Einen Entschlussstrich ziehen. N@sty B. sieht sich nur kurz um. Wischt sich den Tabakfaden von der Zunge. Schnippt die Löte in den Ascheneimer. Trifft. Lässt die Tür sacht in das Schloss klacken.
»Man muss sich gelegentlich daran erinnern, wer man wirklich ist«, sprach Zonker in Zeiten des liberalisierten Paarverhaltens ganz abgeklärt von den Verlaufskurven der Liebe. Männer lösen Beziehungskonflikte, indem sie sich ihnen entziehen, bis das Schlimmste vorüber ist. Wie jeder Macho, leidet er öfter an verletzter Eitelkeit als andere Männer. Zonker ist einer Ohnmacht ausgeliefert, die damit verbundene Beunruhigung dringt kaum an die Oberfläche des Bewusstseins, sondern flüchtet sich in ein Einverständnis mit dem Stand der Dinge, das für Momente alles klarer erscheinen lässt. Sobald sie nach einem tieferen Sinn fragte, zog er den Kopf schildkrötengleich in seinen Panzer zurück.
»Weisst du denn, wer du bist?«, wollte sie von ihm wissen, um sich nicht in die Fratze der eigenen Idee zu verwandeln. Er sass um Halbdunkel. Schloss die Augen. Genoss es, am Mouton Rothschild zu riechen. Nur die Füsse verrieten etwas von seiner Anspannung. Über dem Tisch war er die Ruhe selbst. Sparsam in der Bewegung, die ihm sonst gern fahrig geraten, eingefroren. Unter dem Tisch rollte er über die Ballen, hebt die Füsse synchron, gab wie im Auto Gas.
»Nein. Aber was ich glaube zu sein, ist sehr unterhaltsam!«, schnodderte er dahin. Nur noch der Schatten eines Gesprächspartners, die fleischgewordene Verweigerung. Er hört ihr zu, gemäss der Erkenntnis: „Widersprich‘ nie einer Frau, sie wird es in den nächsten fünf Minuten selbst tun.“ Ein richtiger Mann bringt den Mülleimer runter. Schmutzige Wäsche zu waschen ist Weiberkram. Oftmals wird Männern vorgeworfen, sie würden nicht zuhören, wenn Frauen über ihre Wünsche sprechen… nicht einmal mehr ignorieren.
In Räume sind geschlechtsspezifische Differenzen eingeschrieben. Zwischen ihnen herrscht das Gerede, ein Geflecht aus Meinungen, Erfindungen und kleinen Lügen, das so etwas wie Erkenntnis unmöglich macht. Sie küssen und sie schlagen sich, versuchen verzweifelt, den Anderen vor den eigenen Fehlern zu bewahren und geben sich gegenseitig die Schuld an ihren verpfuschten Leben. Ein ständiges, kräftezehrendes Hin und Her von Anziehung und Abstossung. Der Weg zur Neugier ist das Ziel. Ohne den Wissensdrang kommt das Leben ebenso schnell an ein Ende wie eine Beziehung. Die Neugier wird vom Wissen gestillt. Probleme werden gelöst, Fragen beantwortet. Stil bedeutet Differenz.
Es folgten Du–bist–eine–Frau–ich–bin–ein–Mann–Einsichten, die zu nichts führten als der Erkenntnis: Es gibt keine Liebe in der Wahrheit hinter der Täuschung. Es gibt rückwärts, es gibt vorwärts, nur Umwege sind nicht drin. Die Gesellschaft bemächtigt sich der Menschen mehr und mehr umweglos und scheint sich in ihnen als psychische Frigidität und Indifferenz zu reproduzieren. Hypermoderne Menschen leiden daran, dass es schwer ist, an guten Sex zu kommen. Selbstverwirklichungs–Exzesse hatten dazu geführt, dass sie bindungs– und liebesunfähig geworden sind. Ihre Denkwelt ist eine Gegenwelt, die ins Leere weiterwächst, gespeist aus Trivialmythen, B– und C–Movies, Strategiespielen und LAN–Party–Wissen. Die romantische Liebe ist in Zeiten des szientistischen Blicks längst gestorben – einzig die Musik bewahrt noch das grosse Gefühl.
N@sty B. und Zonker haben ein Pandämonium der Ersatzbefriedigungen durchgespielt. Schärfe und Witz, Obszönität und intellektuelle Coolness hielten sich bei ihnen verzweifelt die Waage. Das Poesiealbum der Menschheit ist erfüllt von Geheimnissen der Liebe, Selbstliebe und Lebensangst. Sie leben die tragischen Dimensionen, die sich durch das Phänomen der reinen Sehnsucht und des Begehrens, der Schmerzensdialektik von Nähe und Ferne ergeben. Dabei beansprucht jeder mehr, als der andere bereit ist zu geben. Was unter den Teppich gekehrt wird, wird den Teppich irgendwann in Bewegung setzen. Sie leben permanent mit Schuldgefühlen. Können gar nicht anders. Das ist eine condition humaine. Man wird immer, willentlich oder unwillentlich, schuldig am Anderen. Schuld ist dort, wo Leid entsteht. Sie können nicht schuldfrei leben, als Teil einer Gemeinschaft, eines Systems wird man zwangsläufig schuldig. Die Frage ist nur, wie sie damit umgehen. Meistens drücken sie sich.
Männer beten Frauen an, weil sie mit sich selbst einverstanden sind. Die Position war da, also griffen sie zu einem Wir, das unbewusst alles andere ausschloss. Sie fühlten sich als Mittelpunkt von irgendetwas, einer Liebe, einer Stadt, einer Welt. N@sty B. und Zonker wurden getrieben von Selbstverleugnung und Sehnsucht, von Gier und einer obskuren Hoffnung auf Erlösung. Sie erprobten sich in Rollen und Gegen–Rollen, in einer Grammatik von Begehren und Begehrt–Werden, von Wissen und Unschuld, von Einpassung und Revolte. Sind sich in beklemmender Nähe und Ratlosigkeit begegnet. Spürten Hitzewellen einer dauerhaften Beunruhigung. Liebe und Begehren, Schmerz und Wolllust der Resignation, Erfüllung durch Selbstqual, Suche und Sucht nach Erlösung.
Egal wie tief N@sty B. sinkt, immer behält sie alle Viere beisammen. Selbst im radlerhosenengen kleinen Schwarzen sieht sie auch nach vielen Bourbons nicht derangiert aus. Kinder zu bekommen, hat sie vermieden, weil sie nicht wollte, dass ein unschuldiges Wesen ihre Neurosen ausbaden muss. Sie hat fest damit gerechnet, dass Zonker mehr wüsste als sie und es ihr einmal erzählen würde. Im Wissen–Wollen liegt ihr ganzes Glück, im Wissen liegt die Gefahr. Die Intimität zwischen den Liebenden war nie grösser als am Anfang, als die Körper den Köpfen noch suggerierten, alles sei möglich. Jeder Schritt auf den anderen zu verengte den Horizont. Am Ende zogen die Körper die Konsequenz aus dem, was die Köpfe erfahren hatten. Mann und Frau passen einfach nicht zusammen, auch wenn die Gier permanent andere Einflüsterungen für sie bereithält, denen sie nur allzu gern verfallen. Es ist der enigmatischen femme fatale klar, worum es geht: Stärke zeigen, sich nehmen, was frau will. Wenn sie mit jemandem zusammen ist, will sie Spass haben. Und angebetet werden. Will das Gefühl haben, von unersättlicher Leidenschaft verschlungen zu werden. Sex spielt in ihrem Leben eine grosse Rolle. Für gute Gespräche ist es von Vorteil, wenn man sich versteht. Für guten Sex muss man sich wirklich gut verstehen. Geborgen, niemals bürgerlich. Wo einstmals Gelehrte das Ungenügen alles Irdischen erkannten, und für ihr Streben nach der Vollkommenheit belohnt wurden, kann man sich im 21. Jahrhundert nur durch den Untergang von sich selbst erlösen. Mann und Frau kommen nicht zueinander, Sehnsucht und Wirklichkeit verfehlen sich ständig, alle Lust will immer Ewigkeit und dauert nur Sekunden. Es geht nicht darum, Kerle zu hassen und ihnen mit allen 20 Krallen ins Gesicht zu springen. Sie braucht keine Projektionsfläche für unerfüllte Allmachtsfantasien mehr.
Der Fahrstuhl steht abfahrbereit vor ihr. Die Tür scheppert zur Seite. „Warum behindern so viele Wohnräume den freien Fluss geistiger Energien?“, denkt N@sty B., drückt den Tastschalter mit dem Buchstaben <E>. Träge setzt sich der klapperige Aufzug in Bewegung. Abwärts. Rasselnde Mechanik. Die Leuchtziffern, welche die Stockwerke anzeigen, flackern auf und erlöschen. Abrupt sackt der Fahrstuhl ab. Wird vom Stahlseil abgefangen. N@sty B. erschrickt darüber, dass sie sich vor Angst in die Hose macht. Die Buschtrommel ihres Herzen schlägt wild. Ihr Körper ist angespannt wie eine Stahlfeder. Von den ausgestreckten Fingerspitzen bis zu den Füssen. Der Fahrstuhl ist zwischen zwei Etagen stecken geblieben. An der unteren Seite ist durch die Glasscheibe ein halber Meter der 1. Etage zu sehen. N@sty B. betätigt den Notschalter. Der Fahrstuhl bewegt sich nicht von der Stelle. Im ganzen Haus ist kein Geräusch zu vernehmen. Mit beiden Händen zerrt sie an der Tür, die leicht nachgibt.
N@sty B. zieht ihr Stilett aus dem Strumpfhalter. Lässt es aufschnacken. Benutzt es als Schraubendreher und betätigt sich als Zerspanungsmechaniker. Löst die Kreuzschrauben. Bei der letzten Schraube bricht die Klinge. Sie steckt sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Raucht. Denkt nach. Dreht mit dem Stumpf der Klinge die Abdeckung beiseite. Hinter dem Blech befindet sich ein Hebel. Sie dreht ihn um neunzig Grad. Pressluft entweicht pfeifend. Die Tür lässt sich ohne grössere Anstrengungen öffnen. Kalte Luft dringt durch den Schacht, der gross genug ist, um sich darunter herschieben zu können. N@sty B. liegt flach auf dem Fussboden. Schlängelt ihre Beine heraus. Vorsichtig schiebt sie ihren Körper nach. Sie krallt ihre Finger um die Stahlkante. Federt sacht zurück. Springt hinab. Geschmeidig landet sie auf sicherem Terrain.
Im Mittelalter galt die Losung: „Stadtluft macht frei“, heutigentags lässt sich in Hochsicherheitswohngebieten eine Weiterentwicklung zur Festungsstadt beobachten. Wassergräben mit sternförmigen Schanzen, eine Brücke, kleine Bastionen und Herrenhäuser mit schmucken Giebeln. Die Häuser umschliessen Innenhöfe mit Parkplätzen. Schwere Gittertüren schliessen Autos und spielende Kinder weg. Wer den Innenhof erreicht, weiss sich beobachtet. Im 18. Jahrhundert wurden Gefängnisse so panoptisch angelegt, nur sass der Wächter in der Mitte. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt. Der Ring der Nachbarn schaut argwöhnisch auf die leere Mitte. Kein Fremder geht in den Gemütskulissen der Bürgerschaft ungesehen ein und aus.
Bisher hat es geklappt mit den Zufällen. Nun lässt der nächste auf sich warten. Jeder Weg wurde schon mal beschritten, jeder Gedanke schon einmal gedacht. Statt etwas Neuem will N@sty B. Eigenes schaffen. Ein Projekt, das ihrem Gefühl Ausdruck verleiht, am Anfang des Jahrtausends in einem ungeheuren Vakuum zu leben. Die Zukunft ausspähen bedeutet: speculare. Sie streift eine Atemmaske über Mund und Nase. Geht zu dem künstlich angelegten See. Der Wind treibt verfaulte Fische an das Ufer. Sie zieht die Strümpfe und den Slip aus. Stopft die Kleidungsstücke zu Zonkers Walther–PPK in die Plastiktüte. Wirft sie in hohem Bogen in die stinkende Brühe. Aus dem Plastiksack gurgeln Luftblasen. Die Tüte sackt nach einigen Sekunden ab. Ein Hubschrauber kreist über der Geisterstadt. N@sty B. sieht sich nicht um. Wahrheit ist operationalisierter Zweifel. Sie steigt auf ihr rostiges Fahrrad. Tritt dynamisch in die Pedale und fährt zurück zur Innenstadtfront.
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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.