das himmelsnetz der sterne fängt die seele auf

 

andré schinkel, in eilenburg geboren und in bad düben aufgewachsen, betrachtet in den meist kurzen und teils autobiographischen prosastücken dieses bandes, die zwischen 1993 bis 2022 entstanden, vor allem seine lebensarbeitsundwohnstadt halle an der saale und die kleinstadt seiner kindheit an der mulde. er erinnert, neben orten, an menschen, die er erlebte, etwa seinen vater und einen großvater, und szenen mit ihnen. in halle ist er, so in »Blick auf die Stadt«, auch an den kesselrändern, zwischen denen es liegt, unterwegs, von wo aus er die stadt teilweise überschauen kann, was er für stadtgeschichtliche, geologische und jahreszeitliche exkurse nutzt.

durch die beschriebene liebe und den dialog mit dem geliebten weiblichen du, einer bildenden künstlerin, und das mit ihr und sich eins sein im gegenseitigen und gemeinsamen begehren und erspüren ist das buch zum teil lichtdurchfluteter, befreiender, zuversichtlicher, ermutigender und nachsichtiger als frühere bücher von ihm, und erneut dicht und tief, zumal sprachlich, authentisch, persönlich und ehrlich. die sensibelsten passagen erzählen momente der hingabe und des aufgehens im anderen. das erste wort im buch ist »Blau«, und damit eine farbe der sehnsucht und des überwirklichen, das letzte »Hoffnung«.

etliche texte sind nach bildern, grafiken und fotografien entstanden, wie »Ultramarin«: »Dies Leuchten. Dieses Leuchten, das keiner begreift, das alle herabzieht − nein, umgekehrt: auf die Höhe der Träume herab. Niemand, der weiß, wie dieses kalte Leuchten einen Anschein von Wärme erzeugt. Keiner kann das erklären. Das Übermeerische«. die rückseite des buches zeigt den »rosenfarbnen Glanz der Liebe«. franz kafka erklärte, die jugend wäre glücklich, weil sie die fähigkeit habe, schönheit zu sehen. jeder, der diese gabe behalte, werde niemals alt.

liebend liegt das lyrische ich unterm sternbild camelopardalis, kamelpanther, also giraffe, pardalis = pantherweibchen. die form der giraffe wirkt so unwirklich, daß sie auch liebe möglich macht. dazu paßt ein jüdischer witz: »Frei nach Hegel. Ein Dorfjude kommt in den Zoologischen Garten von Moskau, bewundert lange befremdet die Giraffe und erklärt schließlich mit Entschiedenheit: „Das kann nicht sein!“« häufig findet der leser blicke zum himmel, wo das licht der unendlich vielen sterne winkt, von denen hier die liebe kommt. jean paul erkannte: »Gegen der Erde Leid gibt es keinen Trost als den Sternenhimmel.« und: »Das Leben wird wie das Meerwasser nicht eher süß, als bis es zum Himmel steigt.«, ossip mandelstam dachte, es sei eine würdige aufgabe des dichters, mit dem planeten mars signale auszutauschen. stanisław jerzy lec meinte, arm wär, wer keine sterne sehe ohne einen schlag ins gesicht.

andré schinkel schildert meteorschwärme im august, dem erntemonat, bei denen man sich etwas wünschen darf. wenn man sternschnuppen sieht, verrauchen sie freilich. der autor weiß: »Wo Licht ist, ist Klarheit, aber auch Leere.« ob man klarheit im licht findet, das auch blendet, sei dahingestellt. lec bemerkte, es wäre uns nicht gegeben, unter einem glücklichen stern geboren zu werden. wir seien auf ihm geboren worden. friedrich hebbel empfahl illusionslos, in »untröstlicher Hellsichtigkeit«, wie uljana wolf über peter huchel schrieb, wer zu den sternen reisen wolle, der schaue sich nicht nach gesellschaft um. alles glück ist paradox. und lieben bedeutet oft, einsam zu sein. die sonne, die wärmt, wo nicht einmal antoine de saint-exupérys kleiner prinz war, nennt schinkel im gedicht heimat.

einige texte führen zurück in die kindheit, also bad düben, wo auch belastendes geschah, das sich in körper und seele einschrieb, wie in »Fliegen können«: »Einmal aber versuchte mein Vater mir am Lauch, so hieß der Weg in der stadtseitigen Muldeaue, wiederholt das Fahrradfahren beizubringen, − was, wie immer, in Gebrüll, Beleidigungen und Schlägen endete, die ich nicht vergessen kann.« da möchte man davonfliegenoderlaufen. hebbel sah: »Jemanden zu prügeln heißt, ihm aus seiner eigenen Haut einen Panzer zu schmieden.« der vater, oder etwas in ihm, das vermutlich selbst verletzt war, wollte dem sohn weniger das radfahren beibringen als vielmehr seine autorität, oder was er dafür hielt, man könnte auch sagen seine macht, beweisen, und zwar gewaltsam. man denkt an kafkas »Brief an den Vater«. andré schinkel hat den panzer längst wieder abgelegt, jedenfalls zum größten teil.

schinkels text blickt zurück auf eine zeit, die er »Wolfszeit« nennt, wo, wie er schreibt, neben seinem vater der atomkrieg und die tollwut synonyme für angst waren. die vergangen geglaubte atomkriegsgefahr haben wir heute wieder, oder mindestens die diskussion darüber, gewalttätige väter gibt es immer noch, wenngleich vermutlich prozentual weniger als früher. nur die tollwut, wenigstens etwas, scheint hier überwunden. zudem könnten wölfe künftig eine neue aufgabe erhalten: sie schützen den wald, der keiner mehr ist, vor menschen.

solche erfahrungen können, besonders wo sie sich wiederholen, traumatisieren. zugleich sind sie, wenn man sie verarbeitet, lehrreich. susan sontag, die vermerkte, nur in der literatur könne man sich seine eltern aussuchen, betonte, dichterprosa handle zuerst vom dichter-sein, und das dichter-ich sei das wirkliche selbst, das andere nur der träger. sterbe das dichter-ich, sterbe die person. friedrich nietzsche wußte, der schmerz frage immer nach der ursache, während die lust geneigt wäre, bei sich selber stehenzubleiben und nicht rückwärts zu schauen. der dichter verdichtet schmerz in seiner poesie. die urne des vaters blieb beim versetzen der grabsteine unauffindbar. sollte er als böser geist aus dem grab gefahren sein?

in diesem erzählband findet der leser genaue beschreibungen von lebenswelten sowie deren zerbrechen, ersetzen und erneuern, daneben motive aus mythen, diese aber etwas seltener als in andern büchern schinkels, vor allem den gedichtbänden. der minotaurus erscheint in »Ein Minotaurus« wie gewohnt im labyrinth. doch er rührt die frauen, die man ihm opfert, nicht mehr an, die dadurch altern und schließlich verhungern. bei jim jarmusch trinken, (post)moderne vampire blutkonserven, und ophelia ertrinkt, sofern ich mich richtig entsinne, in der badewanne. auch bei schinkel verbinden sich alltägliche wirklichkeit und mythisch zeitloses. in »Seherins Hände« wühlt eine seherin in leipzig im müll. texte mit bedrückenden und plagenden und daher melancholischen und depressiven motiven sind hier teils satirisch oder ironisch, zumindest stellenweise, so »Im Geflecht«, oder »Tagwerk«, wo wir lesen: »Es braucht so wenig, um glücklich zu sein, sagt die Stimme im Radio, und ich weiß, sie meint mich.« der wissende wisse, daß er glauben müsse, heißts bei friedrich dürrenmatt.

der autor verweist auf seine ersten sätze, die oft naturwahrnehmungen beschreiben und eine grundstimmung andeuten: »Blau dämmerte über den Waldrand weitab vom Fenster meiner Behausung der Morgen herein.« (»Perseus«), »Im Juni riecht diese Stadt und ihr Umland, wenn die Robinien und Pappeln abgeblüht sind, nach Lindenblüten.« (»Blick auf die Stadt«), robinien kamen aus amerika nach europa, »Eine Ammer sang, und es klang so, als könnte der Sommer nicht enden.« (»Aus den tiefen Gründen«), oder »Jahre hatte ich gesät und keine Ernte eingefahren.« (»Die Aussicht«).

erneut spürt schinkel vögeln und deren gesang nach, der auf liebe hindeutet. so erwähnt er den fünfsilbigen ruf der ringeltaube und den dreisilbigen der türkentaube, die, ursprünglich ein steppenvogel, aus indien kam und im 15. jahrhundert am bosporus auftauchte. vor 100 jahren lebte sie innerhalb europas nur in der europäischen türkei und einem kleinen gebiet auf dem balkan. deutschland erreichten türkentauben 1943, england 1955, irland 1966 und island 2018. längst sind sie in ganz deutschland verbreitet. ich höre sie im sommer täglich. man sollte immer fragen, woher etwas kommt. warum, wozu und wohin sind weitere wichtige frageworte, aber, vielleicht, allerdings und wenn gute anfangsworte einer antwort. voltaire empfahl, man solle menschen eher nach ihren fragen als nach ihren antworten beurteilen, lec, hinter antworten sollte ein fragezeichen stehen und eine frage mit einem ausrufezeichen enden.

den kernbeißer nennt er in »Gott liebt die Vögel« »König der kleinen Vögel«. einst wurden kernbeißer in wäldern gefangen, verkauft, in käfigen gehalten und gegessen. sonst war meist der zaunkönig auf dem kopf des adlers der könig der kleinen vögel und der vögel insgesamt, worauf auch das goldhähnchen anspruch hätte, das, mit seinem königlich aussehenden scheitel auf dem kopf, der einer krone ähnelt, deutsch auch könig, königlein, sonnenkönig und haubenkönig heißt. neben vögeln beschreibt oder erwähnt der autor viele bäume, eichen, kastanien, pappeln, weiden, ahorn, platanen, robinien und efeu, deren bestend teils gefährdet ist, und überhaupt die ihm nahe natur. kleist nannte die natur einen lehrer. lec wußte, in der natur gehe nichts verloren, mit ausnahme der hoffnungen, die sich nicht erfüllten.

gefährdungen bleiben durch manipulierte und manipulierende kräfte. andré schinkel wohnt nahe der synagoge in halle, die 2020 opfer eines rechtsradikalen anschlags wurde. mehrere texte spielen darauf an, wie »Aurora«, wo der erste Satz lautet: »Plötzlich klirrten die Scheiben. Noch war keinem klar, daß es nicht mehr sein würde wie vorher.«, und »Vor dem Augenblick«, das beginnt mit: »Ein Stein flog durchs Fenster, wovon auf dem Tisch die Schere gegen die Vase mit den Löwenmäulchen stieß, deren Inhalt sich über die Papiere ergoß, die ich soeben unterschrieben hatte.«

im buch finden sich einige parabelundlegendenhafte texte, die zu den besten gehören, speziell »Vor dem Grund: Die Seelen«, wo ich beim lesen an edgar allan poes »Wassergrube und Pendel« und kafkas »In der Strafkolonie« dachte, grausame geschichten. phantasie sei nur in einer gesellschaft der verstehenden erträglich, äußerte hebbel. in einem gebirgigen land mit schneeleoparden, die vom aussterben bedroht sind, mir fiel bhutan ein, und zudem die deutsche wilde jagd der unerlösten seelen durch die lüfte fliegt, werden seelen genäht.

nicht jeder erhält eine seele, oder gar eine gute. »Der Zuschneidemeister und sein Gefährte legen dem Seelennäher die Leiber der Delinquenten hin, der nach eigener Musterung entscheidet, wer eine Seele bekommt und wem er sie von Beginn an verweigert.« so wird ein lebensurteil vollstreckt, das eine marterung und strafe ist, noch bevor das lebendigsein der betroffenen wirklich begonnen hat. »Diejenigen Körper, die sich als nicht geeignet erweisen, behalten so ihre hölzernen Knie, und die Augen in ihren, sicher nicht weniger perfekt geschnitzten, Köpfen, bleiben tot, so, wie es letztlich Puppenaugen oder Leichenaugen auch sind.« »Nur der Seelennäher weiß, wie viele mißratene Seelen er der Welt schon geschickt hat. Es lastet ihm auf dem Gewissen und läßt ihn unsicher werden ob der Güte seiner Wahl.«

der seelennäher, der gliederpuppen beseelt, oder eben nicht, gleicht den moiren, parzen und nornen, die den lebensfaden spinnen und damit das schicksal bestimmen. in irischen sagen finden wir in einer der »Reisen des Maildun« einen seelenmüller, der unrechtes eigentum zermahlt. ich verstehe schinkels geschichte so, daß menschen häufig an eine trügerische, also illusionäre, freiheit glauben, tatsächlich aber abhängig sind von faktoren. die sie nicht selbst bestimmen, also etwas schicksalhaftem. schicksal ist häufig nur ein synonym für die erbanlagen des menschen oder gesellschaftliche verhältnisse und daraus entstehende verhaltensweisen, siehe lateinisch, ursprünglich altgriechisch, fātum = götterspruch, götterwille, schicksal, weissagung, verhängnis, verderben, tod, untergang, lateinisch fata = schicksalsgöttinnen, parzen, wovon auch das schicksal der götter abhing. man muß immer wach sein dafür, was unter menschen entfremdet, das heißt verkehrt ist, nämlich das meiste.

in der erzählung »Im Nebel gewandert« fragt das prosaische ich, wann die richtige zeit für nebel sein könnte. der november ist der nebelmonat nebelung, wo man nach nebelheim zu gelangen scheint, in die germanische totenwelt, zumal wenn der totenvogel krähe ruft. das empfindet jeder, der an novembernebeltagen durch flußauen geht oder fährt. durch den nebel gehend, zitiert der wandernde in schinkels text, wohl um halt und schutz zu finden, johann wolfgang goethes »Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirbt und Werde, / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.« ein haus, das die ich-figur betreten will, wird zur hoffnung. huchel schrieb: »bis eine Nebelwand / ihn zögernd aufnahm, / eine Höhle, bewohnbar«. ein gutes gedicht wird für einen guten leser durch ihn selbst bewohnbar und er dadurch behaust, wie in bachelards »Poetik des Raumes«. sonst ist man im nebel dem tod der natur nahe, die mit der sonne wieder aufersteht, am nächsten morgen oder im frühjahr oder in der ewigkeit.

die nebelwanderung erinnerte mich an georg büchners »Lenz-Novelle«. »Es lag ihm nichts am Weg.« heißts da. selbst das sich treiben lassen verschafft keine ruhe, sondern erzeugt bloß ein haltloses hasten und ohnmächtiges taumeln, das sich mit einer mildernden trübung der sinne verbindet. wenn lenz sagt, es sei ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem kopf gehen könne, benennt er den drang, die verkehrung der welt ertragbar zu machen, indem er sich selber umkehrt, um unter entfremdeten fortan kein fremder mehr zu sein. im alten ägypten wurden die sünder im totenreich auf dem kopf laufend oder stehend dargestellt. kleist erklärte, er würde, um den druck im kopf loszuwerden, in eine verwechslung der erdachsen einwilligen. auch dies verweist auf ein gestörtes raumgefühl, das keine wege mehr, sondern nur noch schrägen, klippen, abgründe sehen und empfinden und läßt.

»er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat.« weil er das ersehnte lebensreal nicht zu fassen bekommt, greift er ins universum. das verlangen, sich einzulösen, wird übersteigert und zerbricht in ihm und damit ihn selber. »der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wieder zu geben.« der schmerz mit eigner haut ins fleisch gestoßen, lindert den von andern zugefügten. auch das ist eine umkehrung des ursprünglich angestrebten: sich nur im schmerz, der allein hoffen und lust bewahrt, noch bewußt zu werden. ansonsten heilt einzig der schlaf, der den menschen in sich hineinkriechen läßt.

in »Reise im Traum Oder: An Dante denken«, träume sind oft reisen, liest man: »Eingekeilt in Bedürfnisse und Pflichten, deren Notwendigkeit und Schein uns nicht mehr schlüssig erreicht, hockten wir in den Vorwartehöfen der Hölle herum, die uns das Paradiso versprach, solange wir nur die Augen fest auf die glühenden Ofentüren heften, die uns wie die zischenden Drehkreuze der Verheißung vorkamen.« und diese tragödie, oder komödie, oder beides zusammen, beginnt bei menschen seit jahrtausenden immer erneut von vorn. jede gegenwart kennt nur andere erscheinungsformen. und die götter auf der galerie, oder der tribüne, des himmels lachen über uns. in zeiten von brennstoffmangel wird indes vielleicht auch die hölle weniger beheizt. das immerhin gibt hoffnung.

 

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Die Schönheit der Stadt, die ich verlasse, Erzählungen von André Schinkel. Mitteldeutscher Verlag, Halle an der Saale, 2022

Weiterführend →

Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel. Hier findet sich die Würdigung von André Schinkels Prosa, sowie die Rezension Von Test zu Text, von Raum zu Zeitraum.

 → Poesie ist ein identitätsstiftende Element unsrer Kultur, lesen Sie auch KUNOs poetologische Positionsbestimmung.

 

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