Ich mag den Gedanken, dass Zombies wie wir sind. Die größten Monster sind doch sowieso unsere Nachbarn, der schlimmste Horror befindet sich immer direkt nebenan. Die Zombies lernen, sie imitieren die Menschen, was wiederum die Frage aufwirft, ob sich die Menschen wie Zombies benehmen.
George A. Romero
die einzelnen kapitel des erzählbands Zombies, die prosaische und essayistische passagen sowie handlungen und reflexionen ineinander übergehen lassen, wirken wie literaturclips mit filmischen strukturen, schnitten und effekten, in denen antihelden clipfiguren gleich durchs bild zerfallender wirklichkeiten laufen, deren permanente bewegung über ihre systemische erstarrung hinwegtäuscht. man denkt beim lesen dieser in einer verknappten und mitunter fast minimalistischen sprache geschriebenen texte an short-story-erzähler und short-cuts-filmregisseure, die lapidar und beiläufig alltagsgeschichten von großer traurigkeit erzählen.
wie in robert altmans film Short Cuts, der fünf erzählungen von raymond carver durch ensemblespiel und verknüpfungen der figurengruppen zu einer filmhandlung verband und inzwischen traditionsbildend geworden ist, siehe neuere filme wie Babel von alejandro gonzáles iñárritu oder Crash von paul haggis, verbinden sich auch weigonis texte, die parallelwelten beschreiben, miteinander, indem mehrere figuren wiederholt auftreten und so handlungsstränge verknüpfen. weigoni ist ein alltagsarchäologe, der verborgene schichten unter der oberfläche der erscheinungen entdeckt und so konventionen, normen und denkregelungen hinterfragt. manche der phänomenologisch wirkenden passagen lassen an die Mythen des Alltags von roland barthes oder walter benjamins Einbahnstraße denken.
den Zombies vorangestellt ist das zitat „Zombies sind keine Menschen.“ Das Bundesverfassungsgericht der BRD zur Frage, ob ein Film gegen die Menschenwürde verstösst, der die grausame Tötung von lebenden Toten zeigt.« wer noch illusionen hat, kann sie bei der lektüre dieses buchs verlieren. denn man möchte eigentlich in keiner der beschriebenen welten leben, deren wege auch durch medizinische experimente, leichenhäuser und gräber führen. der autor, idealistisch inspiriert, arbeitet hier, indem er verheißungen seiner lebenswelt in frage stellt, eigene desillusionierungen ab. die freiheit endet beliebig und die aufklärung desillusioniert.
dabei ist das bundesverfassungsgericht praktisch das orakelheiligtum der bundesrepublik deutschland. man könnte geradezu vom orakel von karlsruhe sprechen. die parallelen sind wirklich erstaunlich. man wendet sich heute bei existentiellen fragen, die klare antworten schwer machen, ans verfassungsgericht wie an die orakelpriester aus delphi, die indes nicht immer unbestechlich waren. und die abwägenden urteile des gerichts müssen ebenso wie einst die orakelsprüche interpretiert werden und fordern derart das nachdenken der ratsuchenden über die folgen ihres handelns heraus.
roland barthes meinte, daß das verhältnis des mythenanalytikers zur welt sarkastischer art sei. die Zombies werden den leserinnen und lesern als popmoderne großraumprosa angekündigt, sozusagen eine literarische zugfahrt durch einen menschlichen zoo. und man wird beim lesen wirklich hin und her gerissen und durchgeschüttelt wie bei einer bahnfahrt über weichen. wer fragt, wo hier das positive bleibe, dem sei geantwortet: das positive ist die ironie, die ein reflexives und skeptisches denken verlangt und anzuregen vermag. schon der frühe satz »Eine Klimaanlage sorgt für ihr Wohlbefinden.« klingt ironisch. die texte, durch die messerscharfe kalte feuerwinde wehen, führen ein bestiarium menschlicher gestalten vor, deren beziehungen beziehungsarmut zeigen und die oftmals unter enormem beschleunigungsdruck agieren. »Nichts ist fest, alles gerät beim kleinsten Anstoss in Bewegung, doch mitnichten in Fluss.« heißts in Reality-Radio. viele der figuren, der autor nennt sie »Larvenexistenzen« und »Gegenwartsgefrorene«, bei denen man einer kühlen vitalität jenseits von vertiefung und empathie begegnet, sind als präsenznomaden kleine dämonen. sie leben im glauben an eine ewige gegenwart oder gar ewige jugend, die ihnen umso lebbarer scheint, je ahistorischer sie denken und handeln. solche modernen nomaden, marionetten ihres egoismus, folgen als individuen wie herdentiere den weideplätzen ihrer bedürfnisse und gelüste.
weigonis zuvor erschienene Vignetten beschreiben authentische menschliche partnerschaften, oder zumindest die sehnsucht danach, die Zombies, in denen man eher schatten von beziehungen antrifft, überwiegend präfabrizierte. selbst authentisch scheinendes wird zweckausgerichtet und verliert dadurch seine natürlichkeit. wo marketing dominiert, werden inhalte schnell zweifelhaft. liebesszenen wirken meist wie gestylte und kalkulierte liebesinszenierungen. möglicherweise scheitern partnerschaften heute häufig, da sie, im bühnenbild oder vor der filmkulisse der städte, als drehbuch, regietheater, konzeptkunst oder laborversuch angelegt sind und die akteure, zumindest unbewußt, kunstformen und lebenswirklichkeit vertauschen oder gar verwechseln.
der autor, der erscheinungsformen und verhaltensweisen einer kapitalistisch globalisierten lebenswelt sowie die dazugehörigen manipulativen und zwänge erzeugenden technokratischen automatismen schildert, fragt »Muss man die Konsumideologie nicht in den Rang einer Weltreligion erheben?« wohlfühlkulturen verweisen letzten endes darauf, wie unerträglich die menschen ihre lebensrealität finden. die postmoderne, die zu großen teilen aus einer sich permanent modisch erneuernden kleinbürgerlichen verwertungskultur besteht, ist eine komödie der kulturgeschichte, die tragisch enden wird, wenn sie keine pirouetten mehr drehen kann.
weigoni, der medienundkommunikationstechnologien fasziniert und kritisch begegnet, wie mcluhan und virilio in einer person, allerdings wohl zunehmend mehr kritisch als fasziniert, beschreibt in technikbedingten lebensweltundverhaltensveränderungen künftige wirklichkeiten jenseits des traditionellen oder bisherigen modernen bürgerlichen lebens. indem er über die vertechnisierung der sinne und die versinnlichung der technik nachdenkt, betreibt er aufklärung gegen technikgläubigkeit. vielleicht setzen die modernen gesellschaften auch deshalb so sehr auf technologische entwicklungen, weil sich ihre ideellen experimente erschöpft haben. technische neuerungen suggerieren den menschen entscheidungsfreiheiten, die bei ihrer nutzung teils zugleich verlorengehn. jede populäre neue technik ruft zunächst massenhafte kulturelle und geistige analphabetisierungen hervor, die erst wieder überwunden werden müssen, ehe nicht nur wenige die ideellen potentiale der technischen entwicklung wahrnehmen können. die angebliche unumgängliche notwendigkeit des persönlichen gebrauchs von techniken, ohne die man bis vor kurzem ohne weiteres gut leben konnte, rationalisiert häufig bloß unbewußte psychische antriebe. ein wichtiger impuls für die private techniknutzung, mit der man sich etwa seiner lebensartkompatibilität versichert, dürfte der drang der menschen sein, dazuzugehören. letztlich erleben wir so nur die alten kulturprimaten mit neuer technik.
eines der grundmotive der literatur weigonis, egal ob in lyrik, prosa oder essayistik, ist das spannungsverhältnis zwischen geistig ideellem und körperlich sinnlichem, die damit verbundenen vermischungen und überschneidungen inbegriffen. die sinnlichkeit seiner texte entsteht oft geistig, jedenfalls meist reflexiv und nicht bloß, wie gebrauchsliterarisch mode, naturalistisch beschreibend. man könnte von einer intellektuellen sinnlichkeit sprechen. bereits auf seite 7 thematisiert der autor in der frage »Oder haben Sie schon einmal mit einem Buch kopuliert?« sarkastisch den kontrast zwischen geistigem und sinnlichem.
die verhaltenslehren der kälte werden heute weniger durch maßregeln autoritärer instanzen, vaterland, staat, schule, kirche, implantiert, als vielmehr durch die zunehmend technologiegelenkte wahrnehmung momentaner privater interessen. die texte machen deutlich, daß die permanente bewaffnung der individuen im konkurrenzkampf gegeneinander letztlich individualität zerstört, indem der bloße egoismus siegt. die technokratische gesellschaft hat die patriarchalen, macht ausübenden kräfte entpersönlicht und in die strukturen und mechanismen der funktionalität ausgelagert. erniedrigt wird heute vorzugsweise durch finanzmechanismen.
man könnte die Zombies-texte satirischen realismus nennen. auf dem buchdeckel präsentiert sich der autor selbst als figur, die einen kaffeehausartigen endzeitmenschen zeigt, der charmant seine verkleidung vorführt. die satirische überzeichnung macht realitäten durch verfremdung kritisch verstehbar. einige szenen haben etwas comichaftes, das auf zeichentrickartige realitäten verweist. zeichentrickfilme heißen animationsfilme. und das publikum wird ja lebensreal tatsächlich oft zum animationsobjekt. in der mediensatire Reality Radio, die den lokalen sensationsjournalismus persifliert, berichtet das >Lokalradio Neanderthal< über einen diebstahl von 42 parkuhren, die in düsseldorf innerhalb von zwei wochen abgesägt werden, wie über ein weltereignis, bis der parkuhrendieb am ende dem lokalreporter ein interview auf frischer tat gibt.
man bemerkt beim lesen dieser geschichten, deren kühle präzision bisweilen schon etwas surrealistisches hat, ein gespür für kulturelle transformationen, die als konvention, innovation, travestie und persiflage auftreten können, wobei die übergänge häufig fließend sind. der leser findet vielfältige kulturgeschichtliche anspielungen, bis hin zu alltagsbezogenen verwendungen solcher worte wie trickster, derwisch und berserker, die den charakter von figuren umschreiben. in >Das Happening< läßt weigoni unter anderem novalis, arthur rimbaud, friedrich nietzsche, oscar wilde, thomas mann, robert musil, gottfried benn, hans henny jahnn, bertolt brecht, egon erwin kisch, tristan tzara, hugo ball, pablo picasso, arnold schönberg, jean paul sartre, orson welles, virginia woolf, hermann hesse, ingeborg bachmann, miles davis, jim morrison oder janis joplin auftreten, alles figuren eines vergangenen jahrhunderts. das gemahnt an christa wolfs >Kein Ort. Nirgends<, wo heinrich von kleist und karoline von günderode einander begegnen, oder an die reisebegegnung von e.t.a. hoffmann, kafka und gogol in prag bei anna seghers.
der leser findet auch in Zombies wieder zahlreiche aphoristische gedanken: »Nachdem das Träumen von besseren Welten aufgegeben wurde und utopische Gesellschaftsentwürfe in die Archive verbannt wurden, hat sich das utopische Denken auf den Körper verlagert.«, »In der egozentrischen Gesellschaft gibt es nur mehr einen Wert: die Selbstverwirklichung, die ihr Ich als Durchgangsstation zum Astralkörper erhebt.«, »Die kosmetische Chirurgie ist die Haute Couture des 21. Jahrhunderts.«, »Alle Individualität wird lichtschnell Allgemeingut, jeder Widerstand zum Mainstream. Kopieren ist das neue Echte.«, »Künstler werden aufgebaut, indem man die Erwartungen des Publikums steuert.«, »Je lauter der Weltlauf verlangt, Position zu beziehen, desto fragwürdiger wird die popkulturelle Haltung.«, »Für Melancholiker ist die Zeit eine Wunde, die niemals verheilt.« oder »wer zu weit denkt, denkt den Tod.«
Der moderne Flaneur sitzt vor dem Bildschirm. Ihn schlägt nicht weniger als die Welt in ihren Bann. Bilder und Wörter halten ihn gefangen… Wie Goethes dichterisches Ich schlendert der Flaneur im Internet ’so für sich hin‘ und lässt die Gedanken, die an diesem oder jenem Gegenstand hängenbleiben, schweifen; vor ihm eröffnet sich eine Flut an Verknüpfungen, die in Wellen wieder über ihm zusammenschlagen.
Alain Claude Sulzer
in Cyberspasz, a real virtuality greift weigoni motive aus Zombies erneut auf. die erzählenden teile sind, wie in seiner prosa üblich, von intellektuellen, essayistischen und aphoristischen gedanken durchzogen. man kann diese texte, die auch geistig erzählen, also analytisch lesen, doch ebenso als kolportage, nicht zuletzt weil weigoni literarische formen und techniken, die er benutzt, zugleich parodiert. schon der buchtitel verweist auf eine ironisierende komponente, ebenso ein texttitel wie Der große Wurf, eine Sprechblasenoperette.
der autor spricht von hypermodernen menschen. hypermodern meint hier die neue spätmoderne. längst ist modern ein synonym für systemkonform geworden. die moderne wurde konservativ, als ihre subjekte in ihr angekommen waren. hans magnus enzensberger erklärte bereits 1960 im nachwort zum Museum der modernen Poesie:
In Bewegungen und Gegenbewegungen, Manifesten und Antimanifesten ist der Begriff des Modernen ermüdet. Trübe dient er heute der Werbung fürs Bestehende, gegen das er einst sprengende und befreiende Kraft verheißen hatte. Gespenstisch ist er eingegangen in das Wörterbuch der Konsumsphäre. Das Moderne ist zum Nur-noch-Modernen geworden, ausgesetzt journalistischer Zustimmung, fungibles Moment der industriellen Produktion.
weigoni beschreibt aktuelle folgen dieses prozesses: »Die hypermodernen Menschen sind süchtig nach Originalität, aber nicht mehr originell. Ihr Nachdenken über die Form ersetzt das Nachdenken über das Leben, aus dem es hervorgeht.«, »Die beliebig besetzbare Identität fungiert nur noch als Platzhalter im unendlichen Datenstrom.«, »Hinter jedem Bild und jeder Wahrnehmung lauert ein vorgeschriebenes Muster, ein anderes Medium, ein höhnisch grinsender Fremdautor.« oder »Wer heutigentags von Systemveränderung spricht, meint Computer-Software und keine politische Utopie.«
die texte führen abermals menschen vor, die vielfach bloß noch momentorientiert leben, wofür sie freilich mit illusionen von freiheit entschädigt werden. viele der figuren können empfinden und denken, sinnlichkeit und rationalität nur schwer in einklang bringen. das ergebnis sind kompromisse, die allenfalls vorübergehend befriedigen und befrieden und bei denen das einfühlende und das rabiate nicht selten dicht beieinander liegen. vielleicht entstehen so menschentypen, denen das vorübergehen zur lebensart wird, sozusagen vorübergänger statt widergänger. weigoni postuliert: »Verstehen bedeutet, nachempfinden können.«, muß dann aber konstatieren: »Die zunehmende Technisierung der Welt ist ausserordentlich schmerzhaft, Empfindungen werden mit Erfindungen beantwortet.« und »Der Verlust der Körperlichkeit ist nurmehr ein Thema für Trendverächter.«
computerwelten und realwelten, scheinwelten auf beiden seiten inbegriffen, gehen in diesen texten ineinander über und verschmelzen miteinander, teilweise bis zur ununterscheidbarkeit. oder sind gar computerwelten die neuen realwelten wie kopien die neuen originale? der autor beschreibt auswirkungen technologischer zwänge auf die menschen nicht von außen, sondern aus eigenem erleben. man lese hierzu den computerweltlichen eingangstext Auf ewig dein. er hinterfragt die idealistisch klingende parole des computerzeitalters »Jeder kann alles und deshalb ist alles für jeden da.«, die auf illusionen beruht. denn natürlich hängt können von begabungen ab, die nicht jeder gleichermaßen hat. zugleich beschränkt der allgegenwärtige egoismus das dasein für andere. während einzelnen bevölkerungsgruppen vorgeworfen wird, sie würden parallelwelten bilden, besteht die moderne, postmoderne, spätmoderne oder hypermoderne welt insgesamt aus parallelwelten, die sich allerdings permanent neu sondieren und dabei punktuell und zeitweilig zusammenwirken. letztlich ist freilich jeder mensch eine parallelgesellschaft. »Digitale Mystik funktioniert als Steigbügelhalter eines modernen Relativismus, der alle Lebensbereiche erfasst.« und »Die Informationsgesellschaft befindet sich in einem Zustand aufgeklärter Konfusion.« erklärt weigoni, und fragt: »Was ist Wirklichkeit, was Kopie, was Fiktion im Patchwork von Bild- und Tonpartikeln aus Mythos, Alltagstrivialem und Übernatürlichem?«
an einer stelle heißt es, große teile der postmodernen wirklichkeit seien eine art »Neu-Schwanstein«, also illusionswelten. peter sloterdijk spricht von der »Illusionswirtschaft der Massenkultur« (Die Sonne und der Tod). arthur rimbauds »Das wahre Leben ist anderswo. Wir sind nicht auf der Welt.« gilt bis heute. wer durch die straßen geht, sieht lauter scheinweltkulissen, daneben menschen, vermutlich laiendarsteller, die engagiert wurden, damit sie wirklichkeit spielen. wie manche filmregisseure arbeitet weigoni in seinen texten mit improvisatorisch veranlagten laiendarstellern, die er als figuren wie in einem puppentheater in einer weltweit vernetzten black-box agieren läßt.
dabei weiß er natürlich, daß die beschreibungen zweifelhafter welten noch keine befreiung davon ist. desillusionierungen können jedoch vorstufen des willens zur veränderung sein. wer die gesellschaft grundlegend ändern will, muß sie mit zweifeln kontaminieren. bleibt die frage, wie sehr ein mensch seine wirklichkeit erkennen, oder gar durchschauen, darf, damit er darin noch leben kann. oder ist tatsächlich die blindheit der erfahrung der garant jeder halbwegs harmonischen existenz?
indem der kritiker glaubt, er könnte etwas bewirken, und sei es nur nachdenken, enthält kritik immer auch optimismus. die eigentlichen pessimisten sind jene, die meinen, man könne ohnehin nichts ändern, sondern sich immer bloß neu anpassen. der utopist kommt indes schnell an einen punkt, wo er etwas postuliert, dem die real existierenden menschen nicht entsprechen können. wer viel denkt, handelt unter umständen eher wenig, weil denker überwiegend skeptisch sind und zweifel haben, während handlungen stets kompromisse verlangen, nicht zuletzt solche, die man eigentlich vermeiden will. manche entlasten sich vom falschen, das sie tun, indem sie es abseits ihrer handlungen selber kritisieren.
weigoni postuliert: »Es ist ein Grundprinzip des Lebens, der Improvisation: sich erinnern, was gewesen ist, um weiterspielen zu können, und es im selben Augenblick zu vergessen, um frei zu sein.« folgerichtig sucht und sieht er alternativen, aus denen er seine vitalität bezieht, vor allem in der kunst, einem refugium durch alle historischen zeiten hindurch. die erzählungen rekonstruieren, oder konstruieren, werke der filmkunst, bildkunst und musik sprachlich. der rhythmus dieser texte, etwa in Rahsaan – eine jazzthetische Story, hat etwas jazzartig improvisierendes und filmschnitthaftes. man denkt beim lesen öfter an amerikanische filme, beispielsweise Schatten von john cassavetes. in Kopfkino, ein Wortvideo für eingeweihte Ohryeure wird nach dem vermeintlich gedrehten und verloren gegangenen film Herz der Finsternis von orson welles nach joseph conrads roman gesucht.
in weigonis texten treffen reale wirklichkeiten auf fiktive und umgekehrt, kunstwelten auf kriminelle welten, so durch den tod der malerin vera strange in Der McGuffin – Nachruf auf einen Kriminalroman, einer beschreibung neuer krimineller milieus, die den kriminalroman persifliert, aber auch als hommage an friedrich dürrenmatt gelesen werden kann, der bis heute, neben edgar allan poe, zu den wenigen kriminalautoren der weltliteratur gehört. die künstlerin kommt indes tatsächlich um. ein kriminalist, der permanent morde aufklären will, die nie stattgefunden haben, wäre jedoch in weigoni texten, die pirouetten der postmodernität satirisch überdrehen, ebenfalls nicht undenkbar.
thematisiert wird der organisierte kunstraub (Ein Schelm, wer angesichts der Ansprüche von NS-Opfern auf Bilder aus dem Schwabinger Kunstschatz an eine Zufall glaubt). man könnte genauso vom künstlerraub sprechen, wenn künstlerisch begabte menschen durch verwertungsmechanismen von der ausbildung und entfaltung ihrer begabungen abgehalten werden. kunstraub und künstlerraub gehören so zusammen. und vielleicht porträtiert der autor ja insgesamt eine zunehmend krimineller werdende gesellschaft. gewalt und kriminalität sind stets nur extremformen von fehlentwicklungen, die als normal und legitim gelten. täuschung und betrug, oder zumindest betrugsversuche, werden jedenfalls immer mehr zum normalen alltagsverhalten, nicht bloß im privatleben, sondern bis hinein in unternehmen und verwaltungen.
auch, oder gerade, weigonis gedanken zur kunst reflektieren desillusionierungen, »Nicht der Künstler, sondern der Kunst-Betrieb bestimmt, was Kunst ist.«, »Es ist in den westlichen Ländern alles abgeschnitten, was keine konkrete Nutzanwendung hat; deshalb fangen die Gesellschaften schleichend an, aus Mangel an Inhalten zu implodieren.«, »In der Kunst ist der Einsatz das Leben.«, »Künstler migrieren, ob real, mental oder digital.«, und bieten andererseits auswege: »Urbane Unaufgeräumtheit erzeugt ein optimales Brutkastenklima für das Gedeihen künstlerischer Experimente.« und »Nur wer geniesst, was er nicht entschlüsseln kann, wird begreifen.« das sind aussichten.
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A. J. Weigoni, Cyberspasz, a real virtuality, Novellen, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.
A. J. Weigoni, Zombies, Erzählungen, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Alle Exemplare des Prosa-Werks sind handsigniert und limitiert in einem Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich. Es ist ein Akt der Werkoffenbarung. Darin enthalten sind die Novelle Vignetten, die Erzählungen Zombies, der Novellen-Band Cyberspasz, a real virtuality. Der erste Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet und der „Heimatroman“ Lokalhelden.
Und nur in diesem Schuber enthalten sind das Hörbuch 630, sowie Weigonis Gebrauchsprosa Vorlass, in dem biographische, werkgenetische und poetologische Fragen beantwortet werden.