Die Macht des Todes

Ludwig Tieck, Der Runenberg

Christians Entwicklung scheint in seiner Wanderung zwischen Berg und Tal ein Bild zu sein für einen dialektisch sich vollziehenden Individuationsprozess, den er zunächst mit Erfolg besteht. Im Tal findet er das bürgerliche Leben mit Tätigkeit, finanziellem Glück, Familie, Frau und Kindern.

Und überwindet doch nicht seine Vergangenheit in Kindheit und Jugend. Den Vater trifft er nach seinem Aufbruch aus dem Elternhaus nach vielen Jahren wieder, scheint mit ihm im Einklang und wird doch unzufrieden in seinem Leben, weil er auf dem Runenberg (Alraunenberg) etwas erlebte, das stärker ist als bürgerliches Glück: Die Begegnung mit sich selbst, ein erster Schritt auf dem Weg zur Erlernung der Einsamkeit und dem Einssein mit der Natur, wovon uns das bürgerliche Glück abhält, später gesteigert im Bilde des güldenen Bluts, des Geldes, das nur falsche Sehnsüchte verdrängt und kompensiert, ohne uns wirklich zu erfüllen.

Christian erfährt auf dem Berg die Freiheit, die natürliche, beglückende Wildheit, dazu eine zu ihm wortlos, nur in Bildern sprechende Natur, die er nicht versteht und die ihn trotzdem froh und glücklich stimmt; der Berg des Alraunen-Erlebnisses wird ihm zu einem Ort mit einer Sprache des Inneren: Alraune – Raunen – Runen bilden für ihn einen Komplex, den er zu ergründen sucht. Er findet dort (in seiner Vorstellung) ein Frauenbild, das erotisch alles im bürgerlichen Leben Erlebbare übersteigt: Eine schwarzhaarige Schöne, die zum Reich des Nichtgewordenen, der Schatten gehört. Sie steht im Gegensatz zur blonden Elisabeth, Christians Frau im wohlgeordneten Leben. Die schwarze nackte Schönheit überreicht ihm die Tafel, deren Zeichen er nie entziffern wird. Eine Art faustisches Drängen „nach jener Begeisterung und unbegreiflichen Liebe“ erfasst ihn nun lebenslang. Er bleibt ein Jäger, seine Zeit als Gärtner im Dorf der Talgesellschaft ist nur eine Episode. Zur blond-güldenen Elisabeth sagt er zu Beginn der Ehe: „Nein, nicht jenes Bild bist du, welches mich einst im Traum entzückte und das ich niemals ganz vergessen kann, aber doch bin ich glücklich in deiner Nähe und selig in deinen Armen.“

Christians Herz schlägt keine Wurzel in der eingebildeten Heimat, wo die Verführung des Goldes ihn zu zerstören droht. Dem Vater gesteht er: „… ich kann auf lange Zeit, auf Jahre, die wahre Gestalt meines Innern vergessen, und gleichsam ein fremdes Leben mit Leichtigkeit führen: dann geht aber plötzlich wie ein neuer Mond das regierende Gestirn, welches ich selber bin, in meinem Herzen auf, und besiegt die fremde Macht. … einmal, in einer seltsamen Nacht, ist mir durch die Hand ein geheimnisvolles Zeichen tief in mein Gemüt hineingeprägt …“ Das geschah einst durch das schwarze Weib mit der Tafel auf dem Runenberg. Aber es ist nicht die Welt der Steine mit dem Erz darin allein, die ihn so anzieht und formt, auch die Pflanzen teilen ihm sein Schicksal und das Schicksal allen Seins mit: „… in den Pflanzen, Kräutern, Blumen und Bäumen regt und bewegt sich schmerzhaft nur eine große Wunde, sie sind der Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten, sie bieten unserem Auge die schrecklichste Verwesung dar…“, sagt Christian zum Vater und meint die klagende Alraune, die er mit der Wurzel aus dem Boden riss wie sich selbst. Das Altern verändert Christian, und indem er den überall anwesenden Tod auch in der schwarzen Frau erkennt, die er als gealtertes Waldweib wieder trifft, flieht er nicht nur aus der bürgerlichen Welt, sondern kehrt sich ab von der tieferen Liebe, die er nie erlangte und zu geben vermochte. Christian wird angezogen von der Macht des Todes, die sich ihm im Runenberg, im Verfall der schwarzen Frau und in der Tafel mitteilt. Er wird zum Opfer seiner eigenen Zwangsvorstellungen – die eingebildete Welt übermannt ihn, er betrügt sich mit den wertlosen Steinen wie mit dem Waldweib, das er in seiner Vorstellung einst als schwarze Venus sah. Er achtet nicht die Ermahnung des Vaters, das Leben in Liebe zu bejahen, sondern räumt dem Tode die Macht über seine Gedanken ein.

Welche schwarze Ironie mischt sich zum Schluss in die Erzählung! Und zugleich Skepsis gegen die Übermacht des Seelischen! Die Ideale zerrinnen ins Nichts, die bürgerliche Liebe im Tal und die leidenschaftliche Glut im Berg sind zwei Seiten eines güldenen Scheins. Finde die Mitte, sagt die Geschichte dem Leser, aber wo und wie gibt es eine solche Mitte?

Am Ende muss Christian zurück in diese Einsamkeit, ins Einssein mit sich selbst, das nur da oben im Gebirge gelingt, nicht unten im Tal bürgerlicher Wohlordnung. Zugleich bleibt Christian heimatlos – er wird der entwurzelten Alraune gleich, „so verloren, so ganz unglückselig“, eine schmerzende Wunde.

Mich führt die Metaphorik unweigerlich zu Thomas Manns „Zauberberg“, wo ein schwächerer Held als Christian weder intellektuell noch intuitiv sich findet, mit der Natur nur als Unterlegener für einen Moment eins wird, der etwas erkennt, was er nicht umsetzt in sein Leben. Auch zu Rilkes Begriff von der Wunde als einer blühenden Blume („Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“) oder in Kafkas Erzählung „Ein Landarzt“, zu Hofmannsthals Chandos-Brief, was die Unsagbarkeit der Geheimnisse betrifft. Und zu Hesses „Siddhartha“, dem alles im Leben gelingt, zuletzt auch die Bescheidenheit in einem Dasein für andere, am Fluss des Lebens. Christians Dipolarität der Seele nimmt teilweise Ideen im „Steppenwolf“ vorweg.

Kurzum: Tiecks Kunstmärchen aus dem „Phantasus“ (1812) ist erzählerisch, sprachlich und gedanklich beglückend.

 

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.