Kleine Visionen

Der Text, das Buch und die schöne Literatur im 3. Jahrtausend

Die Poesie, die sich als Kunst versteht, wird es gegen die Massenliteratur auch im dritten Jahrtausend so schwer haben wie bisher, aber sie wird sich behaupten. Echte Kunst wird gerade dann bessere Chancen haben und wieder mehr gesucht werden, wenn die Massenliteratur unüberblickbar wird. Die (von Autoren-Teams) lektorierten Bücher, die im Namen eines Pseudo-Autors herausgegeben werden, also reine (arbeitsteilige) Industrieproduktionen sind und Massenbedürfnisse befriedigen sollen, werden als Wegwerfware hergestellt. Daneben suchen genügend viele Leser die Bücher, die nicht nur einer Mode oder dem Zeitgeist entsprechen und billig Sensationen vermitteln oder erfinden. Das beweisen die vielen immer wieder und immer mehr entstehenden Literaturzeitschriften von kleinen Verlagen oder Autorengruppen, aber auch die vielen Gedicht-Anthologien größerer Verlage. Das gedruckte Wort bleibt primär, das Internet kommt hinzu, der Selektionsprozess wird komplexer, aber in mancher Hinsicht auch spannender. „Book on demand“ muss als Chance für finanzschwache Autoren oder Kleinverleger gesehen werden. Die Vielfalt der Themen, Stile und Textarten wird weiter zunehmen.

Die Poetik des 3. Millenniums

Kriterien für das, was die schöne oder hohe Literatur oder ein Gedicht sein soll, werden immer weniger formulierbar. Der Kunstbegriff weitet sich immer mehr. Die Theorie wird auch in Zukunft hinter den tatsächlich entstandenen Gedichten ‚praktischer Poetologen’ hinterherhinken. Poetologie wird immer ungültiger, sie wird von den Poeten selbst gesetzt und entwickelt. Das war eigentlich immer so. Der Dichter schert sich nicht viel um literaturhistorische, akademische Fragestellungen. Der Konsensualisierungsprozess für die Literatur, die sich durchsetzt, wird, auch im Bereich künstlerischer Belletristik, von immer mehr Menschen gesteuert oder begleitet. Es gibt heute viel mehr Experten als früher. Was ein Gedicht ist, bestimmt der Autor und der Leser, jeder für sich. Das dritte Millennium wird neben der Massenliteraturware zugleich die Emanzipation des absoluten Autors und des absoluten Lesers manifestieren. Anders gesagt: Die Industrie-Literatur provoziert, je stärker und massenhafter sie wird, ihren Selbstwiderspruch, ihre Antithese: Die Individual-Literatur der vielen Autoren, die sich den industriellen Schemata und Genres entziehen – wird auf eine wachsende Zahl von Menschen treffen, die den allzu simplen Kriterien der Massenkommunikation entrinnen wollen. Neuerungen werden auch in Zukunft von diesem Diskurs ausgehen, und nicht von der tautologischen Kommunikation in den Massenmedien. Die Kriterien, die für die Kunst gelten, werden stets von der kleinen Elite der Wachen und Phantasievollen, von denen, die das Neue tatsächlich machen, und zwar im vollen Bewusstsein eines möglichen (künstlerischen oder finanziellen) Scheiterns. Zu solchen Kriterien wird, wie bisher, gehören: Neuheit der Beziehungen unter den Wörtern, Spannung durch (teils unerwartete) Bezüge zu außersprachlichen Kontexten und zu den anderen Künsten, Klarheit bei höchster Komplexität der Struktur, Freiheit gewährende Lesesteuerungen, originäre Selbstreferenz des lyrischen oder epischen Ichs, und eben dadurch stilistische Individualität. Der Bezug zu unserer Zeit oder die Identifikation des Lesers mit den Stoffen und Themen solcher Literatur sollte immer eher indirekt, nie aufdringlich gegeben oder möglich sein, nicht im marktorientierenden Sinn, unbedingt in ethischer Verantwortung: Gerade die utopische Vision (mit uneingeschränkter Kritik der Gegenwart) unterscheidet gute Literatur von der schlechten industriellen Massenliteratur, welche überwiegend vordergründige Bedürfnisse befriedigen will, insofern falsch tröstet oder unterhält, anstatt die wirklichen, den Moment überdauernden Bedürfnisse der Menschen zu erwecken oder bewusster zu machen.

Das Charakteristische einer Poesie des Synkretismus im 3. Millennium

Wagner ist tot, es lebe das Gesamtkunstwerk! Die Oper, vielleicht die bedeutendste künstlerische Leistung, mit der sich abendländische Kultur von anderen Kulturen unterscheidet, ist nach wie vor eine geeignete Form für die Integration der Künste. Aber die Möglichkeiten für Werke der integrierten Künste sind noch lange nicht ausgeschöpft. Maurizio Kagels jetzt uraufgeführtes Werk „Entführung im Konzertsaal“ beweist: Sogar ein Orchester kann Theater erzeugen, konzertante Oper, visuelles Hörspiel, modernes Oratorium. Die Künste sind nicht mehr so klar abgegrenzt. Da Sprache zugleich Musik ist, bietet die konzertante Oper ein gutes Fundament für autonome Dichtung innerhalb eines größeren künstlerischen Zusammenhangs. Auch das Hörspiel lebt wieder auf, gerade weil es sich mit neuen musikalischen Formen verbündet, auf Klang und Musik der Sprache setzt und auf hörbar gemachtes Collagieren von Stimmen, Räumen, Zeitebenen, Perspektiven, Gedanken, Träumen, Textsorten, Kommunikationsarten, Kontexten und Sprachspielen im Sinne Wittgensteins.

Das dritte Millennium wird die Kontexte, in denen Sprache steht, weiter ausloten und wird neue Kunst-Formen finden. Sprechsprache wird aber konkurrieren mit den vielen anderen Sprachen, die unser Leben ausmachen, Körpersprache, wissenschaftliche Sprachen, die Sprachen der anderen Künste und die Zeichensysteme im Alltag der technischen Umwelt. Dies alles wird zu einer Explosion künstlerischen Findens und Empfindens führen. Auch hier wird die industrielle Warenkunst den Avantgardisten epigonal hinterherlaufen, und das ist vielleicht eines der wenigen, immer gültigen Gesetze in der Kunst.

Schriftsteller und Leser im Zeitalter neuer Medien und Reproduktionstechnik

Die vielen Literaturzeitschriften von kleinen Verlagen oder Autorengruppen zeigen, dass die Reproduktions-Maschinen der Industrie auch genutzt werden können vom Einzelnen, der sich der Massenwaren-Herstellung widersetzt. Ich glaube zwar nicht, dass die Kulturindustrie ihre Totengräber produziert. Aber die Möglichkeiten, den Selektionsprozess subtiler zu gestalten, wachsen. Die Autoren sind nicht mehr so abhängig von Kulturzaren, die Kunstkriterien doktrinär oder mäzenatisch bestimmten. Das moderne Kopiergerät ist der erste Fundamentstein eigener Verlagsfreiheit. Es ermöglicht aber natürlich auch die ganze Bandbreite schwacher Produktionen, die nur der Befriedigung der Eitelkeit dienen. Diese Produktionen sind leicht und schnell durchschaubar.

Aber wichtiger ist die Tatsache, dass heute viel mehr Menschen literarisch aktiv sind als früher. Dieser Prozess wird noch stark zunehmen und dazu führen, dass die literaturwissenschaftlichen Fächer an der Universität mit der Zeit umgestaltet werden, dass wissenschaftliche Analyse transzendiert wird von literarischer Synthese, also wissenschaftlich entfalteter Kreativität.

Die neuen Vervielfältigungsmaschinen mit Computersteuerung (auf der Grundlage von Textverarbeitungsprogrammen) ermöglichen bald die rentable Herstellung von kleinen Auflagen: Book on demand. Dann können auch kleinere Zeitschriften die Produktion selber in die Hand nehmen und genau den Bedürfnissen anpassen. Das Internet bietet recht bald darüber hinaus die Möglichkeit, kleinere Zeitschriften überregional selbst zu verlegen, als gedruckte Hefte oder als elektronisch übermittelte Texte. Natürlich ist die derzeitige Unübersichtlichkeit im Internet ein Gegenargument. Neue Kommunikationsformen und Verfahren für die Selektion sind zu (er)finden. Ich sehe für die Literatur mehr gute Chancen als Nachteile.

Der Erfolg der Literatur und der Diskurs der an der Kultur Beteiligten (bis hin zum Dialog zwischen Autor und Leser oder Leser und Leser) hängt letztlich nicht am gedruckten Wort, am Buch. Das Buch wird wahrscheinlich nie untergehen, aber die neuen Literaturmedien werden die Literatur bereichern. Keiner  kann jetzt schon im Einzelnen sagen, welche Wirkungen die neuen Medien auf die Sprache und die Formen der Literatur und die beschleunigte Integration aller Künste haben wird. Die negative Seite der neuen Kommunikation steht jetzt schon fest: Geschwätz. Die positive Seite aber wird mit Sicherheit im neuen Millennium auch geschrieben werden!

 

 

 

Ulrich Bergmann

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Ulrich Bergmann nennt seine essayistischen Alltagsbetrachtungen ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.