„Günther Emigs Literaturbetrieb verhält sich zu Andy Warhols Factory wie eine postmoderne Melkmaschine zur Milch der frommen Denkungsart.“
(Quelle: Selbsteinschätzung auf der Webseite des Autors)
Wir beginnen mit einer Rückblende in die alte BRD. Zu Beginn der 1970ger Jahre erlebt die Gesellschaft eine Tendenzwende. Der Wahrheitsmoment des Subjektiven wurde konstitutiv für eine auf persönliche Identität fixierte Gesellschaft. Es bündelten sich verschiedene Aspekte des Aufbegehrens mit einer symbolischen Dichte und emotionaler Intensität. Sex entwickelt sich dabei zum zentralen Bestandteil von Identität, wird ebenso wie viele zuvor geschilderte Phänomene, eine wesentlich individualistische Stossrichtung. Der Begriff der Selbsterfahrung wurde zum bedeutsamen Schlüsselbegriff einer kulturellen Orientierung zwischen New Age, Esoterik, Drogenkonsum, orientalischer Spiritualität und Meditation. Der Überfall auf das Olympische Dorf, die RAF in Deutschland, die Entführung der Landshut, die Attentate auf diverse Politiker, Beamte und Unternehmer, das war zuviel Realität für verinnerlichte Menschen, die auf der Suche nach der wahren Empfindung waren.
Die Spontis hielten die „Spontaneität der Massen“ für das revolutionäre Element der Geschichte. Ihr Ansatz war antiautoritär.
Ausgewiesener Kenner der Sponti-Szene ist Peter Engel, er studierte an den Universitäten in Hamburg und Heidelberg Germanistik und Anglistik. Engel schloss dieses Studium 1969 mit dem Staatsexamen ab. Anschließend arbeitete der kritische Gesellschaftsbeobachter der 1970er-Jahre längere Zeit als Kulturredakteur; daneben war er an der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Alternativer Verlage und Autoren sowie der IG Literaturzeitschriften beteiligt. Der Mann hat, wie man damals sagte, den „Überblick“. Und Verbindungen. 1972 gründete Emig den Kleinverlag „Günther Emigs Literaturbetrieb“, der bis 1984 bestand. Emig gilt als „one of the most prominent alternative publishers“. Er war gleichfalls Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft alternativer Verlage und Autoren e.V. (AGAV) und der IG Literaturzeitschriften; Zusammenschlüsse, in denen sich junge Autoren ein Forum gegen den etablierten Literaturbetrieb suchten. In diesem Zusammenhang gab Emig u. a. von 1979 bis 1984 dreimal das Verzeichnis deutschsprachiger Literaturzeitschriften (VdL) heraus. Ein Teil seiner Literaturzeitschriftensammlung ging an das Minipressearchiv der Stadt Mainz. Die Zahl seiner herausgegebenen Veröffentlichungen pflegt er in lfdm auf den Buchrücken anzugeben (3 lfdm, Stand: 8. Februar 2013). Er ist Gründer und Redakteur der Internetseiten zu Ludwig Pfau und Justinus Kerner.
Ein höchst umtriebiger Bibliothekar
Die Vielzahl der von Emig herausgegebenen Veröffentlichungen zu Heinrich von Kleist, 167 in 19 Veröffentlichungsreihen in den Jahren 1993 bis 2018, hat ihm den Ruf eingetragen, „ein höchst umtriebiger Bibliothekar, ein ruheloser, reger Geist und Kleist-Liebhaber“ und „ein geistreicher Popularisierer“ zu sein. Emig trat 2018 in den Ruhestand und empfahl der Kommune, die Sammlung als Dauerleihgabe an das Kleist-Museum in Frankfurt an der Oder abzugeben, wo sich mittlerweile das Zentrum der deutschen Kleist-Forschung befindet.
Seit September 2014 erscheint die Literaturzeitschrift Hammer+Veilchen, Flugschriften für neue Kurzprosa, die Günther Emig zusammen mit Peter Engel herausgibt. Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich im Internet (bisher 20 Ausgaben). Die Texte eines Jahrgangs werden konventionell zu einem Jahrbuch zusammengefasst (bisher 5 Jahrgänge). 2015 wurde die Buchreihe „Edition Hammer + Veilchen“ angeschlossen, in der bisher zehn Lyrik- und Kurzprosabände erschienen sind.
Mit dem Eintritt in den Ruhestand hat Emig seinen Verlag unter dem Label „Günther Emigs Literatur-Betrieb“ wiederbegründet. Themenschwerpunkte sind die Gegenwartsliteratur, Texte zur literarischen Moderne, darunter eine auf 10 Bände veranschlagte Werkausgabe des Schriftstellers Oskar Panizza, Literaturgeschichte und Regionalia. Dort auch erscheinen eine kollektive Autobiographie ›alternativer‹ Autoren aus den 1970ern.
Wir waren kritisch, wir waren links, wir waren den Drogen zugeneigt, wir waren sexuell freier als die Elterngeneration, und die Lyriker unter uns praktizierten die Dichtung der Neuen Subjektivität… Während die Alternativliteratur in der Literaturgeschichte überhaupt keinen Platz hat, wird die Dichtung der Neuen Subjektivität immerhin erwähnt, aber immer abfällig als größtmögliche Niederung von Lyrik überhaupt …
Peter Salomon
„Unter den Talaren Muff von Tausend Jahren!“ riefen die Studenten 1968 auf Deutschlands Straßen. In Berlin, Frankfurt, München und vielen anderen Universitätsstädten der damaligen Bundesrepublik Bundesrepublik machten sie ihrem Unmut Luft. Mit Protestmärschen und Gleisblockaden demonstrierten sie gegen die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen im Deutschland der 1960er Jahre.
Die Literatur in der ersten Hälfte der 1970er Jahre zeichnet sich vor allem durch eine große Unübersichtlichkeit aus
War die die sogenannte 1968er-Studentenrevolte die „Minderheit einer Minderheit“, so hat sie doch in die erste Hälfte der 1970er Jahre einen Eindruck hinterlassen. Die Minderheit von eben dieser Minderheit findet sich nicht zuletzt als Spurenelement in der Literatur und im Literaturbetrieb. Ein einheitliches Bild“ ist durch die kollektive Autobiographie ›alternativer‹ Autoren nicht zu gewinnen, diese Rekonstruktion entpuppt sich sogleich als müssiges Unterfangen. Die 1970er werden in diesem Rückblick eine Zeit markiert, in der die deutschsprachige Literatur in voller Blüte stand – dieser Zeit entsprangen große Werke wie Arno Schmidts Zettel’s Traum, Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands oder Uwe Johnsons Jahrestage. Zugleich ist es aber eine Zeit gewesen, in der Literatur in einem bis dahin ungekannten Masse abseits etablierter Publikationsorte produziert und vertrieben wurde, was dazu geführt habe, dass sich etliche literarische Texte im Untergrund ihren Weg bahnten. Den Neckermann der Subkultur hat man Josef „Biby“ Wintjes genannt, er vertrieb die Zentralorgane des Undergrounds. Die Alternativpresse erlebt einen Boom, es gründen sich Mags wie Gasolin 23 oder Der fröhliche Tarzan.
Aufgrund der heterogenen Schreibverfahren hat sich eine Vielzahl der Texte in einem widerständigen, oder wie man damals sagte subversiven Gestus geeint, die sich in der Nähe zur aufkommenden, ebenfalls rebellischen Popmusik begründet sieht.
Im Januar 1970 erschein der erste offizielle Titel im Maro Verlag. „Und“ heißt die Publikation, sie erschein in einer 200er-Auflage. Autoren der ersten Ausgabe sind unter anderem Guntram Vesper und Heike Doutiné, später schreiben auch Jörg Fauser und F. C. Delius für „Und“. Mit dem Maro verbindet allem den Namen Charles Bukowski. Benno Käsmayr veröffentlicht 1974 dessen ersten Lyrikband auf Deutsch „Gedichte die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang“. In den Siebzigern gehört Maro neben Melzer, März und Kiepenheuer & Witsch zu den Verlagen, die den US-Underground in Deutschland fördern. Autorinnen und Autoren wie Anne Waldman, Al Masarik, Jack Kerouac, John Fante und La Loca veröffentlichen in den Folgejahren bei Maro. War das damals tatsächlich eine gravierende Umwälzung oder nur der übliche Aufstand der Jungen gegen die Alten beziehungsweise lediglich ein spontaner Aufbruch gegen den eingefahrenen Literatur-Betrieb?
Kann man sich, wie Hans Magnus Enzensberger meinte, in Bezug auf die siebziger Jahre „kurz fassen“ und nicht wirklich verlangen, dass man ihrer „mit Nachsicht gedächte“?
Entgegen der Prämisse von Enzensberger war diese Literatur fähig, politisch zu sein. Die Herausgeber Peter Engel und Günther Emig stellten diese Fragen diversen Gewährsmännern etliche Jahre nach den „Gegenbuchmessen“, etwa der Mainzer Minipressen-Messe (MMPM) und dem Kampf der „kleinen Bertelsmänner“ gegen das etablierte Verlagswesen noch einmal, wollen von den damaligen Protagonisten (über die Auswahl läßt sich trefflich streiten) der sogenannten „Gegenkultur“ wissen, wie sie jene Zeiten erlebt haben, welches für sie die bestimmenden Momente waren und was von all dem für sie bis heute nachwirkt. Die 1970ger werden als eine Zeit beschreiben, in der Literatur eine wichtige Rolle für die Selbstverständigung einer Gesellschaft zukam. Die politisierte, dogmatische Sprache kam vielen der ehemals revoltierenden Schriftsteller nunmehr wie eine Ansammlung leerer Worthülsen vor, hinter denen die eigenen subjektiven Bedürfnisse unmerklich verloren gegangen waren. Dieser Band führt die Larmoyanz einer Jugend vor Augen, die maniakalisch bloß um sich selbst kreist und den eigenen Nabel für den der ganzen Welt hält. Er beschreibt eine sich im ungesunden Egoismus einrichtende Generation, die in der Konfrontation mit dem wirklichen Leben und der harten Politik einzig noch Gefühle der Leere und Ohnmacht zu offenbaren in der Lage ist. Die meisten Autoren der „neuen Innerlichkeit“ schwanken zwischen massloser Romantik und der Attitüde des Coolbleibens hin und her und sind tatsächlich zutiefst verunsichert. Bei aller Subjektivität der Ansichten gibt es bei den Autoren eine Übereinstimmung: Die Urzelle der Nonkonformistischen Literatur ist das INFO. Von 1969 bis 1990 gab Josef „Biby“ Wintjes erst monatlich, die längste Zeit dann jedoch zweimonatlich, die Zeitschrift Ulcus Molle Info heraus.
rhein// brachland mit raben bäume aus dem wasser/ ragen wir entwurzelte hasen schellen an den/fängen die mit brückenschwarzen schnäbeln/ hacken uns am ufer stapeln: lesbare skelette.
Barbara Maria Kloos
Gegen Ende der 1960er-Jahre wurde von Medien und Kommunarden unisono die sogenannte sexuelle Revolution ausgerufen, in deren Gefolge die seit jeher wohl mehr Liebesleid als Liebesfreud stiftenden Beziehungswirren nicht nur in den Kommunen und Wohngemeinschaften exzeptionell um sich griffen. Der literarische Erguß mündete in die sogenannte „Neue Innerlichkeit. Auffällig ist, dass es sich bei der Literaturszene der frühren 1970er Jahre aus um eine stark männlich dominierte handelt. Dieses Ungleichgewicht spiegelt er in seiner vorgenommenen Auswahl wider. Das erhöhte Aufkommen weiblicher Stimmen, das unter anderem die Neue Frauenbewegung vorbereitet und begleitet hat, finden sich vielleicht erst im zweiten Band. Der interessanteste Autor ist die einzige Frau, die in diesem Band vertreten ist: Barbara Maria Kloos. Sie war von 1978 bis 1985 Mitbegründerin und Herausgeberin der Münchner Literaturzeitschrift federlese. 1988/90 war sie verantwortliche Literaturredakteurin bei der Zeitschrift litfass (Piper Verlag) und dem StadtMagazin München. Sie blickt auf den Abenteuerspielplatz jener Zeit zurück und sieht im gegenwärtigen Literaturbetrieb nur noch eine »pädagogische, kapitalismusaffine, staatlich subventionierte Kaderschmiede«
Ich wollte die Lyrik erneuern, indem ich ihr alles Weihevolle nahm und sie hereinholte in mein tägliches Tun und in das bisweilen turbulente Geschehen um mich her. Sogar die Namen in den Gedichten waren die richtigen, meistens jedenfalls.
Jürgen Theobaldy
Wie es sich für die „Neue Subjektivität“ gehört, sollte es in den erbetenen Beiträgen um die persönliche Perspektive, also keine Beiträge über Dritte, sondern eine Darstellung des eigenen Tuns (natürlich mit Bezug auf diese „Dritten“): Warum, mit wem, zu welchem „Endzweck“, was daraus geworden ist usw. Also quasi lauter Einzel-Autobiographien, die die Zeit von Ende der 1960ger bis Ende 1970 schwerpunktmäßig umfassen sollten. Und natürlich wie es danach weiterging“, etwa so: „Der Social-Beat hat tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten mit der Neuen Innerlichkeit der siebziger Jahre: viel psychischer Alltagsmüll und Beziehungsabfall werden hier wie dort recycelt, die Frustrationen über gesellschaftliche Missstände und die eigene Ohnmacht mit Biersaufen bekämpft – letzteres vor allem in den Texten der neuen Bewegung. Aber die Innerlichkeitswelle hat wenigstens noch echte Talente hervorgebracht, zum Beispiel Born und Theobaldy.“, konstatiert Axel Kutsch in einem Kollegengespräch.
Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens.
Friedrich Hegel
Die Zersplitterung in K-Gruppen erzeugte eine neue Übersichtlichkeit, lesenswert in diesem Zusammenhang der Zeitzeuge Rolf Dieter Brinkmann. Das Ideal der frühen 1970er waren selbstständige und selbstbestimmte Subjekte als literatische Akteure, die neue Identitäten und Loyalitäten jenseits des überkommenen Literatur-Betriebs ergründen wollten. Dabei erwiesen sich alle neoliberalen und neomarxistischen Utopien als irreführend. Viele der skizzierten Annahmen und Überlegungen leuchten unmittelbar ein und decken sich bisweilen mit lebensweltlichen Beobachtungen und massenmedialen Darstellungen. Allerdings verfangen sich die Autoren dieser „kollektive Autobiographie“ in der subjektiven Ausschliesslichkeit ihrer Zeitdiagnose, die der Komplexität des Literatur-Betriebs entgegensteht. Hans Magnus Enzensberger, immer bei jeden neuen Welle als No. zwei zu Stelle, griff den Ausdruck 1980 auf, um einen Gedichtband entsprechend zu betiteln. Im letzten Gedicht des Bandes wird Hegels Gedanke aufgegriffen: Der Furie fällt dort an Historischem zu:
was zunächst unmerklich, / dann schnell, rasend schnell fällt […]; sie allein bleibt, ruhig, / die Furie des Verschwindens.
Diese Analyse gilt insbesondere für die erste Hälfte der 1970er Jahre, dann fegte Punk all dies hinweg, wie Peter Glaser in Attrappe einer Kulturgeschichte von neulich schlußfolgert, dem folgte chronologisch eine rege Fanzine-Szene, wie sich in einem weiteren Kollegengespräch über den Otto-Versand der Subkultur erschließen läßt. Das Ulcus Molle-Info wurde eingestellt und der erste Blog ging kurz darauf online. Die Welt verändert sich rasant, ebenso die Bezugsgrössen.
Die Neue Subjektivität rückt Themen wie persönliche Träume und Probleme des Privatlebens in den Mittelpunkt. Ziel war ein auf Innerlichkeit, Introspektion und Selbsterfahrung ausgerichteter Schreibprozess.
Marcel Reich-Ranicki
Peter Engel und Günther Emig machen den ersten vergeblichen Versuch, die Szene der 1970er Jahre kulturgeschichtlich und ansatzweise politisch einzuordnen. Die beieiligten Autoren entwerfen Bilder der Erinnerung. Ohne die Bilder der Filme, ohne die Texte der Romane und Biografien und ohne die Musik der Zeit wäre nichts in der Erinnerung der Vergangenheit so, wie es ist. Immer wieder wird im Text deutlich, dass die Bücher, Filme und die Musik die freie Liebe erst ermöglichten. Auch wenn sie im Leben der Beiträger keine Dauer haben konnte, gibt es durch die Ästhetik die Idee ihrer Möglichkeit und den Versuch, sie umzusetzen. Diese eigenborstigen Mitläufer-Erinnerungen bieten unterschiedliche Ebenen der Rezeption an, diese untergründigen Jahre sind er ein Gang durch die Zeit, der besonders für seine Generation wie ein Reservoir schöner Erinnerungen gelesen werden kann, und dem Literaturkenner bietet er intertextuelle Bezüge, die in äusserst vielfältiger Weise verfolgt und interpretiert werden können. Nach der Lektüre bleibt der Eindruck einer literarisch ungeheuer vielfältigen, innovativen, allerdings nicht ganz so einheitlichen Literaturlandschaft, wie es das verbreitete Schlagwort von der „Literatur der neuen Subjektivität“ und auch der Titel Die untergründigen Jahre suggerieren. Die Unabschliessbarkeit des Vergangenen wird in diesem Buch offenbar. KUNO plädiert nach der Lektüre für eine fortwährende Arbeit am Gegenstand der Geschichte.
***
Die untergründigen Jahre. Die kollektive Autobiographie ›alternativer‹ Autoren aus den 1970ern und danach. Hrsg. von Peter Engel und Günther Emig. Mit Beiträgen von Manfred Ach, Wolfgang Bittner, Manfred Bosch, Michael Braun, Manfred Chobot, Daniel Dubbe, Heiner Egge, Peter Engel, Heiner Feldhoff, Ronald Glomb, Frank Göhre, Harald Gröhler, Friedemann Hahn, Manfred Hausin, Martin Jürgens, Benno Käsmayr, Michael Kellner, Barbara Maria Kloos, Fitzgerald Kusz, Helmut Loeven, Detlef Michelers, u.a