Philistrosität ist die Tendenz zur Verallgemeinerung. Präziser: Philistrosität ist die Tendenz, den eigenen sittlichen Horizont als moralischen Schutzkordon um die Menschheit zu legen. Der Satz erhellt aus der Gegenprobe. Der einwandfreieste Nichtphilister ist der, dessen soziales Verhalten am wenigsten von Forderungen und Verboten gegen die Mitmenschen bestimmt ist. Das Kriterium der Philistrosität ist nämlich nicht die größtmögliche Anpassung an die Gepflogenheiten der Mehrzahl, sondern die eifersüchtige Bewachung des Nebenmenschen, ob er nicht etwa die Grenzen des Philisterhorizonts überschreitet und sich so der moralischen Wertung und der Vergleichungsmöglichkeit mit den übrigen Philistern entzieht. Der wesentlichste Charakterzug des Philisters ist also die schlotternde Angst vor der sittlichen Entgleisung des Zeitgenossen und ihrer psychologischen Unkontrollierbarkeit.
Die Waffe des Philisters gegen den Unfügsamen ist sittliche Entrüstung, eine Fehlgeburt aus Angst und Größenwahn. Ihr verdanken die Gesetzbücher – die einzigen im eigentlichsten Sinn unsittlichen Schriften – mit allen ihren generalisierenden Verlogenheiten, den Rechtsgütern, den öffentlichen Interessen und allen übrigen abstrakten Fetischen, die Entstehung. Das zentralistische Staatsprinzip mit seiner auf Formeln gezogenen Verallgemeinerungstendenz gibt der sittlichen Entrüstung des Philisters die Möglichkeit, sich in soziale Ächtung und mithin in wirtschaftliche Ruinierung des ethischen Outsiders umzusetzen. Dem Staat, der wirtschaftlichen und »rechtlichen« Organisation zur Verhütung der Überschreitung des Philisterhorizontes, untrennbar verehelicht, hat die Kirche die Zentralisierung der seelischen Bedingungen, der Angst, des Neides, der Begriffsstützigkeit und der Plattheit durchzuführen. Die liberale Forderung der Trennung von Staat und Kirche ist somit ein Unding. Beide Institutionen sind durcheinander geworden und leben von einander. Der Weg zur Kultur führt über ihr gemeinsames Grab.
Dem in Staat und Kirche zentralistisch organisierten, durch die raffiniert-unsinnige kapitalistische Gesellschaftsordnung ökonomisch gefestigten Philisterium – politisch ausgedrückt: der Bourgeoisie – steht die Minderheit der untereinander fast gar nicht liierten, materiell gänzlich wehrlosen, von den Konkurrenz- und Bildungsmöglichkeiten nahezu ausgeschlossenen, verhaßten Paria gegenüber. – Von der werktätigen Arbeiterschaft, die naturgemäß im Klassenkampf gegen den Besitz (der mit dem Philistertum identisch ist) in der vordersten Reihe stehen müßte, will ich hier ganz absehen. Das Proletariat – übrigens gehört das Wort zu den abgründigsten Unwahrhaftigkeiten – ist von der zukunftstaatsbesessenen Sozialdemokratie, wenigstens in Deutschland und Österreich, dem Klassenkampf völlig entfremdet worden. Die, dem Staat nachgebildeten, zentralistischen Arbeiterorganisationen haben durch die Ausschaltung des individuellen Temperaments des Einzelnen die revolutionäre Kernidee des gewerkschaftlichen Kampfes verwischt und den Arbeiter, den natürlichen Träger der sozialen Revolution, in die Rolle eines mit seinen Feinden Schacher treibenden Politikers gedrängt. Die Arbeiterschaft steht also jetzt in der Mitte zwischen Bourgeoisie und den Tschandala, auf deren Seite nur noch die unorganisierten Gruppen kämpfen: Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler.
Mit den ersten drei Gruppen dieser Ausgestoßenen weiß die sittliche Entrüstung des Philisters schnell fertig zu werden. Der Verbrecher, den Wut oder Verzweiflung den moralischen Kordon der ökonomischen Zweckmäßigkeit für den Philister durchbrechen hieß, wird im Zuchthaus interniert. Der Landstreicher, der sich nicht für traurigen Hungerlohn zum Kuli eines Ausbeuters machen will, wird zur Zwangsarbeit verurteilt. Die Hure, in deren wildem Lachen mehr Genialität steckt, als der gute Bürger, der sie sich für eine Nacht erstanden hat, mitsamt seiner Ehefrau bei verzehnfachter Lebensdauer jemals aufbringen könnte, wird mit ihrem, dem entrüsteten Philister, ach, so notwendigen »Schandgewerbe« ins Bordell gebracht und bekommt ihr Kontrollbuch, damit der lüsterne Kunde nicht von der Lustseuche befallen werde. Kurz, überall findet die sittliche Entrüstung ein äußeres Zeichen ihrer Berechtigung.
Nur mit dem Künstler gerät der Spießer in die Brüche. Ich will hier bemerken, daß ich unter »Künstlern« nur solche verstanden wissen will, die ihre Kunst nicht zum Gewerbe erniedrigen, die es also unter allen Umständen ablehnen, ohne künstlerischen Antrieb zu produzieren. Dagegen gehören zu den Künstlern, die ich als Outsider der Gesellschaft behandle, auch solche, die ohne künstlerisch überhaupt produktiv zu sein, in allen ihren Lebensäußerungen von künstlerischen Impulsen geleitet werden.
Hier sind Menschen, die die gesellschaftliche Nutzarbeit verweigern, die in ihrem Gehaben vielfach die Schranken des philiströsen Horizonts durchbrechen, denen man aber doch nicht beikommen kann, weil hier und da ein Dichter, ein Maler, ein Bildhauer, ein Komponist darunter ist, den Autoritäten anerkennen und – auf den man seine Kulturfreundlichkeit loslassen kann, indem man ihn feiert und verhungern läßt. Den Künstlern gegenüber tritt die bleiche Angst des Philisters vor dem Außergewöhnlichen am jammervollsten in die Erscheinung. Dieses Hosenschlottern von Respekt und Furchtsamkeit ist nämlich nicht nur der Ausdruck der Besorgtheit um das korrekte Benehmen des andern, sondern hier wirkt auch ein instinktives Gefühl für die kritische Überlegenheit des Künstlers mit, die die Nichtigkeit des Philisters durchschauen könnte.
So hilft sich denn die Gesellschaftsstütze dadurch, daß sie dieser Art Künstlern einen Freibrief für unkonventionelle Schaustellungen ausstellt und sie unter einen Sammelbegriff registriert: Bohême. Da aber dem braven Mann des besitzenden Bürgerstandes jede künstlerische Betätigung, weil brotlos, verächtlich erscheint und er auf der andern Seite doch ganz gern einmal so ein Monstrum um sich sieht – nur aus der eigenen Familie darfs keiner sein; der würde schonungslos verstoßen werden –, so dünkt ihn in seiner Unterscheidungsunfähigkeit bald jeder pinselnde Millionärssprößling ein »Bohémien«.
Das Wort »Bohémien« ist, wie mir sprachkundige Leute versichern, falsch. Es muß richtig auch »der Bohême« heißen. Trotzdem werde ich den Vertreter der Bohême einen Bohémien nennen, da mir eine Vokabelunterscheidung zwischen dem Gattungsbegriff und der Bezeichnung der einzelnen zur Gattung gehörigen Person sprachlich willkommen erscheint.
Um den Begriff der Bohême zu definieren, ist das Wort zunächst von den Schlacken zu säubern, die ihm die Sensationslust und die Unterscheidungsunfähigkeit grinsender Banausen angesetzt haben, und die es besonders der Renommierwut durch irgend ein Talentchen in die Künstlerschaft verirrter Philister verdankt. Ein Kartoffelhändler entdeckt eines Tages seine Stimme, läßt sich zum Konzert-Tenor ausbilden und hält sich von Stund’ an für einen Bohémien. Ein entlassener Kommis, der an das Stubenmädel seines Prinzipals Gedichte richtet, setzt sich abends in ein Literatencafé, trinkt Absinth und nennt sich, wenn ihn jemand fragt, »Schriftsteller«; des Sonntags aber spielt er sich beim Onkel Töpfermeister als »Bohémien« auf. Ein verbummelter Student schmeißt sich einem Künstler an den Hals, schmarotzt ihn aus und glaubt sich auch zur Bohême zählen zu dürfen.
Arge Verwirrung in der Auffassung des Wesens der Bohême hat Murger mit seinem bekannten Roman angerichtet. Es stehen ja sehr hübsche Sachen drin, aber Bohémiens sind die Helden seiner Geschichte nicht. Das sind besitzlose Lebeleute, die sich recht lustig über ihren Dalles hinwegzuhelfen wissen – aber am Schlusse des Buches, wo alle zu Geld und Ruhm kommen, da dampfen sie friedlich in den sicheren Hafen des Philisteriums ein, und die Bohêmezeit liegt hinter ihnen.
Die Eigenschaft des Bohémiens von der Besitzlosigkeit herzuleiten, ist doch ein äußerst primitiver Standpunkt. Noch absurder ist die Auffassung, der Bohémien gäbe seinen Charakter in dem Augenblicke auf, wo er es nicht mehr nötig hat, unphiliströs zu leben. Nein, Bohême ist eine Eigenschaft, die tief im Wesen des Menschen wurzelt, die weder erworben oder anerzogen werden, noch durch die Veränderung der äußeren Lebenskonstellation verloren gehen kann.
Ich persönlich, der ich bei der Untugend der Deutschen, jeden Menschen, mit dem sie sich abzugeben haben, auf eine bestimmte Note festzulegen, das Pech habe, wo immer von mir die Rede ist, mich als das Musterexemplar eines Bohémiens bezeichnet zu finden, verwahre mich entschieden und ausdrücklich gegen diese Charakterisierung, solange sie von den äußeren Symptomen meines Wesens, etwa von meiner Haartracht oder meiner nicht eben übermäßig eleganten Toilette hergeleitet wird *)[1].
Was in Wahrheit den Bohémien ausmacht, ist die radikale Skepsis in der Weltbetrachtung, die gründliche Negation aller konventionellen Werte, das nihilistische Temperament, wie es etwa in Turgenjeffs »Väter und Söhne« zum Ausdruck kommt, und wie es Peter Krapotkin als das Charakteristikum der russischen Nihilisten in den »Memoiren eines Revolutionärs« schildert.
Gewiß offenbart sich dieses Temperament, das alle Anpassung an die uniforme Lebensart des Philisters fanatisch perhorresziert, äußerlich in der Methode, die der Bohémien wählt, um sein eigenes Ich gegen die Masseninstinkte der Gesellschaft durchzusetzen. Immer wird der Bohémien ein Sonderling sein, und schon deshalb wäre es lächerlich, ein Schema für die Lebensweise der Bohême aufzeigen zu wollen. Ganz allgemein läßt sich über die Anpackung des Lebens seitens des Bohémiens kaum mehr sagen, als was ich früher einmal in einer Broschüre (»Ascona.« – Locarno 1905) so ausgedrückt habe: Ein Bohémien ist ein Mensch, »der aus der großen Verzweiflung heraus, mit der Masse der Mitmenschen innerlich nie Fühlung gewinnen zu können – und diese Verzweiflung ist die eigentlichste Künstlernot —, drauf losgeht ins Leben, mit dem Zufall experimentiert, mit dem Augenblick Fangball spielt und der allzeit gegenwärtigen Ewigkeit sich verschwistert.«
Die Verzweiflung über die Unüberbrückbarkeit der Kluft zwischen sich und der Masse, die Wut gegen den vertrottelten Konventionsdrill der Gesellschaft mag natürlich den Bohémien oft genug zum bewußten Auftrotzen gegen das Gewöhnliche verführen, das sich in der brutal zur Schau getragenen Unterstreichung des Andersseins äußert. Den Schluß, den Julius Bab in seiner Arbeit über die Berliner Bohême daraus zieht, indem er den Bohémien »asozial« nennt, halte ich für falsch. Im Gegenteil wird die schroffe Ablehnung der bestehenden Zustände mit allen ihren Ausdrucksformen in den allermeisten Fällen mit der sehr sozialen Sehnsucht nach einer idealen Menschheitskultur verbunden sein.
Sehr verdienstvoll ist dagegen die Parallele, die Bab zwischen der Bohême und dem Anarchismus zieht. Der Haß gegen alle zentralistischen Organisationen, der dem Anarchismus zugrunde liegt, die antipolitische Tendenz des Anarchismus und das anarchistische Prinzip der sozialen Selbsthilfe sind wesentliche Eigenschaften der Bohêmenaturen. Daher stammt denn auch das innige Solidaritätsgefühl zum sogenannten fünften Stande, zum Lumpenproletariat, das fast jedem Bohémien eigen ist.
Es ist dieselbe Sehnsucht, die die Ausgestoßenen der Gesellschaft verbindet, seien sie nun ausgestoßen von der kaltherzigen Brutalität des Philistertums, oder seien sie Verworfene aus eigener, vom Temperament diktierter Machtvollkommenheit. Die Mitmenschen, die mit lachendem Munde und weinendem Herzen die Kaschemmen und Bordells, die Herbergen der Landstraße und die Wärmehallen der Großstadt bevölkern, der Janhagel und Mob von dem selbst die patentierte Vertretung des sogenannten Proletariats weit abrückt – sie sind die engsten Verwandten der gutmütig belächelten, als Folie philiströsen Größenwahns spöttisch, geduldeten Künstlerschaft, die in ihrer verzweifelten Verlassenheit mit der Sehnsucht eines erhabenen Zukunftsideals die Welt befruchtet.
Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Bohême, die einer neuen Kultur die Wege weist.
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Quelle: Die Fackel. Jg. 8, Nr. 202 (30. April 1906).
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Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.
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*) Daß man solcher Anschauung auch im Milieu des »Cabarets« begegnen kann, beweist, daß sich diese Einrichtung von dem Wesen einer freien Künstlergemeinschaft bis zu jener geschäftsmäßigen Auffassung verirrt hat, die dem »Spezialitätentheater« Konkurrenz macht, indem sie zwar nicht dressierte Pudel als Künstler, aber Künstler als dressierte Pudel dem zahlenden Publikum vorführt. Wenn der Verfasser dieses Aufsatzes, der neulich hier der wahren Cabaretkunst als einem Vergnügen der Künstler für die Künstler das Wort geredet hat, in den Ankündigungen des Cabarets ausdrücklich als »Berliner Bohémien« bezeichnet wird, so ist damit die Unechtheit einer Bohême, die sich selbst bestaunt, so ist die Entfernung bezeichnet, in der der Geist des deutschen und wiener Cabarets von dem Geist der Bohême waltet. Eine Fülle künstlerischer Darbietungen kann über den Verdacht nicht hinweghelfen, daß die legere Form dieser Cabaretkunst nicht dem Künstler, sondern dem Philister frommen soll, an den Impresariogeschicklichkeit die Geheimnisse der Bohême zu verraten scheint. Wenn Herr Henry – als Chansonnier mit Recht beliebt – den »Berliner Bohémien«, der auf dem Podium zu rauchen pflegt, allabendlich mit der halb deutschen, ganz überflüssigen Conférence vorstellt: »Jetzt wird auftreten Erich Mühsam. Er hat kolossal lange Haare. Er ist das Prototypus von eine Bohémien. Er kann rauchen, wie wenn nichts wäre«, so behalten die Recht, die – die Schaubude als moralische Anstalt betrachten, weil ihr die Spekulation auf die Neugierde des Pöbels wenigstens organisch ist. Anm. d. Herausgeb.