Solche Bücher sind nicht für einen Nachmittag oder für eine Bahnfahrt, sondern für ein ganzes Leben.
Joachim Zelter
Ulrich Bergmanns vielgestaltiges Werk reicht von Begegnungen, intensiven Alltagsbeobachtungen, glossierenden Zeitgeistbetrachtungen über die Wiederbelebung historischer Figuren bis zum weltläufigen Erzählen. Dieser Autor baut seine Bücher häufig aus lose verknüpften, in sich geschlossenen Prosaminiaturen zusammen. Er ist ein Freigeist, ihm gelten nur die Regeln der Syntax, er geht mit kühler Distanz an allen kunstideologischen Prämissen und saisonalen Tendenzen vorbei, ohne sich in der Attitüde zu verhärten. Die Begegnungen lassen den Leser eintauchen in seelische Bewegungen, in Prozesse der Öffnung und Verwandlung, es ist ein Sich heranschleichen an Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen. Dieses Opening ist weniger Meisterwerk als Mixtape, vielseitig wie sprunghaft, mit angemessener Achtlosigkeit aus der Hüfte geschlenzt. Als intensiver Beobachter verfügt Bergmann über die Begabung, noch die alltäglichsten Details in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, um etwas über das Leben und die menschlichen Beziehungen zu erzählen. KUNO präsentierte alle Arthurgeschichten mit der Warnung:
Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Toten oder lebenden Toten sind zufällig, rein zufällig, absichtlich zufällig, zufällig absichtlich, rein absichtlich und nichts als die reine Absicht.
Sein Metier beherrscht er am besten mit hochkomprimierten Kurztexten. Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Er schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen. Hinter Bergmanns Prosaminiaturen verbirgt sich ein opulenter Roman, er knüpft an die angelsächsische Tradition der short story an und muss dem Vergleich mit Alice Munro nicht scheuen. Hat man sich mit den Kurztexten quasi „aufgewärmt“, geht es zu Bergmanns überzeugendsten Zyklus, den Schlangegeschichten.
Schlangen (griechisch ὄφεις ópheis; lateinisch serpentes, verwandt mit altgriechisch ἕρπειν herpein ‚kriechen‘) sind eine Unterordnung der Schuppenkriechtiere. Sie stammen von echsenartigen Vorfahren ab. Gegenüber diesen ist der Körper stark verlängert und die Extremitäten wurden fast völlig zurückgebildet.
(Quelle: Wikipedia, 21. Juni 2018)
Wer einer Utopie ins Gesicht geblickt hat, bekommt eine Schlange an den Hals. Ulrich Bergmann überwölbt das Reale und zieht es zugleich ins Mythische, auch als poetische Rücklage von abhanden gekommenem Wissen und übt sich in versuchter Nähe. Diese Prosa changiert, unterstützt vom gestalterischen Prinzip der Vermischung zeitlicher Ebenen, zwischen Adaption literarischer Liebesmythen, biblischer Anspielung, fiktionalem Schöpfertum und Beziehungstherapie. Schlangen spielen in der Kulturgeschichte und Mythologie und darauf aufbauend selbstverständlich auch in der Kunst und Literatur eine große Rolle: So verführte in der alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte der Bibel eine Schlange Adam und Eva dazu, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu kosten. In den Schlangegeschichten von Bergmann wird die Dialektik der Liebenden dekliniert. Die Kernidee dieses Modells besteht darin, daß einander liebende Personen im Sinne der dialogischen Liebe miteinander handeln, wenn sich der Sinn der Gesamthandlung nicht aus der Summe isolierter Einzelhandlungen ergibt, sondern als „Sinneinheit“ auch die Rezeption der Leser durchwirkt. Bergmann schreibt mit dieser Prosafolge eine Kritik der taktischen Vernunft, sie steht in der Tradition der Kalendergeschichten Johann Peter Hebels und zeigt die Sinnlichkeit der Unvernunft, sie belehrt jedoch nicht. Lakonisch zusammengeschnurrt präsentiert Bergmann in den Schlangegeschichten, was sich im Kopf wieder auseinanderfalten muß. Er hinterfragt mit dieser Prosa die Praktikabilität moderner Paarbeziehungen zwischen Erinnerung, Mythos und Fluchtimpulsen. Das abgründige Gefälle zwischen Macht und Geist ist eines seiner Hauptthemen. Das Absurde und Paradoxe unseres Lebens wird in Bildern reflektiert, die uns mit ihren jeweiligen Schlußpointen zum Schmunzeln oder Lachen bringen, das oft im Halse stecken bleibt.
Die Einlassungen des Verstandes gegenüber den einfachsten Dingen laufen in den Schlangegeschichten auf ein unbestimmtes Ende zu, schließlich hat es der Autor mit einer exaltierten, manchmal auch maliziösen Frau zu tun.
Das Formganze wird nicht durch metronomgenaues Durchschlagen der Poesie von außen übergestülpt, sondern entwickelt sich bruchhaft und widerspruchsvoll gerade aus der Verschiedenheit ihrer Bestandteile. Die Grenze, die ausschließt und zugleich auch einschließt wird zum wichtigsten Modus menschlicher Beziehung, zwischen Hier und Dort, Eigenem und Fremdem, Innen und Außen, Begegnung und Konfrontation, Identität und Alterität. Bergmann unternimmt den Versuch, die vielfältig abgestuften Erfahrungen von Begegnung zu konzeptualisieren, indem er in je unterschiedlichen Formen und Sprachen kulturelle Manifestationen von Liebe analysiert. Es handelt sich bei dieser Prosa um ein sprachlich ambitioniertes Kammerspiel. Bergmann folgt gleichsam als Schlangenbeschwörer ästhetischen Überzeugungen und bekennt sich zur gefährdeten Aufklärung. Für ihn gilt Singularität, alles wird gesetzt gegen die Zeitfalle des Modischen. Als Hüter mythologischer Bilder beschwört dieser Schriftsteller nicht nur das Buch der Bücher, er ist sozusagen als Flözgänger des Traums unterwegs. Auch seine Schlange ist mitunter ein arglistiges Weib, eines, das seine Ur-Ängste anregt. Die Liebe ist maximal von einer Exaktheit und von Beweisen entfernt, sie ist ein Gefühl, eventuell ein Zustand, das dionysische Fest wird vom Alltag unterbrochen. Dennoch bewertet er das Traumsymbol der Schlange mitnichten nur negativ. Und auch der Leser steht nicht wie ein Kaninchen vor der Schlange, er wird gleichsam mit Mann’scher Ironie bedient.
Ich sammle die Texte in einem Konvolut, das ich Splitter nenne. Vieles fließt in Prosaminiaturen, Erzählungen und Romane.
Ulrich Bergmann ist ein geistreicher und augenzwinkernder Zeitkritiker. Ein souveräner und amüsanter Causeur. Ein skeptischer Bürger mit Grandezza und Temperament. Ein nüchterner und trotzdem urgemütlicher Bonner. Ein weiser Patrizier, etwas burschikos und sehr tolerant. Ich denke, er sieht sich als einen im Gewand der Arrièregarde kostümierten Avantgardisten – vielleicht nach der Devise des dialektischen Materialismus. Ein Schritt zurück und zwei nach vorn. War’s nicht auch bei dem von ihm geschätzten Thomas Mann so – im Kleid des vollendeten Realismus gebar er eine deutsche Variante des magischen Erzählens lange vor Marquez und Co. Ich mag sowas, und Bergmann liebt ganz gewiss Leser wie mich, die ihn und seine Schreibweise durchschauen, wenn auch vielleicht nicht so liebevoll (selbst-)kritisch wie Benkel in Schönebeck.
KUNO schätzt Ulrich Bergmanns Dialektik sehr, er ist so stimmig, und auch so humorvoll unter der Tarnkappe einer sublimen Ironie!
Ulrich Bergmann hat seine Splitter für KUNO als Kurator seiner selbst sinnfällig angeordnet. Wenn wir dieser Anordnung folgen, lesen wir einiges von dem, was die Redaktion bereits auf KUNO seit dem Originaljahr des Entstehens in die Timeline hat einfließen lassen um sichtbare und unsichtbare Korrespondenzen etwa mit Hel oder Holger Benkel aufzuzeigen. Bergmann kommt in seinen Splittern als überraschend gelassener Komödiant und subtiler Arrangeur kleiner zwischenmenschlicher Unfälle daher. Im Lauf der Zeit hat er einen eigenen Ton gefunden, er kommt daher wie ein tänzelnder Harlekin mit einer federleichten, spöttelnd-hintersinnigen Prosa. Die poetische Lesart begreift sich gleichsam als Summe aller übrigen und ist exemplarisch für die von ihnen fokussierte dialogische und intertextuelle Verfasstheit dieser Texte. Die Vielzahl der von Bergmann herausgearbeiteten Bezüge ist faszinierend und helfen die hochgradig intertextuelle Vernetzung zu begreifen. Er hat eine Vorliebe für die kleine Form, sodaß man bei ihm oftmals eine konzentrierte Detailbeobachtung findet. Sie finden auf KUNO ein Aneinanderreihung von Prosafragmenten, Kurzgeschichten, Mini-Reflexionen und Notizen, dank Hyperlink läuft die Lektüre auf eine Art Lese-Zapping hinaus.
Es handelt sich um gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs.
Seit über 30 Jahren verfügt Bergmann als intensiver Beobachter über die Begabung, noch die alltäglichsten Details in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, um etwas über das Leben und die menschlichen Beziehungen zu erzählen. Er bevorzugt eine Poetik der polyphonen Ich-Erzählung. Bergmann besitzt das Geschick, aus einfachen Fäden, dem Alltäglichen und Unprätentiösen, einen filigranen und faszinierenden Erzählteppich zu weben, ein klares und doch letztlich geheimnisvolles, melancholisches und doch schwebend leichtes Bildnis eines Lebens zu wirken. Daß diese Welt brüchig ist, zeigt sich im Detail. Wenn er sein Leben in seinen Texten dialektisch paradox durch Spiel, Theater, Phantasie erweitert, weiß er, daß die ungedachten Gedanken und die unrealisierten Pläne immer besser als die gedachten und gelebten sind und der ideale Text eigentlich ein Liebesakt (wie wir in seinen Schlangegeschichten nachlesen können), der Geburt und Erleuchtung vereint. In Bergmanns Splitter-Prosa herrscht die Ästhetik der Fernbedienung, der Autor zappt von einer Szene zur nächsten und die Episoden sind ebenso phantasievoll wie nachdenkenswert. Mit all ihren Stärken und Schwächen ist diese Prosa so ambivalent wie das Leben, das dieser Autor einzufangen versucht.
Das Spiel mit dem Paradoxen ist eine Art geistiges Perpetuum mobile.
Diese neu geordneten Splitter reichen von intensiven Alltagsbeobachtungen über Briefwechsel mit den von der Redaktion gleichfalls sehr geschätzten Autoren HEL oder Holger Benkel, die Wiederbelebung historischer Figuren bis zur reinen Fiktion. KUNOs Interesse an dieser Prosa ist zunächst ein stoffliches, gleichzeitig ist unser Interesse ein literarisches. Kaum je wird in der Literatur der Versuch unternommen, nicht allein subjektives Erleben als das vorgeblich die Historie erst Konstituierendes zu gestalten, zuletzt vielleicht bei Thomas Mann. Mit sprachlicher Souveränität und lyrischem Gespür vermag Bergmann prägnant und bildreich die ihn umgebenden Gegenstände, Landschaften und Menschen zu beschreiben. Er ist ein Freigeist, ihm gelten nur die Regeln der Syntax, er geht mit kühler Distanz an allen kunstideologischen Prämissen und saisonalen Tendenzen vorbei, ohne sich in der Attitüde zu verhärten. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Darüber hinaus schätzen wir auch seine Kurzprosa sehr, begleiteten uns im Jahr 2016 seine Schlangegeschichten, so setzen wir dies in 2017 mit den Arthurgeschichten fort. Mit der feinen Ironie des Kenners beschreibt Bergmann eine Gesellschaft, die mit den Konsequenzen ihrer Gewißheitsoption nicht mehr angemessen umgehen kann. Diese Splitter sind eine zeitlose Verteidigung der Meinungs-, Kunst- und ganz besonders der Literaturvielfalt, Bergmann schafft einen pragmatischen Raum für realistische Unendlichkeiten, in einem Essay über Der Mann ohne Eigenschaften denkt er über die der Utopie nach.
Wo hört die Wirklichkeit auf, wo beginnt die Kunst? Oder ist das die falsche Frage?
Da wir auf KUNO nicht spoilern, empfiehlt die Redaktion die Splitter in der Timeline nachzulesen. In dieser Sammlung bringt Bergmann die Poesie der Egozentrik zur Perfektion, hier verbirgt sich eine Art von Lebensbilanz, es ist auch ein Journal, ein Notizbuch, und nicht zuletzt so etwas wie eine Gedankenmitschrift. In der kurzen Prosa resümiert Ulrich Bergmann das Leben und die Wirklichkeit. Er denkt über die Zeit nach, über die Tage, über das Verrinnen der Zeit und über die Vergänglichkeit. Er deutet kleine Geschichten an und schafft eine Vielzahl von bemerkenswerten Prosaminiaturen. Fast jede dieser Miniaturen hat es in sich. Man ist immer wieder versucht, zurückzugehen im chronologischen Lauf der Lektüre und vorhergehende Sentenzen mit anderen Textteilen in Verbindung zu bringen. Blatt für Blatt gilt es dieses Textsorten-Patchwork nachzuvollziehen, seine lässigen Pointen wirken nach.
Es herrscht die irrige Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene. Wir stellten auf KUNO sehr gern analoge Literaturzeitschriften vor, z.B. die Matrix. Der Dichtungsring entstand im Umfeld der Universitäten Bonn und Bochum und wird bis heute von einer im Bonner Raum angesiedelten Autorengruppe herausgegeben. KUNO dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck. In 2020 hat sich der Leader of the Pack aus der Dichtungsring-Redaktion verabschiedet. Hier auf KUNO bleibt uns Ulrich Bergmann glücklicherweise bis zum Ende erhalten.
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Miniaturen (darin enthalten die „Schlangegeschichten“) von Ulrich Bergmann, Bovier-Verlag, Bonn 2018
Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann, Pop Verlag, Ludwigsburg, 2005
Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte sebstironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Als Nachschlag präsentierte er uns auf KUNO die Miniserie über Die schöne Polin, sowie deutsche Seelenlandschaften im Postkartenformat. Mit seinen Correspondenzkarten verschafft er den Lesern das Vergnügen von spezieller Twitteratur.
→ Ein Hinweis auf den Fortsetzungsroman Gionos Lächeln. Vieles bleibt hier offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
→ Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.