfühlsamer Leser „und kenntnisreicher Vermittler – mit der Finesse, Bücher in seinen Monographien auch entsprechend vorzustellen zu können. Theo Breuer agiert quasi in Notwehr. Da das deutschsprachige Feuilleton nurmehr interessengesteuert einen mehr als eingeengten Blick in den Literaturbetrieb ermöglicht, leistet er »aus dem Hinterland« eine ernorm wichtige Aufklärungsarbeit. Er überzeugt den Leser mit einer Präsenz und einer Glaubwürdigkeit, die immer wieder neu frappiert. Frei von jedem Manierismus schildert Breuer die Vielfalt poetischer Stimmen im deutschen Sprachraum und stellt vom Feuilleton ignorierte Autoren, Handpressen und Kleinverlage in den Mittelpunkt des Interesses. Es geht ihm eben nicht um die Betonung der Wertungsgefüge innerhalb des Literaturbetriebs, sondern, im Gegenteil, auf eigene Maßstäbe. In der hinterländischen Provinz – Sistig liegt im Nationalpark Eifel – bricht sich die Gabe des Beobachters bahn, der enorme literarische Reserven anlegt.

In diesem von ihm nach dem gleichnamigen großartigen Gedicht Jürgen Nendzas „benannten Hinterland lebt Theo Breuer als seßhafter Nomade und Mythenzerstörer.

Dieser Autor ist Lyriker, begnadeter Reisechronist und Briefschreiber (auch seine Mails lesen sich wie Briefe). Mit Theo Breuer über Gedichte, Romane, das Erarbeiten einer Figur oder über das Werk von Schriftstellern zu korrespondieren ist zugleich die Erfahrung, mit einem Menschen im Briefwechsel zu stehen, der sein Metier liebt, einem Schreiber von Essays, Buchvorstellungen oder Autorenporträts zu begegnen, der weiß: Schreiben bedeutet, einer fremden Figur Gestalt zu geben, und nicht, die eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen.

Maximilian Zander resümiert: »Mit großem Vergnügen und Gewinn habe ich Breuers umfangreiches »Aus dem Hinterland« gelesen. Interessant ist: Obwohl er, Theo Breuer, fast auf jeder Seite vorkommt, hat man an keiner Stelle das Gefühl, daß er sich ins Rampenlicht stellt. Wie kann das sein? “

„Das kann sein – und ist hier so –, weil der Autor nichts anderes als ein leidenschaftlicher Leser und Liebhaber der schönen Literatur ist, und diese Persona bzw. Kunstfigur ist es, die da spricht und sich einmischt, kein anderer. Der Gewinn bei der Lektüre ist groß, man wird auf sehr viele Bücher aufmerksam gemacht, von deren Existenz man sonst nie erfahren hätte, die man in keiner Buchhandlung zu sehen bekommt, auf die einen kein Buchhändler aufmerksam macht. Weiterhin bereichernd: die vielen Zitate, auch Anekdoten. Hat Arno Schmidt himself wirklich Zettels Traum auf einer übergroßen Schreibmaschine geschrieben?«

Die Spannungen zwischen der eigenen, offenbar bewußt an der Peripherie, dem deutsch-belgischen Hügelgrenzland gelebten Existenz und des Literaturbetriebs kann er vielleicht deshalb so gut aushalten, weil er sie, über sie reflektierend, neutralisiert und relativiert. Ein Blatt nimmt er dabei selten vor den Mund, schreibt jedoch mit Vorliebe über die „erquicklichen Dinge des literarischen Daseins, die er ins Bewußtsein der Leser heben möchte, und schweigt gern über Stoffe, die nicht der Rede wert sind. Das Schwein gehört in den Stall, nie wird im Hinterland eine Sau durchs Dorf gejagt, wie es in Berlin und anderen Metropolen an der feuilletonistischen Tagesordnung ist.

Edition YE

1993 gründete Theo Breuer die Edition YE mit der lyrischen Kunstschachtel YE, über deren bislang 13 Ausgaben es im Wikipedia-Artikel »Edition YE« heißt: »Ca. einmal jährlich erscheint seit 1993 die Kunstschachtel YE, in der originale Werke von Künstlern und Schriftstellern aus aller Welt versammelt werden. Typische Techniken der nummerierten und signierten seriellen Arbeiten, die im Zusammenspiel von Bild und Wort visuelle Poesie hervorbringen, sind Acrylmalerei, Aquarell, Autograph, Bleisatz, Collage, Computergrafik, Fotografie, Holzschnitt, Linolschnitt, „Mischtechnik u.a. Die Schachteln erscheinen in limitierten Auflagen von ca. 20 bis 100 Exemplaren. Hansjürgen Bulkowski, Guillermo Deisler, David Dellafiora, Manfred Enzensperger, Karl-Friedrich Hacker, Stefan Heuer, Joseph W. Huber, Klára Hůrková, Birger Jesch, Ilse Kilic, Axel Kutsch, Hendrik Liersch, Henning Mittendorf, Jürgen Nendza, Andreas Noga, Karla Sachse, Litsa Spathi, Günter Vallaster, Jürgen Völkert-Marten und Fritz Widhalm gehören zum internationalen Kreis der mehr als 200 Beiträger aus 25 Ländern.«

1994 erschien erstmals Faltblatt, die Lyrikzeitschrift, von der bislang neun, von Mal zu Mal umfangreicher werdende Ausgaben erschienen. 2002 wurde die Lyrikreihe mit Gedichtbänden von Margot Beierwaltes, Marianne Glaßer, Andreas Noga, Frank Milautzcki, Joseph Buhl u.a. ins Leben gerufen. Die 2003 edierte Lyrik-Anthologie »NordWestSüdOst« mit Gedichten von 66 Zeitgenossen bietet einen respektablen Querschnitt deutschsprachiger Lyrik kurz nach der Jahr „tausendwende, die er in Karl-Friedrich Hackers Itzehoer edition bauwagen mit bislang sieben handgeschriebenen Künstlerbüchern, die originale Autographen von jeweils 19 Lyrikerinnen und Lyrikern bergen, im wahrsten Sinne des Wortes unmittelbar und originell fortschreibt.

Kontakt, Korrespondenz, Kollaboration und Kommunikation sind Idealvorstellungen, die Breuers verlegerische Tätigkeit begleiten. ‚The Breuer’ ist eine Instanz mit größter Sensitivität und Einfallsreichtum. Er deckt die sich verändernden Realitäten im Literaturbetrieb auf und hat Anteil an den Versuchen, eine lebendige Kritik wiederzubeleben und auf anspruchsvolle Literatur abseits des Mainstreams aufmerksam zu machen.

Im ZwEifel

Man sollte die Werke von Norbert Scheuers und Theo Breuer nicht zwingend an autobiographisches Material rückkoppeln. „Von daheraus“ (Hub Stevens), goutiert KUNO diese buchübergreifende Korrespondenz als Dokument eines geglückten kritischen Regionalismus. Diese Werke vergleichend zu untersuchen, ist aus zahlreichen Gründen sehr naheliegend, daß es nicht weiter gerechtfertigt werden muss. Breuers Studie konzentriert sich weitestgehend auf Scheuers Werk. Im Fokus stehen Fragen, wie Scheuer als Repräsentant des poetischen Realismus wirkt und worin die jeweilige Modernität beim Umgang mit dem traditionsreichen Sujet der Imkerarbeit liegt. Es ergeben sich bei der Lektüre spannende Mesalliancen in Werken von Norbert Scheuer und Theo Breuer. Für den Leser ist leicht nachvollziehbar, daß Breuer seine eigenen Vorgaben und seinen Anspruch bei der Textherstellung auch tatsächlich eingelöst hat. Ein interessantes Variantenverzeichnis aus dem Hinterland, und wahrscheinlich die gelungenste seit dem unvergessenen Aufenthalt von Caroline Peters in dieser Region.

Wortlos und andere Gedichte

Über den Essayisten, Herausgeber und unermüdlichen Chronisten wird unter den Kurzsichtigen des Betriebs der vielseitige Lyriker Theo Breuer „dessen erstes Gedichtbuch 1988 erschien, gelegentlich gern übersehen. »Wortlos und andere Gedichte« heißt, programmatisch, das 2009 erschienene Lyrikbuch, in dem sich neben neuen Gedichten auch bereits bekannte Gedichte in neuen Fassungen finden. Das Buch ist im Anhang mit ausführlichen Anmerkungen versehen, die einen differenzierten und unterhaltsamen Einblick in die Textwerkstatt des Autors gewähren.

Ähnlich »Mittendrin« (1991), »Der blaue Schmetterling« (1993), »Das letzte Wort hat Brinkmann« (1996), »Land Stadt Flucht« (2002) oder »Nacht im Kreuz« (2006) läßt Theo Breuer literarische Heimatkunde auf Exotismus treffen, zeitgenössische Wirklichkeit auf Vergangenheitsgespenster. Es offenbaren sich Reibungsflächen der Moderne, die Gedichte deuten auf ein linguistisches System: Logik, Behauptung, Spekulation und Instruktion sind wie beiläufig zu lesen. Was im diesem selbsternannten Hinterland entsteht, ist ein wortwörtliches oder visuelles Spiel, das der Lyrik offenbar „mühelos den Hintergrund verleiht.

»Wortlos« ist wahrhaft wortstark. Gleich das erste Gedicht – »auf der straße« – ist eine Wucht. Und »du! (ruchu dur spruchu ust dus guducht)« sollte auf Plakatwänden kleben, zu den Favoriten von Sprayern gehören. Theo Breuer entdeckt die Narreteien der Sprache immer mehr und immer wieder aufs Neue, laufend fällt der Leser in schöne Stolperfelder, drempels bis in die reine visuellpoetische Zeichenhaftigkeit hinein ziehen das Auge an: ‚Sprachstreugutbreuergut’. Was auch immer für Erwägungen und Telefonate hinter dem Gedicht »forever young« stecken mögen – ich empfinde es als ein leises und zartes Gedicht mit der herrlichen Wortschöpfung: »mondschraubengroßmutter«. Das Gedicht ist natürlich satirisch, aber auch leise-melancholisch.

Schöne Gedichte, eindrückliche Gedichte: im Experimentellen mitwebend und doch von großartiger Klarheit, dadurch unverwechselbar in Theo Breuers „Ton und Duktus verfaßt. (Wobei in Bezug auf das Experimentelle auf das hinzuweisen ist, was Ann Cotten im Bella-triste-Lyrik-Mail-Austausch mit Florian Voß – beide sind ja gewissermaßen Breuers Nachbarn in »Der Große Conrady« – beklagt, daß nämlich niemand diesen Terminus möge, es aber keinen besseren gebe.) In die Michael Hamburger gewidmeten Gedichte beißt man, wie Andreas Noga es in seiner »Wortlos«-Besprechung im Poetenladen beschreibt, herzhaft hinein und empfiehlt sie wie ein saftiges Apfelstück weiter.

Was noch hervorheben?

Klar, das Gedicht für Oskar Pastior »an oskar p. – eine verinnerung« oder das Titelgedicht »wortlos«, in dem die Verben sterben. Das »sonett in dem es nicht regnet / sonett aus dem es nicht schneit« ist geradezu ein Ohrwurm. Wie gut, daß »Wortlos« nicht wortlos ist, sondern Wortlos, also manches mit den Wörtern anstellt: sie ebenso ernst nimmt wie mit ihnen spielt, also lose mit ihnen ihrem „jeweiligen Los nachgeht: »drei männer im nebel« – wunderbar.

Nicht nur das einzelne Gedicht ist Leseerlebnis: Die Gedichte in der sinnreichen Gesamtkomposition zu lesen ist anhaltender Genuß. Das Schwere leicht und luftig zu gestalten ist Breuer vorzüglich gelungen. Es ist ein Vergnügen, sich lesend von Wort, Spiel, Sound und Rhythmus tragen zu lassen. Theo Breuer zählt zu den lyrischen Schwergewichten, wobei seine Gedichte selbst nun wieder filigran, wort- und symbolverspielt mit feiner Ironie ein Lesevergnügen der besonderen Art sind:

 

leute

halten auch in düren

heute und in letzten tagen

morsche türen leere fenster

sehr geschlossen“

„noch wird · nicht einmal ·

mit pfeffer · geschossen

jedenfalls nicht hier

draußen im revier

[wespen bleischwer hinter borken]

bei schneefall treiben wir

zwischen eggen forken walzen

liegt ein hase mit der nase

fett im dreck

wir – – –

nichts wie · weg

 

Zu den Konstanten im frühen Werk gehört ein beinahe naiv ausgedrücktes Erstaunen über die sowohl erhaben als auch gebrochen empfundene Natur und die geheimnisvollen Waldlandschaften der Eifel. Sein neuer Band ist ein beeindruckendes Exempel für die vielfältigen Erkenntniswege „der Literatur. Das dialektische Rauschen des Eifelwaldes, in dem aus Verwirrung die reine Luft der Klarheit wird. Dieser Waldläufer ist zum Glück nicht der letzte Mohikaner der Lyrik, er ist in Verwandtschaft zu sehen mit dem lyrischen Schelm Axel Kutsch, den sprachmächtigen Gedichten des Luxemburgers Jean Krier und erinnern gleichzeitig an die durchdachte ungarheinische Lyrik A. J. Weigonis.

Daß eines der ersten Gedichte in »Wortlos« »brinkman, blick« heißt, zeigt die Verbundenheit mit dem rheinordischen Vorreiter. Souverän knüpft Breuer in »an oskar p. – eine verinnerung« und anderen Gedichten an die literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts an. Was im Lehrbuch steht, ist nur ein Ausschnitt aus der Literaturgeschichte. Lyrische Figuren haben ihr eigenes Leben, auch ihre eigene Vorgeschichte. Sie schwingt mit in den Zeilen, grundiert die Handlungen. Theo Breuer komplettiert seine Vorstellung von der lyrischen Moderne. Er entwirft, basierend auf der Literaturgeschichte, eine Art von Lyrik, die über diese literarischen Vorlagen hinausreicht.

Die große Gabe von Theo Breuer ist es, daß, was man liest, wie soeben geschehen wirken zu lassen. Immer wieder gibt es diese prächtigen Momente in seinen Gedichten, Szenen, die sich im Gedächtnis festsetzen, die nicht verlierbar sind – eine Art Triumph der Literatur. Um Max Bill zu paraphrasieren: Breuers Gedichte sind »Gegenstände für den geistigen Gebrauch«.

Es scheint, als habe er einen Handfeger genommen und ein paar jargonverdächtige Wörter aus dem Literaturhaus herausgekehrt. Hinfort mit der kitschigen Sehnsucht nach Dichternähe und noch einmal von vorn anfangen „Wortlos und andere Gedichte« ist ein geglücktes Zusammenspiel des Lyrikers Theo Breuer, des Verlegers und Lyrikers Peter Ettl und der feinen Linoldrucke des Künstlers und Künstlerbuchmachers Karl-Friedrich Hacker, das den Leser Seite für Seite sprachlos macht.

Atmen ∙ Perlen ∙ Sprudeln

In „Das gewonnene Alphabet“, dem im Oktober 2012 beim Pop Verlag in Ludwigsburg erschienenen Gedichtbuch, sucht Theo Breuer, so unerschrocken wie beredt, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, auf allegorische Art und dichotomische Weise nach Spurenelementen dessen, was gemeinhin als ›Wahrhaftigkeit‹ in Leben / Streben / Poesie bezeichnet wird: so geht jeder / an sein geschäft. Dabei erweist er sich zum einen als poeta doctus, der alle ›un/möglichen‹ Einflüsse verwertet und weiterentwickelt, zum anderen verschreibt er sich dem Sichtbaren, den (bisweilen auch nackten) Fakten, den tausend und mehr ›Dingen‹, die wir ›Alltag‹, ›Existenz‹, ›Leben‹, ›ZeitGeist‹ nennen und denen er schreibend auf die Schliche kommen will: verdammich – jede antwort ist auch keine. Dabei spielt der Autor als Darsteller keine nach außen hin tragende Rolle – diese übernehmen antiheldische Protagonisten wie Bensch, Kraus, Peer Quer, denen sich, als antagonistische Amazone gleichsam, gelegentlich eine Mrs. Columbo beigesellt –, er tritt nurmehr als nachgeordnetes Bewußtsein (von Erinnerung, enzyklopädischem Wissen) bzw. beschreibender Beobachter – scheibenspäher – in tunlichst hintergründige Erscheinung.

Mit jedem gelesenen Gedicht, jeder umgeschlagenen Seite nimmt sprachloses Staunen zu – der Autor und Herausgeber Axel Kutsch beschreibt die beim Lesen (und Schauen) gewonnenen Eindrücke so: Es ist von A bis Z ein Vergnügen, diese Gedichte zu lesen. Der alphabetische Fluß mit seinen vielen Alliterationen, Sprachspielen, verbalen Eigenwilligkeiten, originellen, ja, kühnen Wortschöpfungen, seinem immer wieder aufblitzenden Humor bietet ein erfrischendes Lektüreerlebnis. Diese Lyrik atmet, perlt, sprudelt, ist von quirliger Lebendigkeit.

Wendeltreppe

Theo Breuer weiß, daß die Verwendung vertrauter Vorlagen keineswegs das Gelingen sichert. Er hat die Lyrik nie mit dem bloß Schönen verwechselt. Das ›Ästhetische‹ hängt in den von ihm gemachten Versen eng mit dem Außergewöhnlichen, Unerhörten, Unwahrscheinlichen zusammen. Schauder, Schock und Schrecken sind wiederkehrende (auf den ersten Blick unauffällige) Begleiterscheinungen, die im Kosmos der Gedichte als zwischen sterbendem Eros und werbendem Thanatos, melancholischem Froh- und satirischem Schwermut schwingende Bilder wahrnehmbar werden: der wurm ist nah hier hilft wohl bloß noch ducken. Gleichsam auf doppelbödiger Wendeltreppe steigt Breuer tief und tiefer in die stolperfelder der Sprache, entdeckt immer neue Einschiebungen und Muster im Innern der Muster. Flankiert von poetischen Zitaten und angereichert mit Allusionen / Echos / Einsprengseln, scheint es, als läsen wir hier Palimpseste, jede Seite vielfach beschrieben. Der Inhalt ist codiert, die Sprache ein dichter Brombeerverhau.

Nährboden

Entgegen immer wieder gern proklamierten Verlautbarungen ist das Lesen von Gedichten keineswegs eine bedrohte Kulturform. Im Dasein des Verfassers und zahlreicher ihm bekannter Zeitgenossen ist sie allgegenwärtig: ein Tag ohne Gedichte? Undenkbar. Breuer, von literarischen Texten aller Orte und Zeiten beflügelter Ikarus, schreibt nicht nur präzise Poesie in vielerlei Idiomen (in denen beispielsweise dialektale oder englische Versatzstücken auftauchen): Er denkt über das suchstäbliche Schreiben von A bis Z hinaus, vertraut sondersamen Zeichen, die Tastatur und Bild „schirm möglich machen, kombiniert, montiert, verquickt, läßt auf diese Art die eigene Sprache – lakonisch, parodistisch, übermütig – ›ertönen‹, bildhaft werden, die aus dem seit rund dreitausend Jahren rund um den blauen Planeten bestellten Nährboden aufsteigt: Wenn Theo Breuer Gedichte schreibt, dann schwingt die Geschichte der Lyrik mit (Christoph Leisten). Als selbstbewußter Leser begreift Breuer das Lesen von Literatur als (anhaltende) Affäre, als Erlebnis, als De- und Rekonstruktion der vom jeweiligen Buch vermittelten Eigenwelt. Das bedachte Vertrauen in diese Eigenwelt versteht er als selbst produzierten Vorschuß. Der unbedingte Glaube ans Ästhetische, an die Literatur und die Schönheit des Denkens macht Theo Breuer zu einem Intellektuellen, der dieses Wortes würdig ist.

Fragile Fragmente

Akribisch buchstabiert Breuer Das gewonnene Alphabet von A nach Z, von ausgekopft bis zypres „senwolfsmilch. Oft holt er die Gegenstände ganz nah heran, beobachtet sie gleichsam unter dem Mikroskop der Sprache, die er als Präzisionsinstrument zum Einsatz bringt, so etwa die eine / blankgelbe ∙ blendend feine ∙ kleine mirabelle. Als listenreicher Chronist führt er, gewissenhaft und unterschiedslos, im Glossar sämtliche in den Gedichten verwendete Wörter auf. Bei aller stupenden Gelehrsamkeit fühle ich mich nirgends geschulmeistert oder bevormundet, finde (statt ›closure‹) offene Fläche / Freiraum für Assoziation und Zugabe. Aussage, Botschaft und Einfall hin, Gedanke und Idee her, auch in den beispielsweise politisch grundierten Gedichten stehen Sound und Wirkung des Wortes ›an sich‹ genauso im Vordergrund wie in den Sonetten, Centos, parlandonahen Versen oder teodadaistisch angeschmauchten Sequenzen:

Mais Degas ce n’est pas avec des idées qu’on fait des vers c’est avec des mots

Stéphane Mallarmé

Dabei ist Breuer alles andere als ein lyrischer Reinheitsapostel, jedes Wort ist grundsätzlich fürs Gedicht zu gebrauchen, wird auf die Goldwaage „gelegt, geschüttelt, auf Reimheitsgrad überprüft, poliert, paragrammiert, aus ›mausetot‹ wird lausetot.

Die Vielfalt der Formen und Schreibweisen, Stoffe und Themen lassen nahezu jedes Gedicht in gleichsam ›eigenwilliger‹ Art daherkommen: Was also liegt näher als die Schlußfolgerung, daß das Gedicht bestimmt, wo’s langgeht und welche Form es annimmt (und nicht der Autor, dessen unterschiedlichste Erfahrungen als hinsehender, mitfühlender, zuhörender Zeitgenosse gleichwohl in diesem so eigenen Ton durch die frei- oder festmetrischen Verse pulsieren). Theo Breuer bleibt auch bei schwerem Wetter der durch den Freiluftring tänzelnde Wortskerl, dessen 89 Gedichte mit abschließendem Glossar und Essay im vielfach variierten, konzeptuell angelegten gewonnenen Alphabet – abenteuerdurstig, filigran, symbolprächtig, visuell, wortschröpfend, zahlenspielerisch, in feine Ironie eingewoben – ein tiefgängiges Lesevergnügen der besonderen Art sind.

Zischender Zustand . Mayröcker Time

Friederike Mayröckers Texte radikalisieren die Frage nach der Autorschaft. Sie suchen nicht nach einer Personalisierung, sondern führen eine Bewegung in den Text ein, die den Ursprung der Rede  unbehaftet läßt. Bei ihr wird das Konzept der Herrschaft über einen Text zugunsten einer unüberschaubaren – nur zeitweiligen – Perspektivierung aufgelöst. Mayröckers „Liebesspiel mit der Sprache“ kennt keine logischen Grenzen, es sucht und findet „das zärtliche Durchwachsensein grenzüberschreitender Honigkeiten“. Daß diese sprachlich avancierte Lyrik eine starke Wirkung auch auf die jüngeren Autorengenerationen ausübt, ist nicht verwunderlich. In sprachreflexiven Gedichten österreichischer und auch deutscher Lyriker (wie beispielsweise Thomas Klings und Sophie Reyer) ist ihr Einfluß spürbar. In Mayröckers Texten ist Autorschaft keine in der Verkleidung einer Erzählung mit Figuren und deren Entwicklung verborgene Frage, sondern artikuliert sich in der Frage nach Herkunft, Status und Professionalität des Schreibens. Diese Befragung möglicher Autorschaft wird von Theo Breuer in seinem Gebrauchslesebuch als Hyperautorschaft gelesen. Dieser Zischende Zustand ist eine spektakuläre, hyperaktive Hommage, die zu explodieren scheint vor Einfällen, Einsprengseln und Meta-Reflexionen und es doch immer wieder schafft, Inseln zum Verharren in den sprudelnden Textfluß einzubauen. So elegant und witzig kann eine schreibende Selbstvergewisserung sein, und ebenso geistreich und anregend ist dieses journalistische Produkt. Die beim ersten Band in der Reihe LESEZEICHEN versammelten Texte sind literarische Kleinode und damit das Beste des Genres; kaum einer Reflexion gereicht das hohe Tempo, das typisch für das Feuilleton ist, zum Nachteil. Niemand wird an diesen essayistisch-poetischen Reflexen einer Mayröckerrezeption (und immer wieder darüber hinaus) vorbeikommen – außer Stan Libuda.

Theo Breuer gefällt die Intellektualisierung von Literatur nicht. Literatur muss nichts Intellektuelles haben, sie sollte unmittelbar sein.

Wir wollen weniger erhoben, / Und fleißiger gelesen sein, lesen wir in einem bekannten Vierzeiler Gotthold Ephraim Lessings. Kann man „fleißiger lesen“, als Theo Breuer es bekanntermaßen sein Leben lang tut? Und kann man kreativer, lebendiger die Rezeption literarischer Texte für die Produktion ebensolcher nutzen, Leseimpression origineller in Schreibexpression verwandeln, als Theo Breuer es – eindringlicher denn je – im neuen Gedichtbuch nicht weniger nicht mehr handhabt, in dem es auf 133 Seiten suchstaben und Wörter und Verse auf Breuers unnachahmliche Weise regnet (prasselt …) und in dessen Gedichten die Buchstaben vom ersten bis zum vierten Kapitel atmen, hopsen, perlen, sprudeln, dass es seine Art hat.

Furios und mitreißend – um je ein Beispiel aus den vier Kapiteln mit hier (sehr) kurzen, dort (sehr) langen Gedichten zu benennen – die Gedichte es warnicht die bohne, und lesen oder zeit der schlüsse, in dessen sieben Versen soviel Welt, soviel Para- und Gegenwelt steckt, dass es einem Frevel gleichkäme, einzelne Aspekte einem Kommentar zu unterwerfen. Manches, das an der Oberfläche wie reines Spiel mit Wörtern wirken mag, wird, näher betrachtet, zum glutigen Ernst. Ja, Kurt Schwitters hat es bis zum bitteren Ende vorgemacht: Wir spielen, bis uns der Tod abholt. Aber was, bitte, ist denn das für ein ‚Spiel‘, in dem einem immer wieder das Lachen im Halse stecken bleibt – wenn etwa im wortversuch : ein mord / den / andren / gibt?!

Neben dem Reim (mit dessen ‚unerhörten‘ Möglichkeiten wortwährend ‚gespielt‘ wird) ist das Paragramm fester Bestandteil in Breuer Wortwerkzeugkasten. Welch enorme Erweiterung wird hier möglich durch den Austausch eines Buchstabens: Zunächst wird der Leser – naturgemäß – bei ‚glutig‘ an das Ursprungswort ‚blutig‘ denken, um reflexiv und ‚mutig‘ weitere Paragramme zu bilden und so – dank eines einzigen Buchstabens – in ungeahnte Wortträume vorzuschwingen.

Die Gedichte des ersten Kapitels – eine siebenteilige, essayistisch angehauchte Lyriksequenz – sind Werk und Wirken Paul Celans gewidmet, dessen hundertstem Geburtstag und fünfzigstem Todestag wir 2020 gedenken: morgens moosgrün müßig zwischen maar moor mayröcker / liegt der stein der leisen setzt das Gedicht da : ein, das den Leser – ausgehend von persönlich erlebter wlan-Gegenwart – im schneewahn zurück in unheilvolle Zeiten katapultiert, deren Grauen Celan so unmittelbar erfuhr.

Genug des „Erhebens“. Auch Theo Breuers Gedichtbuch nicht weniger nicht mehr will : fleißiger gelesen sein …

Möge dem Literaturvermittler Theo Breuer und Autoren Theo Breuer ein langes Leben beschieden sein. Die Literaturszene kann engagierte Menschen wie ihn mehr denn je gebrauchen.

 

 

***

nicht weniger nicht mehr. Gedichte von Theo Breuer, Pop-Verlag, Reihe Lyrik Bd. 151, 2020

Weiterführend

Kein Gedicht nach Auschwitz (Adorno): was wird hier als Vorstellung von ,Gedicht` unterstellt? Der Dünkel dessen, der sich untersteht hypothetisch-spekulativerweise Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive zu betrachten oder zu berichten, schrieb Paul Celan als Erwiderung auf Theodor W. Adorno.

In diesem Zusammenhang ein Hinweis auf den Forensiker der deutschsprachigen Lyrik.

Theo Breuer gelingt es, dem Mythos nachzuspüren, eine angemessenere Würdigung Rolf Dieter Brinkmanns wird man kaum finden.

Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.