Ich versuche mit meinen Gedichten das zu sagen, was sich den Leitartikeln und dem programmatischen Reden entzieht, was aber als harte Realität nicht zu verleugnen ist. Gedichte schreiben ist für mich ein notwendiger Vorgang gegen jede Versimpelung und gegen das Sand-in-die-Augen-Streuen, gegen böswillig gesteuerte und genährte Denk- und Faktenverschiebungen und gegen uneingesehene, unreflektierte Vorurteile.
Walter Höllerer
Neben der wissenschaftlichen Arbeit veröffentlichte Walter Höllerer eigene Gedichte und Romane, verfasste Kritiken und Nachworte. 1954 gründete Höllerer mit der Zweimonatszeitschrift Akzente eines der wichtigsten literarischen Foren der Bundesrepublik. Ab 1954 nahm er an den Treffen der Gruppe 47 teil, einem losen Zusammenschluss junger deutschsprachiger Nachkriegsautoren. 1960 wurde er Mitglied des deutschen PEN-Zentrums (Bundesrepublik). In den frühen 1960er Jahren moderierte er Literatursendungen im Sender Freies Berlin. 1961 rief er die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter, 1963 das Literarische Colloquium Berlin ins Leben. Durch seine Tätigkeit als Herausgeber und Kritiker sowie als Lehrstuhlinhaber an der TU Berlin prägte Höllerer das geistige Leben einer ganzen Epoche mit. Robert Neumann kritisierte 1966 scharf Höllerers führende Rolle in der Gruppe 47 und im damaligen Literaturbetrieb.
Genau zwanzig Jahre nach Ende des Krieges erschien bei Rowohlt im Jahr 1965 erstmals Walter Höllerers „Theorie der modernen Lyrik“, nach Ralf Berhorst der Versuch wieder Anschluss an den poetologischen Diskurs der Moderne zu finden. Das Besondere an dieser Anthologie war, so Berhorst, dass sie nicht erst bei Baudelaire sondern mit den amerikanischen Dichtern wie Poe und Whitman einsetzte und dass sie ihr theoretisches Gerüst ausschließlich aus Reflexionen und Selbstzeugnissen der Dichter selbst bezog. Sechzig Dichter porträtierte der Band von damals, der mittlerweile ein wissenschaftshistorisches Dokument geworden ist und nun neu aufgelegt wird. Die beiden Herausgeber Norbert Miller und Harald Hartung haben die Ausgabe von 1965 überarbeitet und dankenswerterweise fortgeführt, schreibt Berhorst: 80 neue Einträge beinhalte der zweite Band, der bis in die Gegenwart reicht.
Die neuen Herausgeber Harald Hartung und Norbert Miller auf den neuesten Stand gebracht, der jetzt auch Thomas Kling oder Durs Grünbein mit einschließt – ebenso wie ein entschiedenes Plädoyer des einstigen Herausgebers Walter Höllerer für das „lange Gedicht“. Verschwunden sind Cocteau und Bataille, dazu kommen nun aber auch Mandelstam oder Yeats – der Umfang hat sich, so Bucheli, „fast verdoppelt“. Im Kern aber sei das Werk erhalten geblieben, auch die Struktur sei dieselbe: Ein Überblick über Leben und Werk des Dichters/der Dichterin und danach Poetologisches (meist in Ausschnitten).
In der Neuauflage lesen wir 140 Selbstauskünfte über das Dichten: bildhaft und theoretisch, einzelkämpferisch und richtungweisend, glühend und spielerisch. Zusätzlich ist jedem der Dichter ein bio-bibliographischer Artikel gewidmet, was diese beiden Bände nicht nur zu einer Fundgrube an schwer zugänglichen poetologischen Texten macht, sondern darüber hinaus zu einem praktischen Handbuch für alle, die sich für die literarische Moderne interessieren.
* * *
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.