Im Jänner 1961 erschien die Poetikschrift „Mein Gedicht ist mein Messer“ von Hans Magnus Enzensberger als Taschenbuch und markierte eine Zeitenwende in der Poesie der Nachkriegszeit. Für mich eröffnete dieses Buch sogleich eine neue Welt in Bezug auf Empfindung, Denken, Gefühle, Sprache in und mit dem Gedicht.
Enzensberger markierte die Position eines Gedichtes und stellte zugleich die Grundfragen, was ein Gedicht alles kann und können muß und was nicht. Der Fragenkatalog ist umfassend und vielfältig. Aber allein schon der Titel des Buches faßt Enzensbergers Position und Neupositionierung des Gedichts – nach zwei Weltkriegen, der Naziherrschaft und dem Holocaust – in einer präzisen Aussage zusammen und läßt eine ganz bestimmte Assoziation zu, nämlich: Das Messer – also das Gedicht – muß schneiden (können). Das ist es. Und das, genau das war eine Anweisung, die ab dann meine Poesie, mein Weltbild von Poesie und Leben bestimmte. Transponiert in meinen Ich-Katalog hieß und heißt das nun: Abkehr von jeder romantisch-verschwommenen nichtssagenden Metapher und Verschlüsselung (Kodifizierung). Weg von der Beschreibungsliturgie hin zum Sprechen über Wirklichkeit, über das was ist, über den jeweiligen Fall (Wittgenstein) mit dem ihm zugehörigen Gedicht. Und dies später gültig auch nach Adornos Ausspruch in Bezug auf den Konnex Auschwitz und Gedicht, Holocaust und Poesie.
Was bedeutet nun der Titel dieses meines – letzten!? – Gedichtbandes in Bezug auf diese meine Gedichte sowie das Dichten überhaupt für mich – in dieser meiner gegenwärtigen Lebensposition und im gegenwärtigen Zustand der Welt; also: in Konfrontation mit meiner jetzigen Ich- und Welterfahrung? Was meint der Titel EINSCHNITTE; was evoziert er und was assoziiert man mit ihm?
In diesen Gedichten ist vor allem von Einschnitten ins Leben die Rede, von Einschnitten, die tiefer gehen, als daß sie nur ein Ritzen der Haut mit einem Messer wären, nein, die tief einschneiden in die und unter die Haut; die einschneiden ins Fleisch. Einschnitte ins Leben, die wehtun, die verwunden, arg verwunden – bis hin zu tödlichen Verwundungen, zum letalen Schnitt.
Es geht also um tödliche Verwundungen durch Todeswunden, es geht um Krieg, Zerstörung des Menschseins, Vernichtung jeglicher menschlicher Lebenskultur und Zivilisation. Jetzt gemeint, was in der Ukraine geschah und geschieht. Und natürlich auch anderswo auf der Welt. Es geht um das Zerbrechen der Liebe, von Liebes- und Lebensbeziehungen. Und es geht um Alter, Krankheit, Sterben und Tod. Es geht dabei auch um die Fragen: Was geschieht mit dem Menschen, wenn er herausfällt –wodurch auch immer – aus den Ordnungen seiner Existenz? Was bedeutet das insgesamt für den Menschen und die menschliche Existenz schlechthin? Nein, man darf auf diese Fragen keine gültigen, keine endgültigen Antworten erwarten; höchstens wiederum neu auftauchende, eben jetzt mit dem Gedicht aufgespürte Fragen. Die allerdings nicht nur in die Unwissenheit hineinführen, sondern zugleich auch ein neues Terrain für die Lebensbewegung ermöglichen und ein solches auch für das Gedicht. Alles ist einer Änderung unterworfen, alles ist ein einziges Vorübergehen; nichts bleibt wie es war und wie es ist – auch nicht das Gedicht.
Für mich bedeutet das die Art und Weise mit dem Gedicht zu sprechen, deren Ergebnis ich als „Lapidargedichte“ bezeichne. Es geht mir also um die metaphernlose Protokollierung dessen was ist, dies freilich in und mit der Sprache der Literatur. Dieser Anspruch muß erfüllt sein, daß man ein Sprachgebilde als Gedicht bezeichnen kann und darf. Es geht also nicht um Willkür und Chaos, um unbeschränkte Freiheit. Nein, alles hat seine ihm zugehörige Dramaturgie.`
„Der Schmerz bewahrt die Erinnerung“ heißt es in jenem Gedicht, das ich oben auf der Galerie der St. Isaaks-Kathedrale in St. Petersburg 1994 gedacht und dann niedergeschrieben habe. Also vom Schmerz als unabdingbare Bedingtheit für ein Lebenskontinuum ist die Rede; auch in Bezug auf meine ganze Lebenserfahrung und Lebensauffassung. Und natürlich verlangt ein solcher Schmerz nach seinem Ende, nach Schmerzlosigkeit. Aber fällt dieses Ziel dann nicht mit der Erlösung zusammen? Und wann ist diese möglich, wann gibt es die Erlösung von diesem Lebensschmerz? Nur im Tod?
Einschnitte im Leben lassen erahnen und vorausspüren, was (noch) kommen kann, vielleicht kommen wird; mit Sicherheit ein Lebensstadium sein wird für jeden Menschen, ob augenblicklich oder in einem langen Entwicklungsprozeß dorthin, der auch ein schmerzhaftes Abschiednehmen-Müssen beinhaltet. Nein, es gibt da keine Idylle, nicht in solchen Lebensstadien. Doch auch da zuckt zumindest manchmal ein heller Lichtstrahl durch, der alles rundum beleuchtet und aufhellt. Und der zeigt, daß beides zusammengehört: das Licht und das Dunkel. Und daß beides zusammen das ausmacht, was man LEBEN nennt.
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Einschnitte, Gedichte von Peter Paul Wiplinger. Löcker-Verlag 2021–2022
Weiterführend → Eine Würdigung der Einschnitte durch Elisabeth Schawerda finden Sie hier.
→ Lesen Sie auch die Essays Über den Zustand der Liebe in lyrischen Texten und Poetik des Humanen über Peter Paul Wiplinger.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.