Eine zeitgenössische Erinnerung von Theo Breuer
Wieder einmal stocherte Axel Kutsch im September 2009 aus dem Bergheimer Tief- ins Sistiger Hochland, was er seit langer Zeit etwa drei- bis fünfmal jährlich tut – Wildschweinen, Nebel, Gewitter, Sturm und weiteren natürlichen Unwegsamkeiten zum Trotz. Er brachte die in jener Woche fertig gewordene Lyrikanthologie Versnetze_zwei mit, ich gab ihm Exemplare der Literaturzeitschriften orte und Zeichen & Wunder, wir hörten Schuberts erste und zweite, später die fünfte, siebte und achte Sinfonie, rauchten Zigarillos auf der Terrasse, gingen durch den Garten, den Norbert Scheuer drei Wochen zuvor in Anlehnung an japanische Steingärten zum Eifeler Steingarten geadelt hatte, Kutsch staunte über die beiden Hexenringe in der Wiese und die Menge kleiner und großer, runder und eckiger Steine, die ich auch in den vergangenen Monate bei Gängen durch die Felder, Wiesen und Wälder gesammelt und zu gebirgsbachähnlichen Gestalten gefügt hatte, wir liefen bis zum Waldrand, holten uns im grasüberwachsenen Graben nasse Füße, genossen anschließend selbstgebackenen Pflaumenkuchen und sprachen wie immer bloß, Wortspuren sichernd, über DAS EINE (das die Gesamtheit der Literatur umfaßt – mit Lyrik als prima inter pares –, so daß wir auch über jüngst gelesene Romane von Anna Katharina Hahn, Terézia Mora, Norbert Scheuer, Kathrin Schmidt u.a. sprachen), das uns verbindet.
Zehn • Zacken • im • Gemüt
Ein gemeinsamer Bekannter machte mich 1989 auf den Herausgeber Axel Kutsch aufmerksam, von dem ich bis dahin noch nichts gehört hatte. Wie auch? Ich hatte im Herbst 1983 mit Schreiben begonnen – es wundert vielleicht manchen Leser, daß ich in den Jahren 1983 bis 1987 fünf Romane für die Schublade schrieb – und 1988 auf Drängen des in Blankenheimerdorf lebenden Künstlerfreunds Gunter Lorenz den ersten Lyrikband – Eifeleien – herausgebracht (im Selbstverlag, da ich keinerlei Kontakte zur Welt der Literatur hatte und auf keinen Fall unverlangt ein Manuskript an einen Verlag geschickt hätte, diese Vorstellung kam mir immer schon absurd vor).
Die eine Anthologie, von der ich damals wußte, die ich seit 1977 besaß und in der ich natür-lich immer wieder mit Begeisterung las, war Das große deutsche Gedichtbuch, das 2008 als Der Große Conrady zum vierten Mal neu herausgegeben wurde. Daß in diesem Standardwerk nun Gedichte von mir zu lesen sind, wundert mich, vor allem aus der Perspektive früherer Lebensphasen betrachtet, genauso wie die Tatsache, in mittlerweile siebzehn von Axel Kutsch herausgegebenen Lyrikanthologien vertreten zu sein. Denn, wie gesagt, am Anfang, 1989, holperte es: Ich schickte Kutsch auf Anraten des Bekannten einige Gedichte für den geplanten Sammelband Wortnetze I – mein erster Versuch überhaupt, in einer Anthologie zu landen – und wartete danach genauso zuversichtlich wie vergeblich auf positive Antwort in Form eines Belegexemplars, das ich dem Postboten hocherfreut aus der Hand reißen wollte.
Monate vergingen, bis ich dem gemeinsamen Bekannten den Kummer über den nie erfüllten Wunschtraum mitteilte. Er fragte kurzerhand und ohne mein Wissen bei Kutsch nach, der meine Gedichte wohl eher zufällig noch nicht weggeworfen hatte – die Anthologie war ja längst erschienen – und mir freundlich mitteilen ließ, er hätte mich schon berücksichtigen können, aber es gebe immer zu viele Einsendungen, ich solle mich nicht entmutigen lassen und es im nächsten Jahr wieder versuchen. Im nachhinein bin ich naturgemäß sehr froh über die Verzögerung gewesen, gab mir diese doch die Gelegenheit, den Blick auf Wort und Vers weiter zu schärfen und unverdrossen an dem zu arbeiten, was lebenslang Obsession des Dichters ist.
Wortnetze • Lebenszeichen
Wortnetze II heißt die 1990 erschienene, Hans Bender und Rolf Dieter Brinkmann gewidmete Anthologie, die die erste Anthologie ist, in der Lyrik von mir erschien: Auf Seite 111 stehen die beiden Gedichte, gleichsam potenzierte Schnapszahl, der Frohsinn konnte also auf den frostigen Höhenzügen des Rheinlands seinen Lauf nehmen. Auch heute freue ich mich, wenn ich in einem interessanten Sammelband vertreten bin, aber was war das für ein Jubel damals: Ich konnte es kaum fassen, hier neben Größen wie Hans Bender und Erich Fried zu stehen. Die meisten anderen Autoren kannte ich nicht, und die Mehrzahl von ihnen treffe ich seit Jahren nicht mehr in Lyrikanthologien an. Es ist ein Kommen und Gehen in den Anthologien – ganz wie im richtigen Leben.
Etwas differenzierter betrachtet, denke ich, daß die späten achtziger und die frühen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts auch in der Lyrikwelt echte Wendezeiten waren: Nach Jahren der eher laueren Winde begannen die Gedichte wieder höhere Wellen zu schlagen, und viele Stimmen, deren Originalität und Qualität den nun deutlich ansteigenden Erwartungen, von Vorkämpfern wie Thomas Kling, Bert Papenfuß, Durs Grünbein unmißverständlich manifestiert, nicht standhielten, verschwanden auf Nimmerwiedersehen im Orkus der Lyrikgeschichte.
Seit 1990 nun hat der Herausgeber Axel Kutsch regelmäßig von mir verfaßte Gedichte veröffentlicht und gehört damit zu den entscheidenden Förderern meiner Lyrik. Von Jahr zu Jahr wurde unsere Beziehung intensiver, wir begannen, einander unveröffentlichte Gedichte zu zeigen, antworteten mit Gedichten auf Gedichte, schrieben einander in den neunziger Jahren zahllose Briefe, die nach und nach von der E-Mail abgelöst wurden, seine Besuche wurden von Jahr zu Jahr regelmäßiger, so daß Axel seit Jahren nun gleichsam zur Familie gehört.
Zeit. Wort • Orte. Ansichten
Jeder Autor weiß, wie wesentlich es (nicht nur) für literarische Laufbahnen ist, auf Menschen zu stoßen, die es zum einen gut mit einem meinen, die aber gleichzeitig die zwingende professionelle Distanz wahren, wenn es um Probleme der Lyrik geht. Die Literaturgeschichte ist durchzogen von beredten Beispielen solcher fruchtbaren Freundschaften unter Literaten, die einander auf Augenhöhe begegnen und guten Einfluß auf das Werk des anderen genommen haben. Das Grundgesetz vom einsam vor sich hin Dichtenden wird auf diese Weise regelmäßig außer Kraft gesetzt.
Als Kutsch 2002 mein Manuskript Land Stadt Flucht lektorierte, herrschte diese Grundstimmung genauso vor wie im umgekehrten Fall, als ich seinen in der Lyrikreihe der Silver Horse Edition erschienenen Gedichtband Stille Nacht nur bis acht durchsah. Da treffen sich allerdings auch zwei Grundeinstellungen, die einander sehr ähnlich sind: Wir lassen Gedichte, die nicht vollkommen die Erwartungen erfüllen, lieber außen vor, als unbedingt einen umfangreichen Band zu füllen. Und wenn es nur ein Wort ist, das nicht stimmt: Dieses Gedichte muß warten, bis das Wort gefunden ist. (Bisweilen dauert es Monate, ja, Jahre, und oft wird es nie gefunden: Gedichte schreiben heißt eben auch, sie nicht zu schreiben.)
Immer wieder ist Axel Kutsch erster Adressat meiner Gedichte und Aufsätze, immer wieder vermittelt er wertvolle Hinweise. Daß Einschätzungen dabei auch auseinandergehen, ist genauso selbstverständlich wie die Tatsache, daß meine Zusammenstellung von Anthologien naturgemäß anders aussähe und ich nicht alle Autoren bzw. Gedichte auswählen würde, die Kutsch in seine Sammelbände aufnimmt, und daß ich Autorinnen und Autoren vermisse, von denen ich denke, daß ihre Gedichte der Anthologie noch gutgetan hätten.
Beim Lesen reiße ich plötzlich die Augen untertassengroß auf, bade in Wörtern, es sind die Wörter, denen ich lesend oder schreibend auf der Spur bin, die Wörter, der Sound, die Schwingungen, ziehe Sekunden später die Stirn kraus, jubiliere, um mir kurze Zeit später lauthals Luft zu machen. ABER: Es ist Axel Kutschs Auswahl, nicht meine, nicht Hans Benders, nicht Michael Brauns, nicht Christoph Buchwalds, nicht Karl Otto Conradys, nicht Harald Hartungs, nicht die von Shafiq Naz oder Tom Schulz, nicht Hans Thills, nicht Jan Wagners, nicht Björn Kuhligks, nicht Ron Winklers, nein, es ist seine, Axel Kutschs ureigene Auswahl, die Entdeckungen und Lücken zeitigt wie jede lebendige und kenntnisreich edierte Anthologie – die immer auch Appetitanreger für die andere Anthologie (in der ich prompt auf die Dichternamen stoße, die ich eben noch vermißt habe) und vor allem natürlich die Gedichtbücher der frisch entdeckten Autoren sein will. Lyriksammelbände, gerade von heute, in diesen Zeiten der krassen Unübersichtlichkeit, können nur exemplarisch sein – bei aller selbstverständlichen Offenheit, die im Falle Axel Kutsch nicht genügend betont werden kann.
Ortsangaben • Städte. Verse • Unterwegs ins Offene
Die 27 bislang von Axel Kutsch herausgegebenen, im Lauf der Jahre immer vielgestaltiger edierten, mehr und mehr unterschiedlichste Stimmen aus den verschiedensten Lagern und Regionen präsentierenden Anthologienwirken wie Assemblagen, die ich als lyrische Einheiten mit vielfältigen Topographien rezipiere. Natürlich kann ich mir das einzelne Gedicht, um das es mir immer in erster Linie geht, wie die eine tiefschwarze Kirsche aus dem übervollen Baum herauspflücken, aber die Gesamtrezeption während der jeweils eintägigen Lesesession, wirkt dermaßen drogenhaft berauschend und bewußtseinserweiternd, daß es eine Sucht geworden ist, immer weiter und weiter zu lesen, so lange, bis die Buchstaben beginnen, vor meinen Augen zu verschwimmen.
In den ausgewählten Gedichten, die augenbetäubend, bitter, chiffriert, dunkel, entrückt, flirrend, gleißend, hölzern, intensiv, jovial, krüppelig, laublau, mehrsprachig, nackt, offen, pastellgelb, quer, ratternd, strafzettelblau, tot, ungeladen, violett, welk, x-beinig, ybel, zaunbraun aussehen, daherkommen, klingen, riechen, schmecken, sprechen oder wirken, zerrt der Anthologist mich durch wortübersäte Boulevards und silbengespickte Feldwege, hypoparataktisch angelegte Verbalstraßen und tiefgehende Sinnschächte, durch Sprachschluchten, in denen ich durch Vokabelgeröll und Wörterschnee wate, der fällt in großen flocken in mein innenohr – durch die lüfte energie sparen lese ich übergangslos und denke unvermittelt: Von wegen! In zwei Gedichten muß ich dem Weltraumschrott ausweichen, will ich nicht von den Wörtern vernichtet, vom Schmutzengel in das grenzenlose All des Universums gerissen werden. Hinter den biegsamen Deckeln dieser unscheinbaren Buchobjekte, die doch lediglich Sammlungen deutschsprachiger Lyrik der Gegenwart beinhalten, verbirgt sich eine enorme, spektakuläre, ungeheure Verdichtung an Energie, die von mir als Leser letztlich in ihrer Gesamtheit kaum zu fassen ist.
Lies halt weiter, flüstert mir mein österreichischer Freund Karl Natiesta ins Öhrchen, genauso wie er damals am Attersee lauthals Spring halt rein posaunte, als ich meinte, das Wasser sei aber doch sehr kalt. So lese ich halt weiter und stoße am Ende auf Gedichte von Hans Eichhorn, der, dem Kälterwerden und den leeren Parkbänken trotzend, am Attersee lebt und schreibt: Karteileichen und Aluminiumsessel, / das fügt sich zu keinem Kurzschluß.
Das Spektrum der einsilbig oder kakophon, fest- oder freimetrisch, klar oder geheimnisvoll, gereimt oder ungereimt, überhitzt oder unterkühlt, ernst oder ironisch, herb oder sanft, lässig oder forciert formulierten Gedichte in diesen Zeiten der nur noch kleinen Verschiebungen,in denen es eher selten humorvoll zugeht, nein, zu lachen gibt’s wenig, reicht vom Konservativen zum Experimentellen, vom Kreuzgereimten zum Alltagsparlando, vom Haiku übers Akrostichon zum Sonett, vom Epigramm zum Sprichwort, vom Vierzeiler zum Erzählgedicht, vom lyrischen Stimmungsbild zum antilyrischen Wortschwall, von politisch grundierten, mit suggestiven Botschaften garnierten Versen zur privaten Poesie für öffentliche Ohren, vom hermetischen zum offenen Gedicht, vom Block- zum Flattersatz, von der assoziativ verketteten, überbordernden paradox-skurillen Phantasmagorie zur (Realität verfremdenden) lakonischen Inventur, vom Popgedicht zum ätherischen, vom ungelegenen Vers zum Gelegenheitsgedicht, von der notgeborenen Attacke zur müßigen Besinnung, von Allegorie über Metonymie, Metapher und Emblem zum Symbol – oder bewußt davon befreiter Lyrik, vom Nonsens zum Tiefsinn, von reiner Lyrik über Metalyrik (Gedichtgedichte) zum didaktischen Lehrgedicht, vom stillen und kurzen, um eine einzige Metapher rankenden Gedicht zur hektischen, übers ganze Blatt verlaufenden Montage, vom Stakkato zum Geschmeidigen, vom surrealistischen Purzelbaum übers Dissonante zum Volksliedhaften, von der urbanen Häuserzeile zur rustikalen Sumpfdotterblume.
Manches erscheint mir, in Augenblicken der Ungeduld?, geschwätzig, macht sich breit auf der Seite, labert und wabert sich schier endlos fort, ich breche ab oder lese es, jetzt erst recht!, ein zweites Mal, anderes kommt einfach, schlicht und karg daher, vereinzelt finde ich flüchtige, fragmentarische, unfertige VERSuche.
Nicht jeder Autor vertritt die Auffassung, nur das für ihn Perfekte zu publizieren, und Kutsch trägt dem naturgemäß Rechnung: Anthologien dürfen, können, sollen auch Versuchslabors sein – mit der einen Bedingung: Die ausgereiften, gelungenen, originellen Gedichte (Verse, bei deren Lektüre mir der Atme stockt – wie Paul Celans Du liegst im großen Gelausche – finde ich nicht vor), in denen ich auf gute, nachhallende oder phantasievolle Wörtern wie Arbeitsschuhe, Brombeere, Chimäre, Dachpfanne, Erinnerung, Flußpferd, Gras, Haselstrauch, Igelball, Jahresring, Kaffeedampf, Lippenpelz, Mundhöhle, Nebel, Ozeanflor, Paranuß, Qualm, Regen, Spargel, Teepolster, Unterkiefer, Verschweigen, Wind, Xylophon, Ypsilon und Zwischenraum treffe, stellen die deutliche Mehrheit.
Auch das grandiose Scheitern gehört dazu (das ich der routinierten Langeweile vorziehe), gehört es doch zu den wesensgemäßen Aufgaben lyrischer Sammelbände, Dichtung im Werden zu zeigen, die Ent&wicklung von Autorinnen und Autoren zu protokollieren, die grund&sätzliche Wesensform der Lyrik als work in progress augenfällig zu machen. Endgültig fertig wird das Gedicht – von wenigen Würfen abgesehen – im übrigen nie, ob wir es nun in Einzel&titeln oder Sammelbänden lesen.
Zwei Versnetze & An Deutschland gedacht
Unter Kollegen
Immer wenn’s regnet,
schreibe er ein Gedicht.
Bei Sonnenschein,
sagt er, schreibe er nicht.
Ich möchte ja
nicht gehässig sein.
Ich wünsche ihm
immer Sonnenschein.
Axel Kutsch 2008/2009 hat Axel Kutsch, Autor von herrlich humorvollen, doppelbödigen, in elf schlagkräftigen Lyrikbänden veröffentlichten Gedichten, gleich dreimal zugeschlagen: An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes, Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik und Versnetze_zwei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart stellen – exemplarisch – die farbenreiche Palette deutschsprachigen Lyrikschaffens mit bekannten und weniger bekannter Autorinnen und Autoren aus Augsburg, Berlin, Castrop-Rauxel, Dortmund, Essen, Frankfurt und vielen, vielen, vielen anderen großen und kleinen Orten im deutschen Sprachraum dar (der jüngste, Leander Beil, ist Jahrgang 1990, der älteste, Hans Bender, Jahrgang 1919) – so, wie wir es von Axel Kutsch, dem vielleicht kenntnisreichsten Herausgeber deutscher Lyrik, seit 1983 kennen: In 27 Anthologien lese ich die rasante Entwicklung und Lage der Lyrik in den letzten Jahrzehnten nach (zwischen Gedichten der 1980er Jahre und solchen von heute liegen – – – Welten) – darunter, nicht zu vergessen, die drei brillanten Anthologien Blitzlicht. Kurzlyrik aus 1100 Jahren, Reißt die Kreuze aus der Erden! sowie Der Mond ist aufgegangen, in denen sich auch Gedichte aus alten Zeiten finden.
im vorderhaus ficken die pfirsiche legt Konstantin Ames im fulminanten Auftaktgedicht zu Versnetze_zwei gleich vehement los (es kommt noch toller), doch gleich auf der nächsten Seite schaltet Ulrike Almut Sandig in ihren sehr schönen Gedichten mehr als einen Gang zurück: eben noch radio gehört. du schaust geradeaus. der Motor macht leise geräusche. Während die Mehrzahl der Menschheit die Stubenfliege achtlos totschlägt, erweckt Rolly Brings sie in Musca domestica erst richtig zum Leben: ein dolles Ding. Bei Marianne Glaßer ist die Stille befahrbar. Franz Hodjak blendet mich mit grellem Neonlicht, jagt mir den dumpfen Lärm der Abrißbirne in die Ohren, bei Kathrin Schmidt lief eine zweifach gebeutelte asylwölfin durch die bildlichtung, bei Armin Steigenberger stehe ich im widerschein dahinbrausender endsilben.
Es ist also auch bei der Lektüre von Versnetze_zwei wie immer: Ich will eigentlich bloß ein paar Seiten anlesen und stelle Stunden später fest, daß ich noch nicht gefrühstückt habe. Kutsch hält, was er im Vorwort verspricht: Auch diese Anthologie bietet eine spannende Übersicht über Inhalte, Formen und Schreibweisen der facettenreichen aktuellen deutschsprachigen Dichtung quer durch die Generationen und Regionen. „Gedichte, die dem Bedürfnis nach Schlusszeilen bzw. Gedichtenden widerstanden“ (Uljana Wolf, Jahrbuch der Lyrik 2009) haben darin ebenso ihren Platz wie Texte, die in eine Pointe münden, das „klare“ Gedicht steht gleichberechtigt neben Poesie, die sich dem raschen Verstehen entzieht oder das eine oder andere Geheimnis nicht preisgibt.
NACH DEN WOLKEN: Die glänzenden
Maisfelder. Pfützen, Supermärkte.
Und das Lächeln der Poetin: Es ist
nicht normal, Gedichte zu lesen,
die man nicht versteht. Die Wolken
überholen die berge. Ein Parkhaus,
das Wort.
Peter Kapp
Ich habe die von Kutsch besorgten Sammelbände stets gern neben den von Christoph Buchwald ebenfalls seit Mitte der 1980er Jahre edierten Lyrikjahrbüchern gelesen. (Siehe hierzu auch das Kapitel Wir sammeln, bis uns der Tod abholt in Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000.) Die beiden Anthologisten unterscheidet u.a., daß Buchwald, bei aller Entdeckerfreude, insgesamt mehr auf die bereits bekannten, sogenannten arrivierten, in den Feuilletons gepriesenen und mit Preisen bedachten Autoren setzt, während Kutsch stets großen Wert darauf legt, in den abseits gelegenen Dörfern und Städtchen, Tälern und Hochlagen zu forschen, um auch den zurückgezogen lebenden originellen Autoren aus dem Hinterland eine Chance zu geben: Ich kann ein artig Lied davon singen …
Keine Zeit für Lyrik?
1983 – 2009 von Axel Kutsch edierte Sammelbände
Versnetze_zwei.Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart von 197 Autorinnen und Autoren, darunter Konstantin Ames, Joseph Buhl, Manfred Chobot, Richard Dove, Peter Ettl, Karin Fellner, Claudia Gabler, Simone Heembrock, Jürgen Israel, Angelika Janz, Matthias Kehle, Swantje Lichtenstein, Marie T. Martin, Gisela Noy, Irmhild Oberthür, Rolf Persch, Lothar Quinkenstein, Lars Reyer, Peter Salomon, Thien Tran, Beate Ünver, Günter Vallaster, Michael Wildenhain und Barbara Zeizinger, 318 Seiten, Broschur; Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2009.
Zu spät
Ach, wäre ich doch
gestern schon gestorben.
Heute hat ein Rezensent
mein Comeback verdorben.
Hans Bender
An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes von 106 Autorinnen und Autoren, darunter Michael Arenz, Jürgen Brôcan, Uwe Claus, Hugo Dittberner, Manfred Enzensperger, Tobias Falberg, Dieter M. Gräf, Manfred Peter Hein, Jürgen Israel, Angelika Janz, Christian Kreis, Stan Lafleur, Dieter P. Meier-Lenz, Andreas Noga, Lothar Quinkenstein, Arne Rautenberg, Walle Sayer, Marianne Ullmann, Olaf Velte, Norbert Weiß und Annemarie Zornack, 192 Seiten, Broschur, Edition Landpresse im Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2009.
Bewältigung
entschuldigens
wou is denn bidde
dä Adolf-Dürer-Platz?
Fitzgerald Kusz (Nürnberg)
Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik von 200 Autorinnen und Autoren, darunter Andreas Altmann, Horst Bingel, Crauss, Ulrike Draesner, Hans Eichhorn, Gerhard Falkner, Harald Gröhler, Franz Hodjak, Felix Philipp Ingold, Gerhard Jaschke, Thomas Kunst, Christoph Leisten, Frank Milautzcki, Jürgen Nendza, Irmhild Oberthür, Markus Peters, Hendrik Rost, Vera Schindler, Gabriele Trinckler, Günter Ullmann, Jürgen Völkert-Marten, A. J. Weigoni und Maximilian Zander; 328 Seiten, Broschur; Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2008.
park
der wollige schatten des pferds
auf dem fries
im kniehohen gras drunter
birnig gedanken
Heike Smets
* * *
Weiterführend → Lesen Sie auch die Gratulation von Markus Peters zum 70. Geburtstag auf KUNO. Eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch findet sich hier.
→ Die Redaktion blieb seit 1989 zum lyrischen Mainstream stets in Äquidistanz.
→ 1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie
→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie
→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.
→ 2023 finden Sie über dieses Online-Magazin eine Betrachtung als eine Anthologie im Ganzen.
→ Ein Rückblick: Die Editionen von 1983 bis 2022
- Versnetze_eins – Versnetze_15. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2008 – 2022.
- Fährten des Grauens. Deutschsprachige Grusel- und Horrorgedichte . 2021.
- An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes · 2009.
- 47 & 11. Echt kölnisch Lyrik · 2006.
- Spurensicherung. Justiz- und Kriminalgedichte · mit Amir Shaheen · 2005.
- Lunas kleine Weltrunde. Das Mondkarussell der Poesie · 2003.
- Zeit. Wort. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2003.
- Städte. Verse. Deutschsprachige Großstadtlyrik der Gegenwart · 2002.
- Blitzlicht. Deutschsprachige Kurzlyrik aus 1100 Jahren · 2001.
- Unterwegs ins Offene. Erste Gedichte aus einem neuen Jahrtausend mit deren Entstehungsgeschichten · mit Anton G. Leitner · 2000.
- Der parodierte Goethe. Neue Texte zu alten Gedichten · 1999.
- Reißt die Kreuze aus der Erden! Lyrik in den Zeiten der Revolution von 1848 · 1998.
- Das große Buch der kleinen Gedichte. Deutschsprachige Kurzlyrik der Gegenwart · 1998.
- Orte. Ansichten. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 1997.
- Jahrhundertwende. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 1996.
- Der Mond ist aufgegangen. Deutschsprachige Mondlyrik vom Barock bis zur Gegenwart · 1995.
- Zacken im Gemüt. Deutschsprachige Lyrik der 90er Jahre · 1994.
- Zehn. Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en · 1993.
- Wortnetze III. Neue deutschsprachige Lyrik · 1991.
- Wortnetze II. Neue deutschsprachige Lyrik · 1990.
- Wortnetze I. Neue deutschsprachige Lyrik · mit Michael Rupprecht · 1988.
- Lyrik 87 · 1987.
- Ortsangaben. Lyrik · 1987.
- Gegenwind. Neue Gedichte deutschsprachiger Autoren · 1985.
- Lebenszeichen 84. Lyrik · 1984.
- Keine Zeit für Lyrik? · 1984.
- Die frühen 80er. Lyrik und Prosa · 1983.