Zeitgeschichtsilluminierung

Hier ist er also, der große Zeitroman für Marcel-Reich-Ranicki.

Wend Kässens, NDR 3, Literatur vor Mitternacht

a.j. weigoni hat einen roman mit zeitgeschichtlichem hintergrund geschrieben, der zwischen 1989 und 2014 entstand und dessen handlung im jahr 1989 beginnt und 1990 endet. orte sind düsseldorf und berlin sowie die fluchtpunkte paris, rügen und new york. der leser findet viele genaue beobachtungen sozialer und kultureller verhältnisse. der autor spielt mit facetten von lebensformen und wahrnehmungsweisen, die zudem intellektuell reflektiert werden. wichtig ist dabei immer die sprachliche dimension. das Nachwort von Regine Müller erklärt: »Nicht Sinn will dieser Poet mit seinem Werk schaffen, sondern Bedeutung.« und:

Als Sprachskeptiker hält Weigoni die Erinnerung indes bereits für Fiktion.

etwa stellt die figurensprache milieus und charaktere dar. dialektworte und slang, so anglizismen der szenesprache, verweisen auf identitäten. wer seine figuren derart in ihrer alltagssprache beschreibt, kennt sie zweifellos genau und kann beiläufig und lakonisch, also gut, von ihnen erzählen. mitunter wären vielleicht noch rückblenden möglich gewesen, die kindheitserlebnisse, grunderfahrungen und frühe prägungen der figuren zeigen, von denen ihr handeln, denken und empfinden in ihrem miteinander und gegeneinander beeinflußt wird.

Ironie ist Teil seiner Lebenshaltung, die nicht auf Wahrheit aus ist, sondern vielmehr auf Vermeidung von Grausamkeit.

zugleich betreibt weigoni ein spiel mit klischees, die teile des textes zur persiflage oder farce machen. einen ironischen unterton muß der leser also immer mitdenken. über moritz, die männliche hauptfigur, erfährt man: »Ironie ist Teil seiner Lebenshaltung, die nicht auf Wahrheit aus ist, sondern vielmehr auf Vermeidung von Grausamkeit.« wenn angekündigt wird: »Diese Schrift enthält zahlreiche Schilderungen von Obszönitäten, die geeignet sind, die Fantasie jugendlicher Leser negativ zu belasten, sie zu sexuellen Handlungen zu animieren und damit die Erziehung zu beeinträchtigen.«, so fragt man sich, ob dies marketing oder satire sei, möglicherweise beides. der roman enthält durchaus erotische und sexuelle szenen, aber keine angsterregenden.

lautnachahmende ursprünge

weigoni ist auch in seiner prosa, wie in seinen gedichten, ein sprachkünstler. man entdeckt bei ihm viele sinnliche und schriftsprachlich eher seltene worte, besonders sinnliche verben, so »mault«, »ketzt«, »nöhlt«, »knatscht«, »krabetzt«, »karjolt«, »plustert«, »schnoddert«, »prustet«, »schnackert«, »grinst«, »zwinkert«, »runzelt«, »stiert«, »schnorrt«, »stiebitzt«, »stakst«, »tapst«, »wieselt«, »tapert«, »schlackert«, »purzelt«, »stöbert«, »stupst«, »pafft« »puhlt«, »nudelt«, »semmelt«, »ratschen«, »glitschen«, »pritscheln« oder »krökeln«. einige dieser wörter haben lautnachahmende ursprünge, was mit der beschreibung akustischer wahrnehmungen im roman korrespondiert.

Diese Wörter und noch andere, welche Töne ausdrücken, sind nicht bloße Zeichen, sondern eine Art von Bilderschrift für das Ohr.

lichtenberg nannte an einer stelle ganz ähnliche wörter, donnert, heult, brüllt, zischt, pfeift, braust, saust, summet, brummet, rumpelt, quäkt, ächzt, singt, rappelt, prasselt, knallt, rasselt, knistert, klappert, knurret, poltert, winselt, wimmert, rauscht, murmelt, kracht, gluckset, röchelt, klingelt, bläset, schnarcht, klatscht, lispelt, kocht, keuchen, schreien, weinen, schluchzen, krächzen, stottern, lallen, girren, hauchen, klirren, blöken, wiehern, schnarren, scharren und sprudeln, und schrieb dann: »Diese Wörter und noch andere, welche Töne ausdrücken, sind nicht bloße Zeichen, sondern eine Art von Bilderschrift für das Ohr.« andererseits begegnet man in weigonis roman einem abstrakteren intellektuellen und ideologischen vokabular, das häufig weltbilder beschreibt. abstraktionen der sprache können auf enttäuschungen und verwundungen hindeuten.

Eine Welt, die sich in den Massenmedien spiegelt, hat weder ein gemeinsames Ziel noch kennt sie ein kollektives Begehren. (Jean Baudrillard)

zunächst kommen generationserfahrungen der um 1960 in der bundesrepublik geborenen ins bild. man findet die zerrissenheiten von menschen, denen traditionelle wertvorstellungen als überholt gelten und die zugleich keinen grundlegenden umbruch vor sich sehen. »Facetten und Erscheinungsformen ändern sich, doch Entscheidendes ist nicht veränderbar.« idealistische entwürfe lassen sich auch im privaten nur zeitweilig verwirklichen, nicht zuletzt weil die figuren unterm »Schuppenpanzer des Narzissmus« beziehungsunfähig sind oder glauben, es zu sein. »Bei manchen Menschen trifft gerade das Umarmungsbedürfnis auf die Unberührbarkeitssehnsucht.«

Selbstversuch mit offenem Ausgang

der roman ist nicht zuletzt die geschichte der identitätssuche und der desillusionierungen von moritz, die erfahrungen mit frauen inbegriffen, die wohl das empfindungszentrum, die tiefste und literarischste schicht bilden. die liebe der beiden hauptfiguren moritz und charlotte wird als »Selbstversuch mit offenem Ausgang« beschrieben. eigentlich stimmt und paßt da einiges, indem sich menschen mit verwandten interessen begegnen. man denkt beim lesen darüber nach, weshalb diese beziehung derart schnell zerbricht, wobei das ende ein erneutes zusammenfinden nicht ganz ausschließt.

Im bürgerlichen Roman sind es traditionell die authentischen Gefühle der Figuren, die ihre Handlungen, Sehnsüchte und Selbstzweifel motivieren und mit der äußeren, gesellschaftlichen Wahrheit in Konflikt geraten.

der autor reflektiert die liebessehnsüchte und liebeserfahrungen seiner figuren ausgiebig: »Liebe macht glücklich, es ist die letzte Idee, die wir noch haben, um an etwas zu glauben.«, »Liebe ist – wie jede andere Religion – nur rein, wenn sie Poesie ist.«, »Wahre Leidenschaft weiss nichts von Gesetzen. Im unweigerlichen Konflikt zwischen Gesetz und Glück bringt sie nichts als Unglück hervor.«, »die Akzeptanz der eigenen Einsamkeit wäre die Voraussetzung, um einen anderen wirklich zu lieben.«

Während Männer zu Philosophen werden, sind Frauen die Hüterinnen einer überlegenen Lebensklugheit.

über charlotte, bei der energie und zartheit, kraft und zerbrechlichkeit ineinander übergehn und die in einem gleichermaßen unbefangenen und intellektuell geschulten ton spricht, wird gesagt, sie spiele die archetypische jungfrau, die nur darauf warte, daß ihre welt in unordnung gebracht und die wirklichkeitswahrnehmung infrage gestellt werde. eine ihrer redensarten ist »Ach du lieber Schreck.« vielleicht trifft auf sie zu, was michel serres schrieb:

So besitzt die Kompaßnadel Sensibilität: Sie vibriert und sucht ein Gleichgewicht um einen fragilen Ruhepunkt. Aufgrund minimaler Anregungen, die von überall her kommen und nach Qualität, Dimension und Intensität über das gesamte Spektrum verteilt sind, zittert und fluktuiert die Sensibilität.

bei weigoni heißt es: »Charlotte und Moritz leben in einer schrillen Augenblickswelt, exakt zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht. Sie befinden sich zwischen dem Stellungskampf um ihre Karriere und den Bedürfnissen ihres privaten Glücks.« und: »Sie haben das Problem, dass jeder der Fixstern des anderen sein will, und in ihrem Eifer, es dem anderen beweisen zu müssen, nicht merken, dass sie in ihrem Mikrokosmos die Sonne ihrer kleinen Eitelkeiten umkreisen.«, wobei sensibilität wieder zerstört wird.

manchmal hat man den eindruck, figuren vor sich zu haben, die oft noch, spontanen eingebungen folgend, wie kinder agieren und zugleich ziemlich eigenständig erwachsensein spielen. weigoni fragt nach dem zustand von partnerschaften, die heute möglicherweise häufig scheitern, da ihre akteure denkundspielformen mit der lebenswirklichkeit vertauschen und verwechseln, weil sie beide sphären nicht dauerhaft zur einheit zusammenzwingen können.

Verbindlich ist nur die Glaubwürdigkeit unseres Diskurses.

schuld an der abkühlung ist eher moritz, nicht weil er mit jane, der opernsängerin, fremd geht, oder fremdgegangen wird, sondern da er die emotionalen liebesansprüche der charlotte, die ihm offenbar angst und schmerzen bereiten, nicht dauerhaft aushalten und erwidern kann. moritz verdirbt es mit ihr, indem er, der doch einfühlend liebt, sich, statt sie wahrzunehmen, narzißtisch, und teils grobianisch, hinter eigenen unbewältigten gefühlen und gefühlsverhärtungen verpanzert. subtilität und grobheit, einfühlung und abweisung liegen bei ihm dicht beieinander. da müssen erhebliche enttäuschungen ursprünglicher hoffnungen und intentionen vorausgegangen sein. auch die demonstrative coolness, die sich bisweilen aggressiv auflädt, läßt dies vermuten. wahrscheinlich gehen die verhärtungen auf frühe und elementare seelische und psychische verwundungen zurück, während er subtil und einfühlend ganz zu sich kommt, indem er dem innersten seiner seele entspricht. die ehrlichkeit, mit der dies geschildert wird, gehört zum anrührendsten und erschütterndsten dieses romans.

Schnäppchenjägerin der Liebe

jane, die dritte hauptfigur, die als französisches kind einer amerikanischen truppenbetreuerin in einem englischen internat erzogen wurde, wird als »gefallener Engel der Verzweiflung« und »Schnäppchenjägerin der Liebe« bezeichnet. sie lebt ganz den intensiven moment: »Sie will nicht begreifen, dass die Zeit nicht verzeiht, was man ohne sie tut, dass Ideen langsam reifen wie Pflanzen, und dass Menschen im allgemeinen leiden, wenn man sie hetzt. Sie will nicht wissen, dass die Menschen eine Vergangenheit haben, dass sie Besitz haben, daran hängen und daran festhalten, eine Geschichte haben und darin verwurzelt sind. Im Gegenzug dazu besitzt sie rasante Zukunftsvisionen und brennt vor Ungeduld.« schließlich ist sie von moritz schwanger und läßt, unentschieden, das kind abtreiben. vermutlich würden alle beteiligten figuren darüber nachdenken, wie man das ungeborene kind retten könne, wenn sie diese geschichte in einem film gesehen hätten. im leben aber und selbst betroffen reagieren sie anders. in woody allens film >Manhattan< gibt es eine szene, wo der fernsehautor isaac davis, gespielt von woody allen selbst, sagt, moral beweise sich erst, wenn unten im fluß, während man oben auf der brücke stehe, jemand zu ertrinken drohe. ob man dann den ertrinkenden rette, das wäre die entscheidende frage. ihn dürfe man aber nicht fragen, er könne nicht schwimmen.

Schreibnutten

moritz ist sportreporter, freilich einer mit den interessen eines kulturjournalisten, der einiges von literatur, theater, film, musik und oper versteht, und charlotte kulturredakteurin mit einer auch kultursoziologischen beobachtungsgabe. ihre berufssphäre betrachten beide zunehmend skeptisch. vom »Medienstrich« ist die rede. »Wirklichkeit ist das Aas, von dem sich journalistische Hyänen nähren.«, »Medienprofis gleichen ihre Medienfassung der Welt pausenlos untereinander ab, ihre Wirkung wird dann wiederum durch Meinungsforschungsinstitute überprüft.«

Gefährliche Liebschaften

im Nachwort heißt es, in diesem roman werde nach der möglichkeit einer besseren welt gefragt, »inklusive aller melancholischen Zweifel, die ein Privileg der Jugend sind, zugleich aber mit einem nachschwingenden Veränderungsfuror, von dem die heutige Generation nur träumen kann.« der autor erfand sogar eine eigene oper, »das Kraftwerk der Gefühle«, nach dem roman Gefährliche Liebschaften von choderlos de laclos. »Die Liebenden stolpern in der Inszenierung von LES LIAISONS DANGEREUSES über ihre selbst gespannten Fallstricke, die Komödie schlägt in bittere Tragik um. Im Spannungsfeld zwischen Liebe und Tod erlaubt die Oper Menschenversuche auf offener Bühne.« erklärt weigonis roman, der überhaupt immer wieder die wirkungen von musik beschreibt, die eines seiner motivfelder bildet, wobei die grenzen zwischen ernster und populärer musik von vornherein fließend sind. daneben wird auch die filmkunst thematisiert, die ebenfalls weigonis literarischen stil beeinflußt hat, etwa indem er mit filmschnittartigen techniken arbeitet.

Nicht die politische Avantgarde hat gesiegt, sondern die Warenästhetik.

charlotte unterstützt, idealistisch inspiriert, als rundfunkredakteurin künstler, die eine schließung des musiktheaters düsseldorf verhindern wollen. dieses engagement führt zu zahlreichen erkenntnissen und desillusionierungen: »Hinter jedem Protest steckt letztendlich eine verratene Liebe.«, »Der Mensch ist immer auf ein ganz persönliches Glück aus. Und wenn er das nicht bekommt, wird er politisch.«, »Die großen Ideen der Menschheitsgeschichte haben die Tendenz, sich im Zuge ihrer Realisierung selbst zu vernichten.«, »Eine aufgeklärte Demokratie wertet Proteste nicht durch Verbote auf, sondern lässt sie kontrolliert ins Leere laufen.«, »Wo die Ursachen kultureller und sozialer Missstände nicht veränderbar sind, wirken die moralischen Kundgebungen nurmehr karnevalistisch.«, »Alles ist Performance. Nichts hat mehr Bedeutung.«, »Regieren und Inszenieren sind eins geworden.«, »Es gibt keine wirkliche Kulturpolitik, weil die Wirtschaft die eigentliche Stelle von Politik vertritt.«, »Nicht die politische Avantgarde hat gesiegt, sondern die Warenästhetik.«, »Eine Demokratie braucht nicht noch mehr Patrioten, sie braucht Skeptiker und Menschen, die Fragen stellen.«, »Wer die Zwänge der Welt hinter sich gelassen hat, kann wahr sprechen.«

Migropolen machen aus Menschen nervöse Monaden.

schließlich geht charlotte als korrespondentin nach paris. erlebnisse von charlotte und jane in paris verbindet weigoni mit kultursoziologischen studien, so über musiker in der pariser métro, französische eßgewohnheiten oder die geschichte der architektur. über die städte insgesamt heißt es: »Migropolen machen aus Menschen nervöse Monaden.«, »Glasfassaden der modernen Grossstadt erzeugen die Illusion einer nahtlosen Verbindung zwischen Innen und Außen, aber sie schneiden in Wirklichkeit die sinnliche Erfahrung ab.« und »Die Bewohner wissen nicht mehr, wann die Inszenierung aufhört und das Leben anfängt, sie können nicht allein sein, wollen nicht spüren, wie einsam sie sind.«

Heja, heja DEG!

als sportreporter beim rundfunk gerät moritz, der gerade in berlin/west ein eishockey-spiel kommentiert, in die ereignisse des jahres 1989 in berlin/ost und berichtet über die grenzöffnung. dabei begegnet er dem osten zunächst als fremder, beinahe wie ein römischer reisender, der eine neu eroberte oder sich öffnende provinz besucht. wer das soziale und kulturelle leben von außen betrachtet, erkennt elementares und prinzipielles, hierarchien, strukturen, mechanismen, doktrinen, konventionen, illusionen, abhängigkeiten und manipulationen schärfer und klarer. der innenbetrachter betont mehr nuancen des subjektiven erlebens, die er jedoch oft überschätzt, während ersterer sie leicht vernachlässigt und das fundamentale überbewertet.

Von dem, was er aus der Ferne kennt, hat er eine vage Vorstellung, ohne es auf den Begriff zu bringen.

durch die erzählperspektive, die über lange strecken der sicht von moritz entspricht, erscheint die westliche lebenswelt meist in innenansichten, die östliche mitunter im draufblick. westliche lebensformen werden detaillierter beschrieben, östliche eher erklärt. »Von dem, was er aus der Ferne kennt, hat er eine vage Vorstellung, ohne es auf den Begriff zu bringen.« liest man. bisweilen entsteht auf die östliche lebenswelt bezogen genau der umgekehrte eindruck. es wird etwas analytisch auf den punkt gebracht, aber die konkrete lebensreale vorstellung bleibt stellenweise vage. wohl deshalb entstehen dann teils emblematische und kulissenhafte zeitbilder, die indes nicht selten ironisch gebrochen sind. manchmal scheint das östliche material auch dem kunstvollen im wege zu sein.

Daniel arbeitet an einem Destillat aus östlicher Resignation und westlichem Skeptizismus.

mit anne trifft moritz eine kosmopolitische bisexuelle ost-berliner künstlerin, die schon beinahe alle illusionen hinter sich hat und dennoch immer wieder neue projekte beginnt. bei daniel, einem ostdeutschen maler und intellektuellem grenzgänger, der aus einer jüdisch-kommunistischen familie stammt und in keines der üblichen ideologischen denkraster paßt, staunt moritz über viele gemeinsamkeiten im denken: »Daniel arbeitet an einem Destillat aus östlicher Resignation und westlichem Skeptizismus.« moritz steigt nach wiederholten kontroversen mit seinem chefredakteur aus der rundfunkarbeit aus, ohne sofort anderswo anzukommen, und fährt mit daniel gemeinsam auf die ostseeinsel rügen.

der titel des romans ist ein begriff aus der philatelie

das reflexive und diskursive dieses romans zeigt sich auch an den vielen kursiv geschriebenen schlagworten verschiedenen zeitgeistes. die figuren, die sich begegnen, östliche wie westliche, reden viel miteinander. dabei haben die gesellschaftskritisch denkenden gesprächspartner meist mehr fragmentarische als geschlossene weltbilder, die durch ihre realen erfahrungen noch weiter fragmentiert werden. mitunter sind die ideologischen kontroversen allerdings auch ein austausch gegenseitiger vorurteile oder kolportage von zeitgeistdenken. der titel des romans ist ein begriff aus der philatelie, was die frage aufwirft, ob man menschen wie briefmarken behandeln kann.

das zeitalter der ideologien ist vorbei

daß das zeitalter der ideologien vorbei sei, war eine illusion zu beginn der 90er jahre, die wahrscheinlich, ähnlich wie die legende vom ende der geschichte, von personen forciert worden ist, die selbst ideologisch dachten, im sinne der herrschenden verhältnisse. parallel wurde auch noch das ende der religion, philosophie, utopie, moral, literatur und wirklichkeit sowie des subjekts, bewußtseins und humanismus und des menschen überhaupt verkündet. insgeheim meinen alle diese end-verheißungen, daß es nur noch eine ideologie, wirklichkeit, geschichte und moral auf erden geben solle, nämlich die der jeweils eigenen gegenwart.

»tatsächlich das zu sehen, worauf man sie warten läßt.« (roland barthes)

mit ostdeutschen künstlern und intellektuellen spricht moritz über die ereignisse des herbstes 1989. dabei wird diskutiert, ob und inwieweit die ideen, aufbrüche und impulse dieser zeit weiterwirken können und als fermente alternativen denkens gegenwärtig bleiben. revolutionen, oder was so genannt wird, sind freilich immer auch täuschungszustände. die mehrheit hält die intensität und das überraschende solcher ereignisse selten länger aus. der massemensch bekommt angst, sobald realerlebnisse seinen horizont allzu sehr übersteigen. er möchte zwar stets neues haben, also ersehnen, erblicken, erwerben, aber nur wenn er selbst das ungewohnte auf vertrautes, und damit auf die eingefleischten und normierten raster seines denkens und empfindens, zurückführen kann. soll er unerwartetes erleben, so will er es wenigstens wahrnehmen wie etwas vorhergesehenes. ebenso, und das ist nur die dazugehörige kehrseite, sind viele bereit, »tatsächlich das zu sehen, worauf man sie warten läßt.« (roland barthes), weshalb sie das ersehnte solange nicht wirklich bekommen müssen, wie die manipulation funktioniert. solchen hoffnungen und desillusionierungen begegnet moritz auch in berlin und auf rügen, wo er nach alternativen sucht und letztlich nur andere zerrissenheiten findet. es ist nach wie vor kein ende der pioretten in sicht.

Das Rheinland, ein Kosmos der skurrilen Nebenfiguren

a.j. weigoni betrachtet in seinem roman Lokalhelden, der im jahrzehnt vor der jahrtausendwende im »Landeshauptdorf«, also düsseldorf, spielt, vor allem in der »Alkstadt«, die rheinländer im »Weltdorf«, und damit die globale provinz, ironisch und sarkastisch: »Dieses Dorf ist für das Neurosenbürgertum gross genug, um nicht langweilig zu sein; und klein genug, um nicht darin umzukommen.«, »Die negativste Eigenschaft des Rheinländers ist, dass er sich so positiv vorkommt.«, »Niemand lässt sich im Rheinland von seinem Unglück abhalten. Alle sind freiwillig hier.«

der autor relativiert in diesem buch, das er eine »ruppige Liebeserklärung« nennt, ein bürgerliches bild vom rheinland. seine figuren sind sozial und kulturell durchaus verschieden geprägt. rheinländer, denen das rheinland hochkultur verkörpert, würden einem satz wie »Die meisten Menschen im Rheinland sind unverbesserlich, sie machen immer die gleichen Fehler und besitzen nicht die saturierte Möglichkeit, das Leben mit Kultur zu verfeinern.« sicher widersprechen. die heutigen folkloristischen identitätskämpfe zwischen linksrhein und rechtsrhein kultivieren, trotz vorhandener historisch gewachsener unterschiede, freilich eher vorurteile.

und es gibt ja auch viele übereinstimmungen in der rheinischen mentalität, die permanent konventionen im detail unterwandert. »Originalität entsteht im Rheinland nicht aus sich selbst, sondern in Abweichung vom Modell, in seiner zitierenden Überschreibung.« und »Im Rheinland lebt man eine Mischung aus Sehnsucht, Ironie, doppelbödigem Grössenwahn und Witz.« immer wieder wird auf den spielerischen umgang mit freuden und lasten des lebens hingewiesen. »Die Rheinländer nutzen Sprache nicht, um etwas mitzuteilen, sie erzählen von der Illusion der eigenen Wirklichkeit.« und »Möglicherweise existiert das Rheinland nicht wirklich; ist diese Region eine Halluzination, geboren im Rausch.« in einem gespräch zitierte der autor albert camus: »Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können − der Humor über das, was sie sind.«

weigoni, der bemerkt, man erfahre »an den Rändern einer Gesellschaft mehr über ihren Zustand als in ihrem Zentrum.«, betrachtet realitäten aus der perspektive derjenigen, die verhältnisse überwiegend als objekt erleben und sich ihre subjektivität erst erkämpfen und erarbeiten müssen, also von unten. so erkundet er den »Bodensatz des Rheinlands«, das randständige und absonderliche, und darin das wesentliche im vermeintlich nebensächlichen. edgar allan poe vermerkte: »Erfahrung hat gezeigt, dass ein großer, vielleicht der größere Teil der Wahrheit aus dem scheinbar Unwichtigen geschöpft wird.« und »dass gerade die Absonderlichkeiten es sind, die der Vernunft auf ihrer Suche nach der Wahrheit die beste Handhabe bieten.«

Lokalhelden schildert die vielfalt entfremdeter lebensformen in einer welt, die äußerlichkeiten, masken, kostüme und etiketten häufig mehr schätzt als innere werte, inhalte, haltungen und fähigkeiten. hat der wirtschaftliche sieg des bürgertums zu einem verfall der bürgerlichen werte geführt? viele der figuren, von denen dieser roman vor allem handelt, wollen zwar individuell sein, folgen aber letztlich nur verschiedenen facetten des zeitgeistes, die sie für ihre selbstvermarktung nutzen, und sind so, obwohl nicht selten, gewollt oder unfreiwillig, außenseiter, oft bloß postmodern und kleinbürgerlich systemkonform.

man begegnet künstlern, etwa musikern unterschiedlicher stilrichtungen, mitarbeitern des kulturbetriebs, regionalpolitikern, journalisten, restaurantbetreibern, fußball-fans, kleinkriminellen, haftentlassenen, geheilten drogenabhängigen. sogar ein polizeichef taucht auf. hinzu kommen intellektuelle, die ihre meist wirkungslos kritischen weltsichten verkünden. die dialoge dieser »Schwadrosophen« erinnern bisweilen an die bemerkung lichtenbergs »Ein großes Licht war der Mann eben nicht, aber ein großer Leuchter … Er war Professor der Philosophie.« in der bürgerlichen welt ist die folgenlosigkeit der kunst und literatur, und damit die entfremdung der künstler und schriftsteller gegenüber der gesellschaft, die voraussetzung ihrer freiheit und autonomie.

all diese gestalten des tages und der nacht führen sich in diesem roman mit ihren handlungen, wie die sprechenden figuren mit ihren worten, selber vor, wodurch psychogramme entstehen. gruppen der jugendkultur werden geradezu ethnologisch beschrieben, besonders randgruppen, bis hin zu antirassistischen skinheads. wiederholt spielt der fußball eine rolle. »Sport ist erst Sport, wenn Resultate in Zahlen zerlegt werden, und addiert eine Statistik ergeben. Es gehört zu den deutschen Tugenden, die Dinge vom Ergebnis her zu betrachten.« was bräuchte man, wenns den fußball nicht gäbe? vielleicht hahnenkämpfe oder kampfhunde. damit verglichen ist fußball immer noch die kultiviertere variante.

auch gibt der roman einblicke in die kriminalität düsseldorfs, die offenbar metropolenniveau hat. wo kriminelle besonders aktiv sind, ist urbaner lebensraum. hierzu fällt einem wiederum lichtenberg ein: »Die Linien der Humanität und der Urbanität fallen nicht zusammen.« statistiken belegen, je größer die einwohnerschaft einer stadt, umso höher wird die kriminalität pro kopf der bevölkerung. einbrüche und diebstähle gelten inzwischen sowieso als kavaliersdelikte und werden kaum noch aufgeklärt.

die meisten szenen und dialoge, und nicht selten monologe, von »Lokalhelden« spielen tatsächlich in lokalen, vor allem der düsseldorfer innenstadt, einige indes auch an der frischen luft. ebenso begegnen sich sonst getrennte menschengruppen in der straßenbahn, die einst lokomobile hieß, also fahrender raum, oder bewegter ort. überdies erfährt der leser manches aus der geschichte der populären musik, der gastronomie, von brauereien und biersorten und der kunst des bierbrauens sowie kulinarischer spezialitäten und ihrer zubereitung am rhein. das cover-bild zeigt ein gefülltes »Alt«-bierglas.

weigoni ist ein autor der verknappungen und der roman in einem skeptischen tonfall geschrieben. »Viele Worte zu machen, um wenige Gedanken mitzuteilen, ist allüberall ein untrügliches Zeichen von Mittelmäßigkeit.« die meisten figuren sprechen umgangssprachlich, dialekt und jargon inbegriffen. so liest, oder hört, man in diesem buch etliche wortprägungen regionaler herkunft sowie der szenesprache. gleich am anfang tauchen worte auf wie »Gesichtsbaracke« oder »Mürbekuchenantlitz«. michel der montaigne vermerkte: »Ich wünschte, ich benutzte nur solche Worte, die auch in den Markthallen zu Paris gebräuchlich sind!« aufgrund der dialektanklänge las ich mitunter auch hochdeutsche passagen im rheinischen tonfall. das unverhohlene und zugleich mehrdeutig andeutungsvolle umgangssprachliche reden, das zahlreiche sprachliche verfremdungen verwendet und erfindet, ließ mich ans berlinische denken. daß im rheinland »wohlkalkulierte Pöbeleien gerade wegen ihrer Unbestimmtheit wirken.«, heißt es.

eine vorbemerkung lautet: »Die deutsche Rechtschreibung (gemäss Dudenredaktion) konnte auf diesen Heimatromannur bedingt angewendet werden, weil diese Schreibweisen den Figuren den Atem geraubt hätten.« lichtenberg meinte: »Es gibt eine wahre und eine förmliche Orthographie.« nicht untypisch für weigonis kommentierenden schreibstil, der sprache gleichermaßen ernsthaft und persiflierend nutzt, ist ein satz wie: »Die Rheinländer sind nicht von vornherein einverstanden mit der Gesamtsituation, sie changieren zwischen schlechter Laune und spätjuveniler Verzweiflung, plus autoerregter Adoleszensaggression und tuberkulösem Ganzkörperseufzen, Weltschmerz und Weltekel; dabei geht es ihnen weniger um das grosse Ganze als um das kaputte Kleine.«

Lokalhelden ist ein buch der desillusionierungen. der roman betont einerseits rheinische eigenheiten, hat aber zugleich die deutsche gesellschaft insgesamt im blick, die er analytisch beschreibt. wo weigoni rheinland und rheinländer sagt, meint er vielfach die verhältnisse und verhaltensweisen der menschen der gegenwärtigen epoche. »Aus Untertanen wurden Bürger, die zu Kunden mutierten, denen mit der Kommerzialisierung des öffentlichen Lebens auch die Würde abhanden kam.«, »Die Katastrophe wird negiert, um einer Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, selbst zu überleben.« und »Der Sozialstaat ist keine Wohltat, sondern Abschlagzahlung dafür, dass der Bürgerkrieg unterbleibt.« da muß man hoffen, daß die verantwortlichen dies immer noch wissen. schließlich haben die folgen sozialen elends zu kriegen und völkermorden geführt.

der autor konstatiert: »Etwas ist verloren gegangen, eine Instanz im Menschen, welche nicht nur materiell, sondern auch moralisch wertet, die den Wert kennt und nicht den Preis.«, »Im Zeitalter des Authentizitätswahns wird Empörung inszeniert.«, »An der Front der Frustrierten treffen sich jene Modernitätsverlierer, für die das Verlieren zur zweiten Natur geworden ist.«, und »Aggressivität scheint die letzte Form übriggebliebener Freiheit zu sein, eine Notwehr von Antriebslosen.«

giorgio agamben schrieb in »Kindheit und Geschichte / Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte« über den mangel an verinnerlichten existentiellen erfahrungen beim modernen menschen: »Heute aber wissen wir, daß es zur Zerstörung der Erfahrung keinerlei Katastrophe bedarf und daß die friedliche Alltagsexistenz in einer Großstadt zu diesem Zweck vollkommen genügt.« und: »Der zeitgenössische Mensch kehrt abends nach Hause zurück und ist völlig erschöpft von dem Wirrwarr von Erlebnissen − unterhaltenden oder langweiligen, ungewöhnlichen oder gewöhnlichen, furchtbaren oder erfreulichen −, ohne daß auch nur eines davon zu Erfahrung geworden wäre.«

das größte denkhindernis ist das leben selbst. menschen sind perfekt darin, realitäten für sich auszunutzen, die sie nicht verstehen wollen. sobald sie lebensinteressen haben, halten sie für richtig, was sie sofort ablehnen würden, wenn es außerhalb ihres lebens geschähe. der mensch im allgemeinen hat nichts gegen unrecht. er will nur selber nicht darunter leiden und möglichst noch davon profitieren, am besten, indem die unrechtshandlungen in unpersönliche strukturen ausgelagert werden. was aber, wenn sich herausstellt, daß gesellschaftliches unrecht nicht nur dem aktuellen entwicklungsstand der menschheit entspricht, sondern sogar der genetischen prädisposition des menschen? man müßte also, wenn man eine humane gesellschaft erreichen wollte, den menschen an sich verändern, was unweigerlich zu neuen deformationen führen würde. gegen diese pessimistischen aussichten sei walter benjamin zitiert:

Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrtausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang.

dies ist natürlich sehr idealistisch gedacht. einige jahrtausende werden wohl noch vergehen, ehe eine humane menschheit entsteht. einstweilen wird man sich mit lokalen humanitätsinseln begnügen müssen.

 

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Alle Exemplare des Prosa-Werks sind handsigniert und limitiert in einem Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich, es ist ein Akt der Werkoffenbarung. Darin enthalten sind die Novelle Vignetten, die Erzählungen Zombies, der Novellen-Band Cyberspasz, a real virtualityDer erste Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet und der „Heimatroman“ Lokalhelden.

Und nur in diesem Schuber enthalten sind das Hörbuch 630, sowie Weigonis Gebrauchsprosa Vorlass, in dem biographische, werkgenetische und poetologische Fragen beantwortet werden.

Künstlerbücher verstehen diese Artisten als Physiognomik, der Büchersammler wird somit zum Physiognomiker der Dingwelt. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421