Vorbemerkung der Redaktion: In diesem Jahr machen wir das vergriffene Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse auf KUNO recherchierbar.
Zeitnah (hier und heute): Wir schreiben, reden und träumen uns um Kopf und Kragen. Die Erinnerungen verschmelzen mit der Realität. Die Vergangenheit wird mit jedem darüber Reflektieren verändert, neu interpretiert und vor allem mit Lügen gefüllt. Als meine Mutter wusste, dass sie bald sterben würde, sah sie mich fast vorwurfsvoll an. Erst später wurde mir bewusst, dass es nicht um den Tod an sich ging, sondern darum, dass sie Wichtiges nicht mehr würde sagen können. Welche Geheimnisse sie mitgenommen hat, das weiß ich nicht.
Zeitfern: Das heißt, wenn wir leben, können wir etwas Wichtiges sagen. Aber was ist wichtig? Und was wollen wir unbedingt noch sagen, so kurz vor dem Tod? Zenit. Alles bricht. Nicht am Sonntag: Da ist sonnenweiß am Morgen. Sie lachte beim Kaffee. Berührt die Füße. Lustvoll in mir und zärtlich. Wir trinken und lächeln. (21 Jahre in der Erinnerung). Anhauch müde in den Augen. Liebe der Nacht in den Muskeln. Wir lachten am Morgen. Worte ja und egal, nichts, was will ich wichtiges sagen, wenn ich sterbe. Es wird nichts geben.
Zeitnah (ja, jetzt): Wir müssen erst den Tod abhandeln, um zu den Genen zu kommen. Das ist die Antwort auf all das, was du geschrieben hast und ich nie las.
Zeitfern: Ignorant. Natürlich hast du es gelesen. Deine Antwort: „Echt krass.“ Der Tod ist kurz. Also viele Wörter beschreiben das kurze Ende. Und Ende ist vorbei. Nicht mehr denken können. Nichts. Auch nicht etwas. Man könnte Millionen Wörter verwenden. Für das Ende. Ich spare das aus. Wörter für das Leben gibt es noch viele. Das handelnde Prinzip sucht das leidende Prinzip. Die Fülle liebt die Leere. Ich stelle die Lichter um. Jetzt, Februar, der warme. Vögel baden sehr früh. Ich höre jetzt: Warme Winde, singen in offener Winterjacke. „Deine Gewalt ist nur deine Suche nach Liebe. Ein stummer Schrei.“ (tote Hosen) Die Sprache enthält kein Wort, auf das es ankommt. Aber es gibt dieses Fieber. Wenn ich male. Es verhindert die Form. Der Tod, wo bleibt er? Egal. Töte mich morgen, lass mich heute noch am Leben. Lalie Lalu.
Zeitnah (ja, hier): Zwei Dinge, die mir immer wieder auffallen? Erstens dieses doch so offensichtliche Spiel mit der Dualität: Ja oder nein, kurz oder lang. Alles muss seinen Gegenpol erhalten, auch Leben und Tod. Und das glaube ich einfach nicht. Es gibt nicht nur das Sein und das Nicht-Sein, sondern viele Stufen dazwischen, Zwischen rau und glatt liegt fast schon glättlich.
Die andere Seite mit der Behauptung fehlender Sprache, neuer, was dabei herauskommt sind Bilder jenseits des Sprechaktes, als sichtbares Manifest des ICH WILL.
Zeitfern: Die Dualität ist unser Leben. Hier wird alles, fast, gefestigt. Die Pole Anfang/ Ende. Punkt. Also reden wir über das „Dazwischen“. Wie immer. Ich sehe was, was du nicht siehst. Ich ziehe umher mit meinen Gedanken. Suche Orte. Was bleibt nach vielen Jahren. Alles wächst. Wirft Schatten. Will neue Orte suchen, mit freier Sicht. Neue Lichtungen. Ich brauche Sichtbarkeit. Rundum. Schatten schmerzen. Schattenmale im Kopf. Doch noch mal dazwischen das Schöne. Dualität: Weißes Blau, Anmut und Azur, Italiener nehmen keine Butter, Begonien haben oft Läuse. Harte Schwämme. Ohne Wasser, Cerberus hat drei böse Gesichter. Ich nehme meine Augenbinde ab. Will wieder hier sein. Sorry, Zeitnah, habe mich verzettelt. Und nichts gesagt. Kalibrieren mal. Zum Hören.
Zeitnah (im Raum- und Zeitkontinuum verlaufen): Wieder einmal wolltest du mich auflaufen lassen. Das Schiff meiner Vorstellungen und liebgewordenen Gewohnheiten hinterrücks zum Kentern bringen, von wegen verzettelt. Du hast die Zettel stapelweise geworfen und gleichmäßig über die Gedankenlandschaft verteilt, wissend, dass ich das nicht so hinnehme, nicht so stehen lassen kann. Es gibt nicht nur das Ja und das Nichtja. Da finden sich auch das Fastja und das Geradenochja, all die Schattierungen des Fragwürdigen, die nicht so einfach zu kontern sind, die sich nicht in unsere wohlgebauten und samtgefütterten Schubladen und Sortenkästen einordnen lassen. Immer dann nämlich, wenn ich die semantische Unabwägbarkeiten, jene paradoxen Ungenauigkeiten entdecke, in den Argumentationen und hochtrabenden Betrachtungen und Erläuterungen der Hochgelehrten. In den banalen und flapsigen Äußerungen des gemeinen Volkes ebenso. Nein, du kannst mich nicht narren und so mir nichts dir nichts in die Irre führen. Ich glaube nicht an dieses einfache System.
Zeitfern: Ja, ja, natürlich beinhaltet das Denken die große Bandbreite des Lebens. Anfang und Ende. Jeder weiß es, jeder spürt es. Ich denke, alles wiederholt sich. Nicht gleich, aber unter anderen Ereignissen. Zum Beispiel: Ich werfe vor vierzig Jahren einen Stein irgendwohin. Was geschieht danach? Ok, das ist Kleinfritzchendenken. Nur anders. Ich meine auch nicht die berühmten Schmetterlingsschläge am Amazonas, die irgendwo auf der Welt Sturm auslösen. Ich meine, man tut etwas, eben diesen Stein werfen. Nach zirka vierzig Jahren wiedergefunden. Habe lange gewühlt im Wald. Aber gefunden. Er hatte sich nicht verändert. Waldmeister war darüber gewachsen. Doch die Erinnerung weiß ich noch. Dieser Ort, nah am Weg. Den es heute nicht mehr so gibt. Da, wo wir gesessen haben, gelegen, im Wald, geliebt. Auf der Hut, weil am Weg. Es war Sommer. Ich nahm einen Stein. Da lagen nicht viele griffbereit. Warf ihn ein paar Meter weg. Sagte: Das soll unser Glück sein. Sie lächelte, sagte: Den findest du nicht wieder. Uns, unser Geruch war einst. Wir waren glücklich. Erinnerungen dazwischen. Ich habe den Stein noch mal geworfen. Es gibt immer Orte, da ist was Magisches dran geheftet. Im Kopf verankert, ganz tief. Komme ich an diese Orte, springt die Vergangenheit mir ins Gesicht.
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Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse in der Edition Das Labor, Neheim 2014
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Eine Einführung zum Projekt Gezeitengespräch findet sich hier. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Künstlerbücher verstehen diese Artisten als Physiognomik, der Büchersammler wird somit zum Physiognomiker der Dingwelt. Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421