Rückprojektion, Perlokution, Intention

1.

Als ein vom Arbeitsziel gebotenes Erfordernis werden bisweilen Begriffe, Äußerungen oder Texte rein als Begriffe, Äußerungen oder Texte betrachtet. Ohne internen oder gar externen kontextuellen Bezug, ganz unter lexikalischen, phonetischen, grammatikalisch-syntaktischen, semantischen, zeichentheoretischen oder anderen spezifischen Gesichtspunkten. Solange wir diese segmentierte Sichtweise nicht für bare Münze nehmen, sondern uns immer dessen bewusst sind, wie sich Sprache de facto ereignet, ist dagegen nichts einzuwenden, schließlich sprechen die Erkenntnisse der Einzeldisziplinen der letzten 200 Jahre eine mehr als beredte Sprache. Die Seinsweise der langue ist die parole. Die Sprache ist, so formulierte es Wilhelm von Humboldt prägnant, „in ihrem Wesen aufgefasst, (…) etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes (…). Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)“ (Humboldt 2008: 324). Darum liegt auch „die eigentliche Sprache in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens“ (ebd.: 325): Sprache ist Sprache im Moment des Gebrauchs, der sich im Rahmen eines strukturell dialogischen Konstrukts ereignet. Sie existiert nicht an einem geheimen Ort außerhalb der Menschen oder Menschheit, sondern nur in und durch uns: den Sprechern der natürlichen Sprachen. Das heißt, sie ist nur in dem Moment Sprache, wo sie von jemandem gesprochen oder geschrieben und von jemandem gehört, gelesen, rezipiert oder interpretiert wird[1]. Ist dies nicht der Fall, ist sie ein theoretisches Konstrukt, bestenfalls ein ungehörtes Geräusch oder ungesehenes Geklecks. Aber auch nicht mehr.

Der faktisch gegebene Sprachgebrauch vollzieht sich nicht im luftleeren Raum. Es handelt sich stets um einen Akt, der im situativen Kontext geäußert wird. Ein Akt, der nicht aus der Zeit gestanzt ist, sondern bei dem es ein Vorher und ein Nachher sowie strukturell stets Sprecher und Autoren sowie Angesprochene, Leser, Interpreten und Rezipienten gibt (auch wenn ich mit mir rede, rede ich strukturell mit jemandem). Ob nun alltagssprachlicher oder fachsprachlicher Sprachgebrauch: Solange ein Sprecher im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, äußert er sich stets mit Anlass und der Absicht, den Angesprochenen zu etwas zu bewegen (im weitesten Sinne dieses Ausdrucks). Dieses ‚zu etwas zu bewegen‘ ist das vorrangige Ziel jedes kommunikativen Aktes. Gemeinhin könnte man nun annehmen, dass es sich bei diesem Ziel um die Verständigung handelt. Dem ist aber nicht so. Entgegen unseres landläufigen Verständnisses von Kommunikation ist Verständigung gerade „nicht ‚der Zweck‘ der Sprache“ – „allenfalls einer unter vielen“ (Keller 2014: 135, Hervorhebung S.O.). Die Ziele, die wir in der Kommunikation verfolgen, sind oftmals ganz andere: Ich will jemanden überreden, belügen, täuschen, einschüchtern, von mir begeistern, ihn mir gewogen machen. Will, dass er seine Meinung ändert. Dass er mich für hochgradig intelligent oder ungeheuer attraktiv hält. Dass er mir das gibt, was ich haben will u.v.a.m. Dabei ist es natürlich so hilfreich wie zielführend, dass es zwischen dem Sprecher resp. Autor sowie dem Angesprochenen, Leser, Interpreten und Rezipienten hinsichtlich der konventionellen Bedeutung des Gesagten eine verständnissichernde Schnittmenge besteht, dass also nicht nur der Sprecher resp. Autor, sondern auch der Interpret um den aktuell in einer Sprachgemeinschaft allgemein akzeptierten Gebrauch der Worte ‚weiß‘[2]. Mit anderen Worten: dass er das Gesagte in diesem Sinne des Gebrauchs des Wortes verstehen versteht. Angenommen, mein Gesprächspartner gehört zur Volksgruppe der Tuwiner, die vornehmlich in Südsibirien und der Westmongolei beheimatet sind. Leider spricht er sowenig Deutsch wie ich Tuwinisch spreche. Spreche ich ihn trotzdem auf Deutsch an, so wird meine Absicht, ihn im Gespräch zu belügen, aus naheliegenden Gründen kläglich scheitern (Verstehen der konventionellen Bedeutung: verstehenB).

Ein anderer Gebrauch des Wortes verstehen begegnet uns im Kontext des handlungstheoretischen Grundmodells, das der britische Sprachphilosoph Herbert Paul Grice für den Fall des Meinens (und damit des Verstehen des Gemeinten: verstehenM) entwickelt hat[3]:

  1. Ich intendiere, dass du erkennst, dass ich mit meiner Äußerung a beabsichtige.
  2. Ich intendiere, dass du meine Intention (i.) erkennst.

iii. Ich intendiere, dass du erkennst, was ich mit meiner Äußerung a beabsichtige, indem du meine Intention (ii.) erkennst.

Da es sich hier nicht um Fälle konventioneller Bedeutung des Gesagten handelt, die der Angesprochene allein durch den Rekurs auf die verständnissichernde Schnittmenge verstehenB kann, muss dieser eine reflexive, das heißt interpretative Leistung erbringen, um den Gehalt der kommunikativen Intention (Sprecher-Intention), also das mit der Äußerung Gemeinte, die intendierte Wirkung (Sprecher-Bedeutung) verstehenM zu können. verstehenM heißt demnach: „alle [offenen] Intentionen des Sprechers erkennen“ (Keller 2014: 133). nicht verstehenM bedeutet, „nicht alle offenen Intentionen erkennen“ (ebd.: 133). Und missverstehenM, dass „dem Sprecher Intentionen unterstellt (werden), die dieser nicht gehabt hat“ (ebd.: 133). Nun ist es aber so, dass wir durchaus nicht alle „Intentionen, die wir beim Kommunizieren verfolgen, (auch) kommunizieren“ (ebd.: 134). Ja, manchmal beabsichtigen wir sogar geradezu, dass unsere Absicht, „auf die es beim Vollzug einer Äußerung besonders ankommt“ (ebd.: 135), gerade nicht erkannt resp. verstanden wird. So wie bei meinem tuwinischen Gesprächspartner. Ihn im Rahmen eines gewöhnlichen Sprechakts zu belügen kann mir nicht gelingen, weil er gewissermaßen die Bedingung der Möglichkeit, ihn belügen zu können, nicht erfüllt: Bei ihm liegt kein verstehenB vor. Ist dies nicht der Fall, kann es weder ein verstehenM noch ein missverstehenM oder ein nicht verstehenM geben. Zumindest letzteres wäre aber erforderlich, um in einem Sprechakt erfolgreich belogen werden zu können.

2.

Kehren wir zurück zum Anfang, zum „Gebrauch der Sprache“ (Austin 1979: 126). Ausgehend von Ludwig Wittgensteins gemeinhin ‚Gebrauchstheorie der Bedeutung‘ genannten Überlegungen war es der britische Sprachphilosoph John L. Austin, der sich in seinen 1955 als William James Lectures an der Harvard Universität gehaltenen Vorlesungen, 1962 auf Englisch unter dem Titel ‚How to do things with Words‘ (dt. Zur Theorie der Sprechakte) erschienen, erstmals systematisch dem Gebrauch der Worten statt ihrer Bedeutung widmete – dabei Wittgensteins Hinweis folgend: „Worte sind auch Taten“ (Wittgenstein 1977: 231, PU §546). Wenn wir etwas äußern, dann gibt es, so Austin in der 9. Vorlesung „eine Reihe von Dingen (…), die man mit einer Äußerung tut“ (Austin 1979: 126, Hervorhebung S.O.). Das erste, was wir tun, wenn wir etwas sagen, ist das, was Austin einen „lokutionären Akt“ (ebd.: 126) nennt. Dieser läuft „darauf hinaus, daß man einen Satz äußert und damit etwas Bestimmtes über etwas Bestimmtes sagt“ (ebd.: 126, Hervorhebung S.O.) – „das heißt ungefähr, daß die Äußerung im traditionellen Sinne ‚Bedeutung‘ hat“ (ebd.: 126, hier geht es um das Verstehen der [konventionellen] Bedeutung des Gesagten[4]: verstehenB). Austin differenziert nun diesen „lokutionären Akt des Sagens (…) weiter in den phonetischen Akt (er besteht im Äußern gewisser Laute), den phatischen Akt (er besteht im Äußern von Wörtern in einer grammatischen Konstruktion) und (…) den rhetischen Akt (man nimmt auf einen Gegenstand oder Sachverhalt Bezug und sagt etwas über ihn aus)“ (Liedtke 2016: 52).

Äußere ich den Satz ‚Der Wandel findet statt‘ (ebd.: 52), so vollziehe ich den lokutionären Akt des Sagens. Nun ist aber

  1. der Akt „daß man etwas sagt“ (ebd.: 117, Hervorhebung S.O.)
  2. von dem „Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt“ (Austin 1979: 117, Hervorhebung S.O.),

zu unterscheiden. Indem wir A., den lokutionären Akt des Sagens, vollziehen, vollziehen wir B., den illokutionären Akt. Die Lehre der „performance of an act in saying something as opposed to performance of an act of saying something“ (Austin 1962: 99) nennt Austin „die Theorie der verschiedenen Funktionen, die die Sprache unter diesem Aspekt haben kann“ (Austin 1979: 117): „the doctrine of ‚illocutionary forces‘“ (Austin 1962: 99, in der von dem deutschen Philosophen Eike von Savigny bearbeiteten deutschen Fassung wird ‚force‘ nicht mit ‚Kraft‘, sondern mit ‚Rolle‘ übersetzt). Wir vollziehen diese illokutionären Akte, indem „wir Äußerungen tun, die eine bestimmte (konventionale) Rolle spielen“ (ebd.: 117). Eine solche Äußerung ist „auf dreierlei Art mit Wirkungen verknüpft: das Verständnis sichern, wirksam sein und zu einer Antwort auffordern“ (ebd.: 134). Oder wie Austin an anderer Stelle sagt: Sie „muß verstanden werden, sie hat Ergebnisse und sie fordert zu Reaktionen auf“ (ebd.: 137). Werden diese Wirkungen nicht erzielt, „glückt der illokutionäre Akt nicht, wird er nicht erfolgreich vollzogen“ (ebd.: 133). Für die illokutionären Akt „gilt ausnahmslos, daß man sich für sie konventionaler Mittel bedienen muß“ (ebd.: 136, Hervorhebungen S.O.). Bei der dritten „Dimension des Gebrauchs“ (ebd.: 126) bedient man sich hingegen nicht-konventionaler Mittel. Es handelt sich dabei um „perlokutionäre Akte“ (ebd.: 126). Sie bringen wir

  1. dadurch zustande, daß wir etwas sagen“ (ebd.: 126)

Es sollen mit der Äußerung „gewisse Wirkungen erzielt werden“ (ebd.: 137, auch Searle 1983: 42). „Zum Beispiel kann ich jemanden durch Argumentieren überreden oder überzeugen, durch Warnen erschreckenoder alarmieren, durch Auffordern dazu bringen, etwas zu tun (…). Die in der Aufzählung kursiv gedruckten Ausdrücke bezeichnen perlokutionäre Akte“ (Searle 1983: 42, auch Austin 1979: 126). Die Wirkungen illokutionärer Akte werden – nach Austin – stets konventional erzielt, indem ich etwas sage: Ich bin befugt, Befehle zu erteilen. Wenn ich also befehle, hat der andere zu gehorchen – das Wissen um die Wirkung eines Befehls ist in der konventionellen Struktur des Befehls angelegt. Es mögen darüber hinaus noch bestimmte Intentionen seitens des Befehlenden vorliegen. Die aber spielen beim Vollzug des Befehls und bei dessen Verstehen keine Rolle. Wirkungen perlokutionärer Akte hingegen werden laut Austin nicht-konventional[5] erzielt. Und zwar dadurch, dass ich etwas sage: Ich erreiche durch Drohung „oder auch (…) durch außersprachliche Mittel“ (Austin 1979: 135), dass der andere mir gehorcht.

Nun bestehen die Sprachhandlungen („actions“, Austin 1962: 117), in der deutschen Übersetzung im Singular als der „perlokutionäre Akt“[6] notiert, in zwei verschiedenen Formen:

  1. „ein perlokutionäres Ziel erreich(en) (überzeugen, überreden)“ (Austin 1979: 134, Hervorhebung S.O., [„perlocutionary object“, Austin 1962: 117])
  2. „ein perlokutionäres Nachspiel erzeug(en)“ (Austin 1979: 134, Hervorhebung S.O., [„perlocutionary sequel“, Austin 1962: 117])

Sage ich etwas, so vollziehe ich in diesem Moment nicht nur eine Lokution sowie eine Illokution, sondern ich erziele dadurch, dass ich diese Äußerung mache, in der Regel bei dem anderen auch bestimmte wichtigeWirkungen[7] – bisweilen sogar „mit dem Plan, in der Absicht, zu dem Zweck“ (Austin 1979: 118), sie zu bewirken: „Saying something will often, or even normally, produce certain consequential effects upon the feelings, thoughts, or actions of the audience, or of the speaker, or of other persons: and it may be done with the design, intention, or purpose of producing them“ (Austin 1962: 101). Bei diesen ‚consequential effects‘ handelt es um die ‚perlocutionary sequel‘, das perlokutionäre Nachspiel. Werden nun diese ‚effects‘, geplant oder ungeplant, intendiert oder nicht intendiert, bezweckt oder nicht, dadurch erzielt, dass man die Äußerung macht, „(w)e shall call the performance of an act of this kind the performance of a perlocutionary act or perlocution“ (ebd.: 101).

Im Rahmen eines Diskurses kann zum Beispiel A intendieren, B durch eine brillante Argumentation von seiner Auffassung a zu überzeugen und darüber hinaus intendieren, ihn für sich einzunehmen. Nun kann es durchaus passieren, dass A mit diesem Sprechakt, einer Perlokution, sein intendiertes perlokutionäres Ziel verfehlt (B von a zu überzeugen), aber sein intendiertes perlokutionäres Nachspiel (B für sich einzunehmen) gelingt. Formal lässt sich der perlokutionäre Akt (im Rahmen einer Illokution und Lokution) also in etwa so ausdrücken:

A tut etwas, indem er B etwas sagt und intendiert, bei B dadurch eine ganz bestimmte Wirkung zu erzielen.

Mit der Perlokution kann A demnach „the design, intention, or purpose“ (Austin 1962: 101) verfolgen, ganz allgemein ausgedrückt, B zu etwas zu bewegen[8]. Also nicht nur, ihn zu überzeugen (perlokutionäres Ziel [„perlocutionary object“]), sondern auch ihn zu einer wie auch immer gearteten Reaktion zu bewegen (perlokutionäres Nachspiel [„perlocutionary sequel“]). Wobei für letzteres ja gilt: „it may be done with the design, intention, or purpose of producing them“ (Austin 1962: 101, Hervorhebung S.O.). Mit anderen Worten: Das ‚Nachspiel‘ der Perlokution kann ein ‚intendiertes‘, aber auch ein ‚nicht-intendiertes Nachspiel‘ sein.

3.

1969 veröffentlichte der britische Historiker und Politikwissenschaftler, Quentin Skinner, einen Aufsatz, in dem er die Angemessenheit der hermeneutischen Verfahrensweisen der etablierten Geschichtswissenschaft grundsätzlich in Frage stellte: ‚Meaning and Understanding in the History of Ideas‘. Darin verwies er gleich vier „gängige Prämissen der Ideengeschichte (…) ins Reich der Mythologien“ (Gallus 2019: o.S.):

  • „Die ‚mythology of doctrines‘ projiziere Lehren der Gegenwart in die Geschichte zurück und erzeuge Anachronismen. Noch schlimmer ist es, wenn der Historiker gleich von zeitlosen Fragen und Werten ausgeht (‚perennialism‘)“.
  • Die „mythology of coherence“ verführe dazu, „aus verstreuten Bemerkungen politischer Denker eine logisch geschlossene Theorie zu formen, mithin einen ebenso widersprüchlichen wie wandlungsreichen Denkprozess in ein Schema zu pressen“.
  • Zwei weitere Denkfehler, die „mythology of prolepsis“ und die der „parochialism“, zielen „auf die Konstruktion von historischer Kontinuität (…). Statt sich auf die Eigenlogik geschichtlicher Ideenwelten einzulassen, würden mit leichter Feder Vorwegnahmen von Späterem (…) schraffiert“ (alle Zitate: Gallus 2019: o.S.).

Wer als Geschichtswissenschaftler (und wer wollte Kunsthistoriker aus dieser Gruppe ausschließen?)Aussagen und Wortbedeutungen historischer Texte angemessen zu verstehen sucht, wer nicht in die Falle der Rückprojektion heutiger Denkmuster und Begriffe in die Vergangenheit tappen will, hatte nach Skinners Auffassung diese Denkfehler zu vermeiden, um den Anspruch seriöser wissenschaftlicher Hermeneutik erheben zu können. Aber auch wenn es, so Skinner, grundsätzlich niemals die gültige Interpretation eines Textes, also die verifizierte Feststellung der „vom Autor intendierte(n) Bedeutung eines Textes“ (Skinner 2009a: 7) geben kann, so muss doch „das hermeneutische Ziel der Bedeutungsexplikation, hier verstanden als Feststellung der auktorialen Intention“ (ebd.: 8), weiterhin als „Kern der hermeneutischen Aufgabe“ (ebd.: 17) bestehen bleiben:

„Um eine ernstgemeinte Äußerung zu verstehen, müssen wir nicht nur die Bedeutung des Gesagtenerfassen, sondern zugleich auch die beabsichtigte Kraft, mit der die Äußerung gemacht wurde“ (Skinner 2009b: 54, Hervorhebungen S.O.).

Die Probleme, die sich beim Versuch ergeben, die konventionelle Bedeutung vergangener Äußerungen zu verstehen, haben wir bereits an anderer Stelle ausführlich erörtert (Oehm 2020: 6 und 13ff.), sie sollen uns hier nicht interessieren. Wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang der Umstand, dass sich Skinner hier des Begriffs der ‚Kraft‘ bedient, mit der die Wörter gesagt werden resp. die Äußerung gemacht wird. Ein Begriff, den er explizit John L. Austin entlehnt, der die „‚illokutionären Rollen‘ [illocutionary forces]“ (Austin 1979: 117) als die Funktionen illokutionärer Akte identifizierte. Es gilt, so Skinner, bei historischen Texten nun „all die unterschiedlichen Kontexte (zu) untersuchen, in denen diese Wörter verwendet wurden – all die Funktionen, die diese Wörter haben können, all die unterschiedlichen Dinge, die man mit ihnen tun kann“ (Skinner 2009b: 57, Hervorhebung S.O.). Wenn wir Dinge mit Worten tun, so tun wir sie „überlegt und willentlich“ (Skinner 2009c: 66). Damit „kann die Verbindung zwischen der illokutionären Kraft der Sprache und dem Vollzug illokutionärer Handlungen – wie bei allen willentlichen Handlungen – nur in den Absichtendes Sprechers[9] liegen“ (ebd.: 66, Hervorhebung S.O.).

Wir müssen also anerkennen, so Skinner, „daß Texte (…) Autoren haben und daß Autoren über bestimmte Absichten verfügen, wenn sie Texte schreiben“ (ebd.: 82) – Derrida hin, Foucault her. Und weiter: „Jeder Kommunikationsakt beinhaltet eine Stellungnahme in bezug auf einen bereits bestehenden Gesprächs- und Argumentationskontext“ (ebd.: 78). Jede Rede, jeder Text ist demnach ein intentionaler Eingriff in einen Diskurs, bei historischen Texten also ein intentionaler Eingriff in die „allgemeinen diskursiven Kontexte ihrer Zeit“ (ebd. 81). Wir müssen deshalb nicht nur die Bedeutung des Gesagten und die illocutionary forcesverstehen – wir müssen auch die „in der Äußerung selbst bestehenden Interventionen“ (ebd.: 80) in bestimmte Diskurse in bestimmten Kulturen in bestimmten Epochen angemessen zu verstehen suchen. Um aber das tun zu können, um also „die (…) untersuchten Texte zurück in diejenigen kulturellen und diskursiven Kontexte zu stellen, in denen sie ursprünglich verfaßt wurden“ (ebd.: 88), müssen wir bestimmen, um welche ‚bestimmten Absichten‘ es sich handelt, die ein Diskursteilnehmer mit den ‚in der Äußerung selbst bestehenden Interventionen‘ verfolgt.

Worin besteht der Eingriff in den Diskurs? Was ist die ‚auktoriale Intention‘? Und was ist die über diese ‚auktoriale Intention‘ hinausgehende diskursive Absicht, die mit dem Eingriff verfolgt wird? A kann „eine Frage stellen oder beantworten; informieren, eine Versicherung abgeben, warnen; eine Entscheidung verkünden, eine Absicht erklären; ein Urteil fällen; berufen, appellieren, beurteilen; identifizieren oder beschreiben“ (Austin 1979: 116). Fälle wie diese bezeichnet Austin als ‚illokutionäre Akte‘, sie sind für ihn „konventional“[10] (ebd.: 137). Doch ist diese Beschreibung als Beschreibung eines Eingriffs in den Diskurs noch nicht hinreichend, sagt sie doch noch nichts über die diskursive Absicht aus, die A mit seinem Eingriff verfolgt – also über sein kommunikatives Ziel:

A beabsichtigt, dass mit seinem Eingriff in den Diskurs, also mit seiner Äußerung, bei B, C, D, E und PN „gewisse Wirkungen erzielt werden“ (ebd.: 137).

Nun kennzeichnet aber die Absicht von A, mit seiner Äußerung bei den Diskursteilnehmern B, C, D, E und PN bestimmte Wirkungen zu erzielen, für Austin keinen illokutionären, sondern vielmehr einen perlokutionären Akt (die im Gegensatz zu illokutionären Akten, so Austin, nicht konventional sind, cf. Austin 1979: 137). Mit Austin ließe sich also der Eingriff/die Intervention in einen Diskurs in etwa so beschreiben:

A beabsichtigt, dadurch bei B, C, D, E und PN bestimmte Wirkungen zu erzielen (perlokutionärer Akt),indem er das sagt/schreibt (illokutionärer Akt), was er sagt/schreibt (lokutionärer Akt).

Wie können wir uns nun die Struktur eines solchen intentionalen Eingriffs in einen Diskurs vorstellen? Und welches sind die wesentlichen Faktoren, die es dabei zu beachten gilt?

Die Diskursteilnehmer B, C, D und E haben sich zu einem bestimmten Thema geäußert, weitere Personen PN haben deren Beiträge zur Kenntnis genommen. A greift das Thema auf und äußert sich mit einer bestimmten Intention dazu (‚auktoriale Intention‘). Mit anderen Worten: A greift in den Diskurs ein, der in den gegebenen zeitgeschichtlichen, kulturellen, ethnischen, gruppenspezifischen, sprachlichen et al. Kontext eingebettet ist. Das perlokutionäre Ziel (perlocutionary object), das A mit seinem Eingriff verfolgt, ist es nun, bei den Diskursteilnehmern B, C, D, E und PN eine bestimmte Wirkung zu erzielen, sie also ‚zu etwas zu bewegen‘. So zum Beispiel, sie von seiner abweichenden Meinung zu überzeugen (dieses Momentum ‚zu etwas zu bewegen‘ ist, so haben wir gesehen, das vorrangige Ziel eines jeden kommunikativen Aktes [Keller 2014: 135]). Darüber hinaus kann der diskusive Eingriff von A auch noch perlokutionäre Nachspiele (perlocutionary sequels) erzeugen. Wobei es sich dabei sowohl um intendierte ‚perlokutionäre Nachspiele‘ als auch um nicht-intendierte‚perlokutionäre Nachspiele‘[11] bei den Diskursteilnehmern B, C, D, E und PN handeln kann (cf. Kap. 1, Ziele der Kommunikation).

Der perlokutionäre Akt kann nun, wie wir bereits bei Searle erfahren haben (cf. Kap. 2), durch gewisse Ausdrücke angezeigt werden. „Zum Beispiel kann ich jemanden durch Argumentieren überreden oder überzeugen, durch Warnen erschrecken oder alarmieren, durch Auffordern dazu bringen, etwas zu tun“ (Searle 1983: 42). Demnach handelt es sich bei Eingriffen in einen Diskurs strukturell nicht um eine Illokution, sondern vielmehr um eine Perlokution[12].

4.

Ein Diskurs[13] nimmt in der Reihe dialogischer Konstrukte eher die Rolle eines Exoten statt die des Normalfalls ein. Ein solcher Normalfall ist zum Beispiel das alltägliche Gespräch, heute sicherlich auch die eine oder andere Form geschriebener Mündlichkeit wie der E-Mail-Verkehr, WhatsApp, Twitter etc. Skinner definiert wie gesehen Eingriffe in Diskurse, und damit in dialogische Konstrukte überhaupt, als Vorgänge, bei denen „die Verbindung zwischen der illokutionären Kraft der Sprache und dem Vollzug illokutionärer Handlungen – wie bei allen willentlichen Handlungen – nur in den Absichten des Sprechers liegen“ (Skinner 2009c: 66, Hervorhebung S.O.) kann. Diese Absichten, die ein Sprecher/ein Autor mit dem Eingriff in ein dialogisches Konstrukt verfolgt, enden jedoch nicht mit dem Vollzug des illokutionären Aktes. Vielmehr zielen sie als diskursive Absichten darauf ab, bei anderen Gesprächsteilnehmern bestimmte Wirkungen zu erzielen: sie ‚zu etwas zu bewegen‘. Damit sind derartige Eingriffe als perlokutionäre Akte zu verstehen. Ihre kommunikative Funktion könnte, analog Austins Begriff der ‚illocutionary force‘, als perlocutionary force[14]bezeichnet werden: Indem diese perlocutionary force im Rahmen dialogischer Konstrukte darauf abzielt, den (potentiellen) Gesprächspartner zu einer Reaktion zu bewegen, sei es, dass er aufgemuntert (cf. Austin 1979: 149), zu einer Replik, Meinungsänderung o.ä. animiert wird, bleibt die perlocutionary force nicht beim Sprecher/Autor stehen, sondern konstituiert ein dialogisches Konstrukt durch die Einbindung des (potentiellen) Gesprächspartners, dessen mögliche Reaktion wiederum für den Sprecher/Autor oder andere potentielle Gesprächspartner ihrerseits Motivation zur Reaktion ist (ad infinitum). Dieses Konstrukt ist in der jeweiligen Synchronie in dem jeweiligen zeitgeschichtlichen, kulturellen, ethnischen, gruppenspezifischen, sprachlichen et al. Kontext eingebettet (ob dieser Eingriff nun ge- oder misslingt, also erfolgreich ist oder nicht, steht auf einem ganz anderen Blatt). Damit würde sich die perlocutionary force als treibende Kraft, als der entscheidende Impuls einer sich fortschreibenden Kommunikation erweisen: als Motor des dialogischen Konstrukts. Ohne sie würde er stottern und beizeiten stehenbleiben. Bis zu einem möglichen Zeitpunkt in der Diachronie, an dem ein Sprecher/Autor den Motor wieder anwirft. Und der Prozess aufs Neue beginnt.

Nun finden die Eingriffe in dialogische Konstrukte zwar jeweils in der jeweiligen Synchronie der jeweiligen kulturellen, ethnischen, gruppenspezifischen, sprachlichen et al. Kontexte statt. Doch mit Gadamer wissen wir ja um die eigentliche Pointe des Heidegger’schen Seinsgedankens: „Sein (ist) als Zeit zu denken“ (Gadamer 1978: 106). Sein ist geschichtlich, das Seiende findet sein Sein nur im Sein, das geschieht. Sein ist als Zeit also steter, gerichteter Fluss (und damit eben der Fluss, in den man nicht zweimal steigen kann[15]). Reine Dauer. Kontinuum. Es gibt demnach nichts, was innehält. Alles Seiende als Anwesendes ist nicht in einem in der Synchronie vermeintlich fixierten Zustand, sondern nur in der Diachronie. So gesehen ist auch die Vorstellung eines Eingriffs in dialogische Konstrukte in der Synchronie eines dieser eingangs erwähnten, vom Arbeitsziel gebotenen Erfordernisse. Genauer gesagt: Das Konzept ‚Synchronie‘ selbst ist ein solches Erfordernis. Tatsächlich läuft der von einer perlocutionary force getragene Prozess der Rede und Gegenrede als soziokultureller Prozess notwendig und einzig in der Diachronie ab: Es gibt de facto nur sie. Wie dieser Prozess nun abläuft und welche Resultate er zeitigt, haben wir an anderer Stelle[16] bereits ausführlich beschrieben: Soziokulturelle Phänomene sind „Einrichtungen, die in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durchführung eines menschlichen Plans“ (Keller 2014: 58) – „which are indeed the results of human action, but not the execution of any human design“ (Adam Ferguson 1767: 187; zitiert nach: Keller 2014: 85). Ein solches Phänomen ist die kollektive, weder intendierte noch geplante „kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“ (ebd.: 93). Eine Konsequenz eben jenes Wirkens der invisible hand, der unsichtbaren Hand[17], von der Adam Smith, in Anlehnung an Bernard Mandevilles bitterböser Bienenfabel, in seinem Werk ‚Der Wohlstand der Nationen‘ sprach (cf. Smith 1978: 371, cf. Oehm 2019b: 16).

Mit anderen Worten: In dem Prozess dialogischer Konstrukte, die in der jeweiligen Synchronie in den jeweiligen zeitgeschichtlichen, kulturellen, ethnischen, gruppenspezifischen, sprachlichen et al. Kontext eingebettet sind, vollziehen eine Vielzahl von Sprechern/Autoren individuelle Handlungen mit zumindest partiell ähnlichen Intentionen. Dieser Prozess wird von einer perlocutionary force getragen, die das vorrangige Ziel eines jeden kommunikativen Aktes beschreibt: den oder die anderen ‚zu etwas zu bewegen‘ (cf. Kap. 1). Die Sprecher/Autoren mögen ihn oder sie in den jeweiligen dialogischen Konstrukten nun zu allem Möglichen bewegen wollen und zudem alle möglichen weiteren Absichten verfolgen. Eine Absicht hat jeder Einzelne von ihnen in all seinen kommunikativen Akten jedoch ganz sicher nicht: die, die Sprache und mit ihr die Gebrauchsweisen der Worte zu wandeln (in unserem konkreten Fall: die Gebrauchsweisen des Wortes Kunst und die durch sie generierten Begriffe ‚Kunst‘). Aber dennoch werden die Worte, und mit ihnen die Sprache, im Gebrauch gewandelt: Dieser Wandel ist eine der beschriebenen kollektiven, weder intendierten noch geplanten kausalen Konsequenzen der intentional grundierten Sprechakte der Sprecher/Autoren. Eine Konsequenz, die wir jedoch im aktuellen Gebrauch der Sprache nicht bemerken, da dieser stets in der jeweiligen Synchronie stattfindet, während sich der Wandel in der Diachronie[18] ereignet.

So wie wir nun im Kollektiv die Sprache wandeln, so wandeln wir im Kollektiv alle soziokulturellen Phänomene[19]. Und mit ihnen alle Kontexte, in denen die Texte in bestimmten Kulturen in bestimmen Epochen verfasst werden, für die Skinner „das hermeneutische Ziel der Bedeutungsexplikation, hier verstanden als Feststellung der auktorialen Intention“ (Skinner 2009a: 8), als „Kern der hermeneutischen Aufgabe“ (ebd.: 17) ausgegeben hat. Nur verläuft aber der Wandel soziokultureller Phänomene und ihrer Kontexte nicht in idealtypischer Synchronizität, sondern asynchron. Versetzt. Rollierend. Von Epoche zu Epoche, von Kultur zu Kultur, von Sprachgemeinschaft zu Sprachgemeinschaft jeweils anders. Ja selbst innerhalb von Kulturen und Sprachgemeinschaften asynchron und versetzt. Unter solchen Umständen Skinners Maßgabe Folge zu leisten und „die (…) untersuchten Texte zurück in diejenigen kulturellen und diskursiven Kontexte zu stellen, in denen sie ursprünglich verfaßt wurden“ (Skinner 2009c: 88), ist ein schwieriges Unterfangen. Sowohl bei historischen als auch bei kunsthistorischen Texten, in denen im Rahmen der jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontexte über ‚Kunst‘ gesprochen wird. Aber es eröffnet sich uns so immerhin die Möglichkeit einer „ernsthafte(n) Auseinandersetzung mit unvertrauten Denkweisen“ (Skinner 2009c: 88) und Lebensformen, im Verlaufe derer wir „eine gewisse Distanz zu unseren eigenen Überzeugungen und Wertesystemen (…) gewinnen“ (ebd.: 88) und erkennen, „daß unsere eigenen Beschreibungen und Begriffe keineswegs zeitlos überlegen sind“ (ebd.: 88). Und das ist in Zeiten wie diesen vielleicht die erhebendste Einsicht, die sich nur denken lässt.

5.

Die bisherige Analyse bestätigt Skinners These, dass es eine gültige Interpretation eines Textes, eine verbindliche, verifizierte „Feststellung der auktorialen Intention“ (Skinner 2009a: 8) prinzipiell nicht geben kann, vollumfänglich. Diese These wird durch eine ganz Reihe weiterer Faktoren noch untermauert:

  1. Unsere Möglichkeiten, zu einer gültigen Explikation der ‚Bedeutung des Gesagten‘ bei etablierten und konventionellen Bedeutungen vergangener Begriffe und Äußerungen zu gelangen, sind schon aufgrund der nicht gegebenen sprachlichen Sozialisation in anderen Epochen begrenzt (analoges gilt bei Begriffen und Äußerungen in kulturellen Kontexten, in denen wir nicht sprachlich sozialisiert wurden). So besitzen wir kein internalisiertes Wissen um diese Bedeutungen vergangener Begriffe und Äußerungen (analog gilt: Wir besitzen auch kein solches Wissen um die Bedeutung der Begriffe und Äußerungen in anderen Kulturen.).
  2. Unsere Möglichkeit, zu einer gültigen Explikation der ‚Bedeutung des Gesagten‘ bei vergangenen singulären Gebrauchsweisen (Sprecher-Bedeutungen) zu gelangen, tendiert gen Null (wie groß mag da wohl die Möglichkeit zur verifizierten Feststellung bei vergangenen singulären Gebrauchsweisen anderer Kulturen sein?).
  3. Bei einem diskursiven Eingriff liegt nicht nur die ‚beabsichtigte Kraft‘ der Äußerung vor, in der Skinner Austins illocutionary force illokutionärer Akte sieht (die für Austin stets ‚konventional‘ sind). Es erfolgt dabei ein weiterer, nicht-konventionaler Sprechakt mit einer individuellen Intention des Sprechers: der mit perlocutionary force vollzogene perlokutionäre Akt (Austin trennt Illokutionen von Perlokutionen, indem er sagt, „daß illokutionäre Akte mit der Äußerung gegeben sind, perlokutionäre aber noch zusätzlich etwas verlangen“ [Austin 1979: 147, Hervorhebung S.O.]).
  4. Nur ein verschwindend geringer Teil der von Sprechern einer natürlichen Sprache im Laufe von Generationen gemachten Äußerungen erfolgt in schriftlicher Form. Bei dem überwiegende Teil unserer Äußerungen handelt es sich hingegen um mündliche Äußerungen. Diese haben jedoch keine Dauer, sie sind flüchtig, transitorisch. Das heißt: Es sind uns aufgrund fehlender technischer Möglichkeiten keine authentischen mündlichen Äußerungen aus den vergangenen Jahrhunderten überliefert. Bei den wenigen Überlieferungen mündlicher Äußerungen handelt es sich vielmehr um schriftliche Zeugnisse, die zum Teil bedeutend später und dann oftmals auch interessegeleitet[20] mit manipulativem Impetus niedergeschrieben wurden.

Ein weiterer Umstand erschwert eine, wenn schon nicht gültige, so doch gemäße ‚Feststellung der auktorialen Intention‘: Die intentionale Zielrichtung der diskursiven Eingriffe ist höchst divers. Bei manchen dieser Eingriffe sollen die Intentionen erkannt werden, bei anderen hingegen sollen sie unerkannt bleiben. Manche werden explizit intentional geäußert, manche implizit, manche sind dem Sprecher selbst gar nicht bewusst. Manchmal sind gleich mehrere Intentionen, die sich auf verschiedenen Ebenen bewegen, parallel im Spiel (ich intendiere: 1. verstanden zu werden; 2. zu überzeugen; 3. den Diskurs in eine andere Richtung zu lenken; 4. eine Begriffsdifferenzierung; 5. mich zu profilieren; 6. für sympathisch, attraktiv, intelligent gehalten zu werden u.v.a.m.), manchmal nicht. Manche Eingriffe ähneln eher ritualisierten Diskursformen, manche andere muten an wie eklatante Verstöße gegen „die Hypermaxime unseres Kommunizierens“ (Keller 2014: 142): „Rede so, dass du die Ziele, die du mit deiner kommunikativen Unternehmung verfolgst, am ehesten erreichst.“ (ebd.: 142). Ein solcher Fall kann m.E. dann eintreten, wenn es sich bei der Intention um die mit perlocutionary force vorgetragene Sprecher-Intention[21] handelt, wir also den Grice’schen Fall des Meinens vorliegen haben: Der jeweilige Diskurspartner ist gehalten, die singuläre Sprecher-Bedeutung zu erkennen. Das heißt: zu verstehen, was der andere mit der Äußerung meintG (cf. Oehm 2020: 13).

Solche intentional getriebenen dialogischen Konstrukte ereignen sich täglich überall. Und das eben nicht nur in dem für Historiker wie für Kunsthistoriker spezifischen Format, den historisch relevanten Texten, die nach Skinner zurück in diejenigen kulturellen und diskursiven Kontexte gestellt werden müssen, in denen sie ursprünglich verfasst wurden, damit deren hermeneutische Bedeutungsexplikation angemessen erfolgen kann und der Interpret nicht in die Falle der Rückprojektion heutiger Denkmuster und Begriffe in die Vergangenheit tappt: Diese dialogischen Konstrukte ereignen sich in allen möglichen nur denkbaren Formaten. Sie finden im Großen wie im Kleinen statt. Im weltpolitischen wie im wissenschaftlichen Diskurs. Im Gespräch unter Freunden in der Schwemme wie auch in der Familie. Oder im Wirtschaftsleben. In der Öffentlichkeit oder auch hinter verschlossenen Türen. Schriftlich per Mail, Messenger-Dienst, als Buch oder Zeitungsartikel, mündlich als Debattenbeitrag im Plenarsaal oder via Skype. Ja selbst zwischen Tür und Angel.

Mit anderen Worten: Die historisch diskursiv relevanten Texte, deren Bedeutungsexplikation ja Skinners hermeneutisches Ziel ist, bilden lediglich die Spitze der Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Nur ein Bruchteil vergangener Äußerungen ist unserer Kenntnisnahme und damit unserer Interpretationsmöglichkeit überhaupt zugänglich. Es gibt von ihnen kein Wissen, ja: es kann keines geben. Und wenn es von ihnen kein Wissen gibt (und geben kann), kann es natürlich auch kein Wissen von ihrem jeweiligen Anteil der Einflussnahme auf die diversen Diskurse, auf die Begriffsverwendung oder auch auf die Zuschreibung von etwas als etwas innerhalb der jeweiligen Synchronie geben. Das einzige, was sich mit halbwegs verlässlicher Sicherheit sagen lässt, ist, dass sich aus dieser Vielzahl ungenannter und unbekannter Äußerungen[22], die als perlokutionäre Sprechakte individuelle intentionale Handlungen sind, in der Vergangenheit in einem Prozess der unsichtbaren Hand kollektive, nicht intendierte, nicht geplante kausale Konsequenzen ergeben haben, so wie sich, von uns unbemerkt, gegenwärtig aus ihnen derartige Konsequenzen ergeben und aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft ergeben werden.

Kunsthistorisch resp. kunstphilosophisch von Interesse sind dabei insbesondere zwei dieser prozessualen Konsequenzen in der jeweiligen Synchronie: Zum einen die Etablierung der jeweiligen Begriffe ‚Kunst‘ innerhalb einer Sprachgemeinschaft, zum anderen die dort allgemein akzeptierte Zuschreibung eines Werks als Kunstwerk[23]. Will man sich einen halbwegs angemessenen Begriff von dem in der jeweiligen Synchronie etablierten Begriff ‚Kunst‘ machen, so muss versucht werden, ihn im Sinne Skinners zurück in diejenigen kulturellen und diskursiven Kontexte zu stellen, in dem er ursprünglich verfasst wurde. Denn im fortlaufenden Prozess des Wandels werden die Karten in der Diachronie beständig neu gemischt, betrifft dieser Wandel doch nicht nur den der Gebrauchsweisen des Wortes Kunst und der daraus generierten Begriffe ‚Kunst‘: Asynchron wandeln sich auch jedwede einflussnehmenden Kontexte, in die der Gebrauch der Sprache stets eingebettet ist. Mit anderen Worten: Es gibt keinen historisch stabilen Begriff ‚Kunst‘. Es gibt „lediglich eine Vielzahl von Aussagen von einer Vielzahl verschiedener Akteure mit einer Vielzahl verschiedener Absichten“ (Skinner 2009b: 58), also „nur eine Geschichte ihrer verschiedenen Verwendungsweisen und der verschiedenen hinter ihnen stehenden Absichten“ (ebd.: 58) – und damit auch eine der verschiedenen etablierten Gebrauchsweisen des Wortes Kunst und der daraus generierten Begriffe ‚Kunst‘.

Wer nun im Sinne Skinners einen kunsthistorischen Text und mit ihm den jeweils episodalen, zeitgeschichtlichen Begriff ‚Kunst‘ verstehen will, muss „sowohl die Absicht verstehen, die verstanden werden sollte, als auch die Absicht, daß diese Absicht verstanden werden sollte[24], die der Text als intentionaler Akt der Mitteilung beinhalten muß“ (ebd.: 60). Also das, was die jeweiligen Autoren „zu jener Zeit, in der sie für eine spezifische Leserschaft geschrieben haben (…) tatsächlich mit ihren Äußerungen mitzuteilen beabsichtigt haben“ (ebd.: 60). Dazu gehört aber, wie wir gesehen haben, über Skinners Konzept hinausgehend ganz wesentlich die mit perlocutionary force vorgetragene Sprecher-Intention, womit der Grice’sche Fall des Meinens beschrieben wird.

6.

Analoges gilt für die allgemein akzeptierte Zuschreibung eines Werks als Kunstwerk: Es gibt ‚nur eine Geschichte ihrer verschiedenen Zuschreibungen‘, das heißt: es gibt in der jeweilig episodalen Synchronie der Diachronie jeweils ‚eine Vielzahl von Zuschreibungen von einer Vielzahl verschiedener Akteure mit einer Vielzahl verschiedener Absichten‘, der ‚eine Vielzahl von Zuschreibungen von einer Vielzahl verschiedener Akteure mit einer Vielzahl verschiedener Absichten‘ folgt, der ‚eine Vielzahl von Zuschreibungen von einer Vielzahl verschiedener Akteure mit einer Vielzahl verschiedener Absichten‘ folgt. Episodales Ereignis folgt auf episodales Ereignis. Ad infinitum.

Diese Analyse lässt sich zumindest auf drei Ebenen der Zuschreibung von etwas als Kunst anwenden, die mit drei Ebenen der Gebrauchsweisen des Wortes Kunst korrespondieren (cf. Oehm 2019a: 10, auch: Oehm 2019b: 272). Im Einzelnen ist das die Ebene des Begriffs ‚Kunst‘

  1. als konkretes Kunstwerk
  2. als Stil und Medium (so in der Musik: Jazz, Rap, Klassik; Medien in der bildenden Kunst: Performance, Malerei, Fotografie)
  3. als Kunstgattung (z.B. Musik, bildende Kunst, Theater).

Insofern ist die Frage, was Kunst ist, auf diesen drei Ebenen der Zuschreibung und der entsprechenden Gebrauchsweisen des Wortes Kunst recht unromantisch zu beantworten: Es ist in der jeweiligen Synchronie das kollektive, weder intendierte noch geplante kausale Resultat einer Vielzahl zumindest partiell gleichgerichteter individueller intentionaler Sprachhandlungen im Rahmen eines je spezifischen zeitgeschichtlichen, kulturellen und diskursiven Kontextes. Kurz gesagt:

Kunst ist jeweils das, was in allgemeiner Übereinstimmung innerhalb einer Sprachgemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt x Kunst genannt wird[25].

Wenn Kunst also das ist, was episodal in einer Sprachgemeinschaft jeweils als Kunst gilt – wäre damit dann nicht auch jede Rede vom ‚Ende der Kunst‘ obsolet? Eine solche Rede zielt ja „auf die Konstruktion von historischer Kontinuität“ ab (Gallus 2019: o.S.). Denn wo es ein Ende gibt, muss es auch mal auch einen Anfang gegeben haben. Und der wird in der Regel nicht in der jeweiligen Synchronie verortet, sondern mit Vorliebe in der fernsten Vergangenheit abendländischer Kultur terminiert, die bei manchem sogar bis in die Höhlen von Altamira reicht. Dabei werden dann schon mal en passant gegenwärtig allgemein akzeptierte und etablierte Begriffe ‚Kunst‘ auf die Vergangenheit projiziert (es wäre zu zeigen, welche das im Einzelnen sind). In beiden Fällen befinden wir uns mitten im Reich der von Quentin Skinner ausgemachten Mythologien der Geschichtsschreibung. Erschwerend kommt noch der derzeit grassierende inflationäre Gebrauch des Begriffs ‚Kunst‘ hinzu, der selbst von ansonsten ausgewiesenen Kunstexperten befeuert wird – auch im Kontext dieser Rede vom Ende der … ja von was eigentlich? Florentin Schumacher greift in einer Kolumne für die F.A.S. auf diesen nicht erst seit Arthur C. Danto wieder ach so beliebten Hegel’schen Topos (Schumacher 2020: 34) angesichts des Einflusses der Künstlichen Intelligenz auf die Musik zurück, dabei die Popsängerin Grimes zitierend: „Ich glaube, wir befinden uns am Ende der Kunst, menschlicher Kunst.“

Nur haben wir es, wie gesehen, auf den Ebenen der Zuschreibung mit drei verschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes Kunst und damit mit drei verschiedenen Begriffen ‚Kunst‘ zu tun; an anderer Stelle haben wir mindestens vier weitere Gebrauchsweisen des Wortes Kunst identifiziert (cf. Oehm 2019a: 10, auch: Oehm 2019b: 272). Wenn wir also vom ‚Ende der Kunst‘ reden, müssen wir wissen, von welchem dieser (mindestens) sieben verschiedenen Begriffe ‚Kunst‘ wir eigentlich Gebrauch machen – und ob diese zu eruierende Gebrauchsweise eine der Gebrauchsweisen des Wortes Kunst ist, die wir bei der Zuschreibung dessen nutzen, was episodal jeweils als Kunst gilt. Oder ob wir hier zwar den gleichen Signifikanten Kunstvorliegen haben, aber jeweils über verschiedene Dinge reden, wenn wir über Kunst reden (cf. Oehm 2019b passim).

Spricht nun ein Hegelianer vom ‚Ende der Kunst‘, so referiert die Gebrauchsweise des Wortes Kunst zunächst nicht auf die Ebene individuellen Handelns (Mikroebene), sondern auf die der sozialen Institution (Makroebene). Und dort nicht auf die der episodalen Ereignisse sozialer Institutionen (z.B. der Stile oder Medien der einzelnen Künste), sondern auf die Ebene der allgemeinen sozialen Institution (Kunst als Oberbegriff aller künstlerischen Schöpfungen: ‚die Kunst‘). Diese Rede konkretisiert Hegel selbst mit Beispielen des Begriffs ‚Kunst‘, der sich auf der Ebene der spezifischen sozialen Institution befindet, das heißt der Ebene der einzelnen Kunstgattungen (Literatur, bildende Kunst, darstellende Kunst etc.), um in einem nächsten Schritt auf die Ebene individuellen Handelns überzugehen (Begriff ‚Kunst‘ bezogen auf das konkrete Werk – so z.B. auf Don Quijote, der Hegel zufolge den Schluss des Romantischen darstellt).

Von welchem Wort Kunst wird nun Gebrauch gemacht, wenn die kanadische Popsängerin Grimes und mit ihr Florentin Schumacher vom „Ende der Kunst, menschlicher Kunst“ spricht, das uns durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz dräut (der Text stellt, im Sinne Skinners, einen Eingriff in einen aktuellen Diskurs dar, der in den zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet ist)? Es hat zunächst den Anschein, als würde es sich hier um den Begriff ‚Kunst‘ handeln, der sich auf die Ebene der allgemeinen sozialen Institution bezieht (Kunst als Oberbegriff aller künstlerischen Schöpfungen: ‚die Kunst‘) – das legt das Zitat der Sängerin wie auch die Schlagzeile des Beitrags nahe. Nun ist aber im gesamten Text nur die Rede von einer Kunstform, der Musik (Ebene der spezifischen sozialen Institutionen, der einzelnen Kunstgattungen), dabei konkret von einem spezifischen episodalen Ereignis sozialer Institutionen (Stile oder Medien der einzelnen Künste, in diesem Fall: Rap) und, noch konkreter, von einzelnen musikalischen Werken bestimmter Musiker (Ebene individuellen Handelns). Was die Vermutung nahelegt, dass damit, pars pro toto, das Ende ‚der‘ Kunst am Beispiel der Kunstgattung ‚Musik‘ illustriert werden soll.

Wenn hier aber nun bei der Rede vom ‚Ende der Kunst‘ Gebrauch von der Gebrauchsweise des Wortes Kunst gemacht wird, die sich auf die allgemeine soziale Institution bezieht (Kunst als Oberbegriff aller künstlerischen Schöpfungen: ‚die Kunst‘), so handelt man sich damit mindestens eines jener Probleme ein, die Quentin Skinner beschrieb – die ‚mythology of doctrines‘. Oder, schlimmer noch, die ‚mythology of perennialism‘. Hier werden nicht nur Lehren der Gegenwart in die Geschichte zurückprojiziert und so Anachronismen erzeugt, hier geht man gleich von zeitlosen Fragen und Werten aus. Wie heikel das im Falle der Gebrauchsweise des Wortes Kunst als Oberbegriff aller künstlerischen Schöpfungen ist, zeigt sich daran, dass sich diese erst im Zuge der Etablierung der Ästhetik als eigenständige Disziplin während des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Vorher gab es ‚die Kunst‘ als Oberbegriff aller künstlerischen Schöpfungen schlicht nicht (cf. auch Schmücker 1998: 241).

Damit handeln wir uns gleich das nächste Problem ein. Denn die ästhetische Kernfrage, die Frage nach dem Wesen der Kunst – ‚Was ist Kunst? – referiert ja auf eben jene Gebrauchsweise als allgemeine soziale Institution, bei der es das Wort Kunst nur als nicht zählbares Substantiv, als mass noun gibt. Mithin kann diese Frage in dieser Form erst seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts gestellt werden. Schreiben wir beispielsweise Platon zu, sich Gedanken über das Wesen der Kunst gemacht zu haben, läge, ausgehend von dieser Gebrauchsweise, eine Rückprojektion heutiger Denkmuster und Begriffe in die Vergangenheit im Sinne Skinners vor. Doch damit nicht genug: Die Frage nach dem Wesen der Kunst korrespondiert mit der Frage nach der wesentlichen und damit gemeinsamen Eigenschaft aller Artefakte gleich welcher Entität, die diese, unabhängig von jedweder episodalen Zuschreibung, ewiglich als Kunstwerke auszeichnet. Eine Frage, die sich auf die Komprehension[26] aller Kunstwerke bezieht, das heißt auf die Menge aller möglichen (vergangenen, jetzigen und zukünftigen) Kunstwerke. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind beträchtlich:

  1. Die Komprehension umfasst offensichtlich auch den Zeitraum vor Etablierung des Begriffs ‚Kunst‘ als Oberbegriff aller Künste. Das heißt: Es muss behauptet werden, dass es diesen ‚Wesensbegriff‘ in gewisser Weise schon gab, bevor es ihn gab. Damit ginge die Behauptung einher, bei diesem Begriff ‚Kunst‘ würde es sich um einen Begriffstypus handeln, wie ihn der amerikanische Philosoph Hilary Putnam am Beispiel des Goldes beschrieben hat (cf. Oehm 2019b: 301): Gold war immer schon das, was heute atomar, physikalisch und chemisch als Gold definiert wird (und wird es immer bleiben). Unabhängig davon, was in der Vergangenheit jemals als Gold beschrieben oder wie Gold auch immer in den verschiedenen Sprachen benannt wurde (ein anderes Beispiel ist: ‚Primzahl‘).
  2. Die Komprehension umfasst zudem die Menge aller Kunstwerke aller Künste. Also nicht nur der bildenden Kunst, sondern auch aller anderen Künste. Genauer gesagt: aller Künste, die in der Vergangenheit als Kunst galten, in der Gegenwart als Kunst gelten und in der Zukunft als Kunst gelten werden.

Wenn also die traditionelle Ästhetik vom ‚Wesen der Kunst‘ spricht, müsste sie diese Konsequenzen akzeptieren. Und wenn die analytische Ästhetik behauptet, der Begriff der Kunst ließe sich nicht definieren, so würde diese Behauptung die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es ‚die Kunst‘ gibt und es zumindest eine hypothetische Chance auf eine Definition in ferner Zukunft gibt. Wenn es aber, wie ich geneigt bin anzunehmen, ‚die Kunst‘ gar nicht gibt, bestenfalls Künstler, Künste und Kunstwerke[27], die einer episodalen Bestimmung und Zuschreibung in den jeweiligen Kontexten der jeweiligen Synchronie unterliegen (zu beachten ist zudem, dass der gesamte hier verhandelte Begriffskosmos ‚Kunst‘ eurozentrisch, das heißt abendländisch grundiert ist), so stellt sich die Frage, ob sich dieser Begriff ‚Kunst‘ nun definieren oder nicht definieren lässt, gar nicht.

 

 

***

Was gibt es in der Kunst zu „verstehen“?, Rigorose Reflexionen zum Kunstbegriff von Stefan Oehm.  Königshausen & Neumann, 2021

Die inflationäre Verwendung des zentralen Terminus technicus im Kunstdiskurs geht mit einer befremdlichen sprachlichen Sorglosigkeit einher. Keiner der Beteiligten nimmt eine systematische Begriffsdifferenzierung vor, um sicherzustellen, dass alle wissen, worüber sie reden, worüber sie miteinander reden und worüber der Andere redet. Wie kann ein Verstehen gewährleistet sein, wenn nicht dieses Wissen gewährleistet ist? Über welchen Begriff ›verstehen‹ reden wir in der Kunst? Geht es in der Kunst überhaupt darum, etwas zu verstehen oder verstehen zu geben? Die hier vorliegenden fünf Aufsätze widmen sich einigen grundsätzlichen Überlegungen, um von diversen liebgewonnenen Topoi Abschied zu nehmen. Helfen werden Gedanken des Ethnologen Clifford Geertz, den sein Unbehagen an der mangelnden begrifflichen Präzision deutender Ansätze zum Konzept der ›Dichten Beschreibung‹ führte. Des Weiteren jene des Historikers Quentin Skinner, der den Mythen der Rückprojektion bestehender Konzepte in die Vergangenheit und historischer Kontinuitäten Einhalt bot. Und nicht zuletzt des Anthropologen Michael Tomasello, der die Infrastruktur geteilter Intentionalität als Basis menschlicher Kommunikation und kooperativen Handelns identifizierte – die Basis dessen, was wir so gerne Kunst nennen.

Weiterführend →

KUNO würdigte das Buch Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? von Stefan Oehm mit einem Rezensionsessay. – Eine Leseprobe finden Sie hier.

Literatur:

Austin, John L. (1979): Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart: Reclam Verlag.

Austin, John L. (1962): How to do things with Words‘, London: Oxford University Press. Online unter: https://pure.mpg.de/rest/items/item_2271128_6/component/file_2271430/content, zuletzt abgerufen am 27.02.2020)

Elias, Norbert (1976): Über den Prozess der Zivilisation, Zweiter Band, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Ferguson, Adam (1767/1904): An Essay on the History of Civil Society, Edinburgh.

Fuchs, Thomas (2020): Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie, Frankfurt a. M.: Verlag Suhrkamp.

Gadamer, Hans-Georg (1978): Zur Einführung, in: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart: Reclam Verlag.

Gallus, Alexander (2019): Die Schule von Cambridge – Wort, Satz und Sieg, Frankfurter Allgemeine Zeitung (https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/quentin-skinner-und-die-schule-von-cambridge-16480789.html, zuletzt abgerufen am 29.01.2020)

Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Dichte Beschreibung – Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Gombrich, Ernst H. (o.J., um 1955): Die Geschichte der Kunst, London – Köln – Berlin: Phaidon Press Ltd. / Verlag Kiepenheuer, Witsch & Co. Grice, Herbert Paul (1957/1979): Intendieren, Meinen, Bedeuten. in: Georg Meggle (Hrsg.), Handlung Kommunikation Bedeutung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Grice, Herbert Paul (1968/1979): Sprecher-Bedeutung, Satz-Bedeutung, Wort-Bedeutung. in: Georg Meggle (Hrsg.), Handlung Kommunikation Bedeutung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Grice, Herbert Paul (1972-73/1979): Sprecher-Bedeutung und Intentionen. in: Georg Meggle (Hrsg.), Handlung Kommunikation Bedeutung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Heinz, Marion/Ruehl, Martin (2009): Nachwort, in: Quentin Skinner, Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

Hofmann, Werner (21980): Es gibt keine Kunst, es gibt nur Künste, in: Werner Hofmann, Gegenstimmen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Hofmann, Werner (1977): KUNST – was ist das?, Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, Köln: DuMont Buchverlag. Humboldt, Wilhelm von (2008): Schriften zur Sprache, Frankfurt a. M.: Zweitausendeins.

Keller, Rudi (42014): Sprachwandel, Tübingen: A. Francke Verlag.

Keller, Rudi (22018): Zeichentheorie, Tübingen: UTB/A. Francke Verlag.

Liedtke, Frank (2016): Moderne Pragmatik, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag.

Lüdeking, Karlheinz (1998/1988): Analytische Philosophie der Kunst, München: UTB/Wilhelm Fink Verlag. Mandeville, Bernard de (2012): Die Bienenfabel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

Oehm, Stefan (2019a): Entwurf einer grundsätzlichen Erörterung des Begriffs ‚Kunst‘, in: Mythos Magazin (http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/so_kunst.htm)

Oehm, Stefan (2019b): Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden?, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann.

Oehm, Stefan (2020): Kunst – ein Konstrukt der Rückprojektion (unveröffentlichtes Manuskript).

Reckwitz, Andreas (32019): Das Ende der Illusionen – Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Schmücker, Reinold (1998): Schleiermachers Grundlegung der Kunstphilosophie, in: Dieter Burdorf/Reinold Schmücker (Hg.), Dialogische Wissenschaft – Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag.

Schmücker, Reinold (2001): Funktionen der Kunst, in: Bernd Kleimann/Reinold Schmücker (Hg.), Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Schmücker, Reinold (22014): Was ist Kunst? Eine Grundlegung, Frankfurt a. M.: Verlag Vittorio Klostermann.

Schumacher, Florentin (2020): Ende der Kunst?, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23. Februar 2020, Nr. 8. Searle, John R. (1983): Sprechakte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Skinner, Quentin (2009a): Über Interpretation, in: Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

Skinner, Quentin (2009b): Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte, in: Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

Skinner, Quentin (2009c): Interpretation und das Verstehen von Sprechakten, in: Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

Smith, Adam (1978): Der Wohlstand der Nationen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Tomasello, Michael (42017): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Wittgenstein, Ludwig (1977): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

[1] Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs geht, in Abgrenzung der menschlichen von der künstlichen Intelligenz, noch einen Schritt weiter: „Information gibt es nur dort, wo jemand etwas versteht – also Nachrichten als Nachrichten, Zeichen als Zeichen auffasst. Informationen gibt es nur für bewusste Lebewesen beziehungsweise für Personen“ (Fuchs 2020: 22; genau genommen müsste es also sogar heißen: ‚wo jemand etwas als etwas versteht‘). Bewusstsein ist notwendig, „um in Strukturen und Mustern der Welt überhaupt erst so etwas wie Informationen zu sehen“ (ebd.: 23). Und weiter: „Die Vernachlässigung des Beobachterstandpunktes ist (…) eine unheilbare Krankheit des Szientismus“ (ebd.: 23).

[2] Dieses Wissen darf nicht als explizites Wissen missverstanden werden, also eines Wissens, um das ich weiß. Es handelt sich um ein implizites Wissen, das sich darin äußert, dass mein Gebrauch deckungsgleich ist mit dem derzeit allgemein akzeptierten, mithin also konventionellen Gebrauch einer Sprachgemeinschaft.

[3] Die „Bedeutung (kann) nicht gleichgesetzt werden mit dem, was ein Sprecher von Fall zu Fall meint“ (Keller 2014: 88): Bei ersterem handelt es sich um die konventionelle Bedeutung (verstehenB), bei letzterem um die Sprecher-Bedeutung (verstehenM).

[4] Den strukturellen Prozess der Bedeutungsetablierung auf Basis des handlungstheoretischen Grundmodells von H. Paul Grice haben wir, ausgehend von verstehenM hin zu verstehenB, an anderer Stelle ausführlich erörtert (cf. Oehm 2019a: 36, auch: Oehm 2019b: 6).

[5] Wenn perlokutionäre Akte nicht-konventionale Akte sind, kann der Diskursteilnehmer nicht auf ein etabliertes Verständnis zurückgreifen, sondern muss, um sie zu verstehen, die jeweiligen singulären Sprecher-Intentionen verstehen. Wendet der Sprecher/Autor diese Strategie nun regelmäßig an und wird diese Anwendung von anderen Diskursteilnehmern goutiert und übernommen, schlagen wir geradewegs den Weg zur Etablierung und Konventionalisierung des Gebrauchs ein. Damit würde aus diesem perlokutionären Akt gegebenenfalls ein illokutionärer Akt – und aus der Sprecher-Intention resp. Sprecher-Bedeutung eine konventionelle Bedeutung. Wäre das der Fall, läge hier eine mögliche Verbindung der Austin’schen Sprechakttheorie, der Grice’schen Sprachhandlungstheorie sowie der Keller’schen Theorie des Sprachwandels (die eine der Bedeutungsetablierung impliziert) vor.

[6] Die von Savigny betreute Übersetzung scheint mir an dieser Stelle ganz und gar nicht schlüssig, ja zum Teil sogar sinnentstellend zu sein: „Damit sind illokutionäre Akte auf dreierlei Art mit Wirkungen verknüpft: das Verständnis sichern, wirksam sein und zu einer Antwort auffordern; und diese unterscheiden sich allesamt vom Hervorbringen von Wirkungen, wie es für den perlokutionären Akt charakteristisch ist. Der perlokutionäre Akt besteht entweder darin, daß ein perlokutionäres Ziel erreicht (überzeugen, überreden) oder ein perlokutionäres Nachspiel erzeugt wird. Z.B. kann der Akt, jemanden zu warnen, sein perlokutionäres Ziel erreichen, ihn auf die Gefahr aufmerksam zu machen, und auch das perlokutionäre Nachspiel haben, ihn aufzuregen“ (Austin 1979: 134). Im englischen Original heißt es jedoch: „So here are three ways in which illocutionary acts are bound up with effects; and these are all distinct from the producing of effects which is characteristic of the perlocutionary act. We must distinguish actions which have a perlocutionary object (convince, persuade) from those which merely produce a perlocutionary sequel. Thus we may say ‚I tried to warn him but only succeeded in alarming him‘. What is the perlocutionary object of one illocution may be a sequel of another“ (Austin 1962: 117). Es bedürfte einer eigenen Analyse, die Ungereimtheiten im Detail auszuarbeiten. Hier sollen nur stichwortartig einige wesentliche Differenzen genannt werden: 1. Savigny gibt Beispiele für die drei Arten der Wirkungen illokutionärer Akte, wo es Austin nicht tut. 2. Austin benennt nicht die Sprachhandlung, die einmal ein ‚perlocutionary object‘ hat, einmal „merely produce a perlocutionary sequel‘. Savigny hingegen identifiziert sie als perlokutionären Akt. Was mir aber in dieser vermeintlichen Eindeutigkeit sehr zweifelhaft erscheint, spricht doch Austin im weiteren Verlauf nicht nur von ‚a sequel of a perlocutionary act‘ sondern auch von dem ‚perlocutionary object of one illocution‘ wie auch von der ‚sequel of an illocution‘. Das heißt: Wenn Austin von der Notwendigkeit spricht, ‚actions‘ zu unterscheiden, so ist diese Formulierung m.E. ganz bewusst gewählt. In der 8. Vorlesung schreibt er: „There is yet a further sense (C) in which to perform a locutionary act, and therein an illocutionary act, may also be to perform an act of another kind“ (Austin 1962: 101, gemeint ist hier der ‚perlocutionary act‘). Austin meint mit ‚actions‘ demnach die Sprachhandlungen als solche, bei der neben dem lokutionären Akt und dem illokutionären Akt ‚may also be to perform an act of another kind‘: der perlokutionäre Akt. 3. Savigny sagt, dass die Sprachhandlung entweder darin besteht, dass ein perlokutionäres Ziel erreicht oder ein perlokutionäres Nachspiel erzeugt wird (exklusives Oder). Davon steht bei Austin aber nichts. Er unterscheidet Sprachhandlungen „which have a perlocutionary object from those which merely produce a perlocutionary sequel“. Das heißt: Es gibt Handlungen, die ‚merely‘ eine ‚perlocutionary sequel‘ erzeugen, aber kein ‚perlocutionary object‘ haben (nicht: ‚erreichen‘) – und es gibt solche, die ein ‚perlocutionary object‘ haben und auch ‚a perlocutionary sequel‘ erzeugen.

[7] Auch hier ist die Bearbeitung von Savigny in gewisser Weise tendenziös: Der Ausdruck, den Austin verwendet, lautet „certain consequential effects“, also ‚gewisse/bestimmte wichtige Wirkungen‘ (Hervorhebungen S.O.). In der deutschen Übersetzung wird aus unerfindlichen Gründen das ‚wichtige‘ unwichtig. Und entfällt. So heißt es dort dann nur noch recht lapidar „gewisse Wirkungen“ (Austin 1979: 118).

[8] Dieses immanente Ziel der Perlokution beschreibt das, was Keller als das vorrangige Ziel eines jeden kommunikativen Aktes identifiziert hat (Keller 2014: 135). Die Vermutung liegt nahe, dass es sich dabei um etwas handelt, was man den grundlegenden Impuls für Beginn und Fortführung eines jedes dialogischen Konstrukts nennen könnte (cf. Kap. 4).

[9] Austins Theorie ist nicht allein eine Theorie der ordinary language, der normalen Sprache, sie ist auch eine der Sprechakte. Dabei bezieht sich Austin der Einfachheit halber zunächst einmal nur auf die gesprochene, nicht auf die geschriebene Sprache – „(s)till confining ourselves, for simplicity, to spoken utterance“ (Austin 1962: 113). Nun sind aber Historikern in der Regel nur Textezugänglich, also schriftliche Zeugnisse vergangener Äußerungen und Aussagen. Wohl deshalb bedient sich Quentin Skinner an dieser Stelle einer kleinen Behelfskonstruktion und definiert, so Marion Heinz/Martin Ruehl in ihrem Nachwort zu dessen Aufsatzband ‚Visionen des Politischen‘, diese Texte als eine Form „‚erstarrter Sprechhandlung‘ (frozen speech)“ (Heinz/Ruehl 2009: 271).

[10] Skinner sagt aus für mich nicht ganz nachvollziehbaren Gründen, dass Austin „davon auszugehen schien, daß das Verständnis illokutionärer Akte (…) fest etablierte sprachliche Konventionen voraussetzt, daß diese Konventionen, und nicht die Absichten der Sprecher, letztlich für die Bestimmung illokutionärer Akte entscheidend sind“ (Skinner 2009c: 67, Hervorhebung S.O.). Soweit ich es beurteilen kann, äußert sich Austin, zumindest im Rahmen der unter dem Titel ;How to do things with Words‘ herausgegebenen Vorlesungen, völlig unmissverständlich: Für die illokutionären Akt „gilt ausnahmslos, daß man sich für sie konventionaler Mittel bedienen muß“ (ebd.: 136, Hervorhebungen S.O.).

[11] Was nun perlokutionäres Ziel, was intendiertes perlokutionäres Nachspiel und was nicht-intendiertes perlokutionäres Nachspiel ist, lässt sich vermutlich nur im Einzelfall, von singulärem diskursiven Eingriff zu singulärem diskursiven Eingriff entscheiden: Wann ist es mein intendiertes ‚object‘, jemanden zu überzeugen, zu belügen, zu täuschen, einzuschüchtern, zu ängstigen, von mir zu begeistern, gegen mich aufzubringen, mir gewogen zu machen, wann meine intendierte ‚sequel‘, wann eine nicht-intendierte ‚sequel‘?

[12] Zu Beginn seines Aufsatzes ‚Interpretation und das Verstehen von Sprechakten‘ (Skinner 2009c: 64ff.) geht Skinner explizit auf Austins These ein, dass ich einerseits Dinge mit Worten tun kann, indem ich sie sage (Illokution) und dass ich andererseits bestimmte Wirkungen dadurch erzielen kann, dass ich etwas äußere (Perlokution). Im Folgenden geht er jedoch, warum auch immer, darauf nicht weiter ein und subsumiert stattdessen alle Aspekte unter den Begriffen ‚illokutionärer Akt‘ und ‚illokutionäre Kraft‘. So bei dem Akt des Warnens, der „erst aufgrund der vielschichtigen Absichten, die in seinen Vollzug eingehen, zu einem Akt des Warnens“ (Skinner 2009: 71) wird. Nur heißt aber zum Beispiel „durch Warnen erschrecken oder alarmieren“ (Searle 1983: 42) nicht, einen illokutionären Akt vollziehen, sondern einen perlokutionären Akt.

[13] Hier hat Skinner neben konkreten historischen Diskursen auch die „allgemeinen diskursiven Kontexte“ (Skinner 2009: 81) der jeweiligen Zeit im Auge.

[14] Skinner gibt an, dass bereits Austin „zwischen der illokutionären und der perlokutionären Kraft von Aussagen“ (Skinner 2009c: 65) unterscheidet. Dies ist meines Wissens nicht der Fall, zumindest nicht in Lecture IX, die Skinner als Referenz angibt (Austin 1962: 108ff.). In Lecture VIII spricht Austin lediglich von der „doctrine of the different types of function of language (…) as the doctrine of ‚illocutionary forces‘ (Austin 1962: 99, Hervorhebung S.O.). An der Stelle, die Skinner zitiert (Austin 1962: 108), spricht Austin hingegen von dem „locutionary act“ und dem „illocutionary act“, den wir vollziehen, letztere sind „utterances which have a certain (conventional) force“ (ebd.: 108). Es hadelt sich dabei also um eine ‚illocutionary force‘. „Thirdly, we may also perform perlocutionary acts“ (ebd.: 108). Von einer perlocutionary force ist hingegen nicht die Rede.

[15] Das ist auch der Grund dafür, warum wissenschaftliche Experimente im strengen Sinne nicht unter exakt gleichen Bedingungen wiederholbar sind.

[16] Stefan Oehm (2019b): Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden?; auch: Stefan Oehm (2019a): Entwurf einer grundsätzlichen Erörterung des Begriffs ‚Kunst‘, in: Mythos Magazin (http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/so_kunst.htm).

[17] Der Soziologe Andreas Reckwitz charakterisiert die Spätmoderne als eine Gesellschaft der radikalisierten Singularitäten. Mit der gesellschaftlichen Aufwertung des Singulären, Besonderen, Einzigartigen (zu der auch die gegenwärtig zu beobachtende Exaltierung des Status der Artefakte gehört, die im Rahmen des Kunstmarktes so gerne als ‚Kunstwerke‘ apostrophiert werden) geht eine Abwertung des Standardisierten und Funktionalen einher. „Die allseitige Singularisierung des Sozialen erzeugt also unter gegenwärtigen Bedingungen unweigerlich und systematisch strukturelle Asymmetrien und Disparitäten“ (Reckwitz 2019: 22). Und eben diese sind als soziokulturelle Phänomene „ganz überwiegend weder geplant noch bewusst herbeigeführt worden, sondern das, was Soziologen nichtintendierte Handlungsfolgen nennen“ (ebd.: 19). Was also unter dem Namen ‚invisible hand‘ als Beschreibung des Sachverhalts im Kontext kunsthistorischer oder kunstphilosophischer Betrachtungen so befremdlich anmutet, ist in der Soziologie ein alter Hut, ein längst bekanntes und beschriebenes Phänomen (cf. Elias 1976: 313ff., auch ebd.: 477). Wer wollte sich da den Erkenntnissen anderer Disziplinen verweigern und hinter ihnen zurückfallen?

[18] Es gibt einen Zeitraum verständnissichernder „diachronischer Identität“ (Keller 2014: 132). So vermittelt sich uns, die stets in der jeweiligen Synchronie kommunizieren, der Eindruck einer Bedeutungskontinuität, wo in Wahrheit schleichender Wandel herrscht. Diese ‚diachronische Identität‘ umspannt in der Regel die parallel lebenden und miteinander im Rahmen kooperativer Prozesse geteilter Intentionalität (Tomasello) kommunizierenden Generationen – also drei bis vier Generationen: Wäre es Mitgliedern der ersten und der fünften Generation möglich, einander zu begegnen, so würde ihnen der Sprachwandel schnell bewusst werden. Und mit ihm entsprechend auch der Wandel des Gebrauchs des Wortes Kunst und der sich daraus entwickelnden Begriffe ‚Kunst‘.

[19] Unsere Einbindung in soziokulturelle Systeme und Strukturen beschreibt keinen fatalistischen Zustand, dem wir hilflos ausgeliefert sind. Denn diese Systeme und Strukturen fallen ja nicht einfach vom Himmel, sie sind vielmehr menschengemacht: „Einrichtungen, die in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durchführung eines menschlichen Plans“ (Keller 2014: 58). Kollektive, weder intendierte noch geplante kausale Konsequenzen einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen. Das heißt: Im Kollektiv haben Generationen eben die Systeme und Strukturen konstituiert und etabliert, in die jeder Einzelne von uns hineinwächst. So nehmen wir alle (‚alle‘ im Sinne von ‚jeder Einzelne‘) sowohl am Wandel der so konstituierten und etablierten Systeme und Strukturen aktiv teil als auch an der Konstitution und Etablierung neuer.

[20] Dazu siehe auch den Aufsatz des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz (1987): Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur (S. 7 – 43), in: Dichte Beschreibung – Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag.

[21] Mein Eindruck ist, dass es sich auch bei der Sprecher-Intention (H. Paul Grice) um eine Variation der perlocutionary forcehandelt: A will bei B eine ganz konkrete Wirkung erzielen. Das heißt in diesem speziellen Fall des Meinens, bei dem ja gerade keinekonventionelle Bedeutung vorliegt: A will B dazu bewegen, dass B erkennt, dass A mit Äußerung a beabsichtigt, dass B diese Intention von A erkennt und dass B erkennt, dass A mit Äußerung a beabsichtigt, indem B diese Intention von A erkennt. Einen ähnlichen Eindruck scheint mir auch der belgische Sprachwissenschaftler Mikhail Kissine zu haben. Allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Er „nennt die vom ihm abgelehnte Strategie der kommunikativen Sprecherintention die perlokutionäre Sicht auf Sprechakte“ (Liedtke 2016: 63). In gleicher Weise hat sich bereits 1969 John R. Searle in seinem sprachphilosophischen Essay Speech Acts geäußert: „Grob gesehen läuft Grices Bestimmung darauf hinaus, daß Bedeutung unter dem Gesichtspunkt der Absicht, einen perlokutionären Akt zu vollziehen, definiert werden muß“ (Searle 1983: 70).

[22] Die Annahme, dass man vom Einfluss dieser unzähligen ungenannten und unbekannten Äußerungen gänzlich absehen und sich ausschließlich auf die wenigen vorhandenen historisch relevanten Texte als Einflussfaktoren reduzieren kann, ist m.E. daher ebenso ins Reich der Mythologien zu verweisen wie zuvor schon die vier gängigen Prämissen der Ideengeschichte, gegen die sich Skinner in seinem Aufsatz wandte (cf. Gallus 2019 sowie hier: Kap. 3).

[23] Die Zuschreibung eines Werks als Kunstwerk durch, zum Beispiel, die Teilnehmer am Kunstmarkt ist kein verbindlicher Maßstab für die Zuschreibung dessen, was innerhalb einer Sprachgemeinschaft als Kunst resp. Kunstwerk gilt. Im Kunstmarkt wird nur verhandelt, was dort als Kunst zu gelten hat (was viele nicht davon abhält, den Markt mit der Welt zu verwechseln und die dort gültige Zuschreibung zu verallgemeinern). Nichtsdestotrotz nimmt natürlich die Zuschreibung durch die Teilnehmer am Kunstmarkt auch Einfluss auf die Zuschreibung innerhalb einer Sprachgemeinschaft/Kultur/Epoche. Schon allein deshalb, weil eine Vielzahl der Mitglieder der recht überschaubaren Gruppe ‚Kunstmarktteilnehmer‘ auch Mitglieder der ungleich größeren Gruppe ‚Sprachgemeinschaft‘ sind (cf. Oehm 2020 passim).

[24] Diese Beschreibung von Skinner klingt weniger nach John L. Austins Theorie der Sprechakte als denn nach dem Modell der geteilten Intentionalität von H. Paul Grice (resp. Michael Tomasello).

[25] Die Auffassung des deutschen Kunstphilosophen Reinold Schmücker weist in die gleiche Richtung: „Welche Artefakte zur Klasse der Kunstwerke zählen – die eben nicht mit der Klasse derjenigen Objekte identisch sein muss, die mir oder irgendeinem anderen Sprecher als Kunstwerk gelten –, darüber befindet der allgemeine Sprachgebrauch“ (Schmücker 2001: 18, auch Schmücker 2014: 128ff.). Auch Karlheinz Lüdeking scheint mir in ähnlicher Weise zu argumentieren. Was zur Klasse der Kunstwerke gehört, ist „als ein unbeabsichtigtes und unvorhersehbares Ergebnis all der mannigfaltigen und konkurrierenden evaluativen Verwendungen des Kunstbegriffs durch unzählige individuelle Sprecher“ (Lüdeking 1998: 203) zu denken. Es ist als kollektives, nicht-intendiertes Resultat zahlloser individueller intentionaler Sprachhandlungen ein Faktum intersubjektiver Gültigkeit. Beide, sowohl Schmücker als auch Lüdeking, statuieren die Zuschreibung eines Werks als Kunstwerk als Ergebnis des allgemeinen Sprachgebrauchs, erklären aber nicht, wie sich das Ergebnis ergibt. Lüdeking beschließt sogar sein Buch mit der resignativen Feststellung, dass sich diese Frage weder durch die analytische Philosophie der Kunst noch durch die traditionelle Theorie beantworten lässt (ebd.: 205). Ein wenig mehr Optimismus wäre aber m.E. durchaus angebracht, wären sie den einmal eingeschlagenen Weg konsequent weiter gegangen – Hand in Hand mit der unsichtbaren Hand (cf. Keller 2014 passim, auch: Oehm 2019b: 137, 182ff., 200) und dem vom Einzelnen ausgehenden handlungstheoretischen Modell von H.P. Grice.

[26] Rudi Keller übernimmt Bestimmung und Begrifflichkeit der ‚Komprehension‘ von dem amerikanischen Philosophen und Logiker Clarence Irving Lewis. Mit ihm nennt er zudem „die Menge aller existierenden Gegenstände, die unter den Begriff fallen“, ‚Extension‘, die „korrekte Definition eines Begriffs“ ‚Intension‘ (Keller 2018: 119).

[27] Eine Ansicht, die zugegebenermaßen nicht sonderlich originell ist. Schon der deutsche Kunsthistoriker und Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark (*1852, †1914) vertrat sie in ähnlicher Form („Kunst giebt es in Wirklichkeit gar nicht. Es giebt nur Kunstwerke.“ [zitiert nach: Hofmann 1977: 78]), ebenso Ernst Gombrich („Genau genommen gibt es ‚die Kunst‘ gar nicht. Es gibt nur Künstler.“ [Gombrich o.J.: 11]) oder auch Werner Hofmann („Es gibt keine Kunst, sondern nur Künste.“ [Hofmann 1980: 317, auch: Hofmann 1977: 105]).