Willkommen in der Turing-Galaxis

Pink Floyd bleibt im Kopf – eben weil den Leuten kein Gedächtnis mehr gemacht werden muss, sondern Maschinen selber das Gedächtnis sind.

Friedrich Kittler

Mit Maschinen meint Friedrich Kittler die technischen Medien, er steht für einen neuen Ansatz der Medientheorie, der von den technischen Medien ausgeht und ab den 1980er Jahren zunehmend populär wurde. Den Begriff „Aufschreibesysteme“ entlehnte Kittler dem Werk von Daniel Paul Schreber. Er bezeichnet bei Kittler „das Netzwerk von Techniken und Institutionen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben.“ Dies ist auch als Sympathieerklärung (in der Tradition Foucaults) für den Wahnsinn zu verstehen. Laut Kittler hat alle Wissenschaft ein paranoides Element.

Als alphabetisches Monopol kennzeichnet Friedrich Kittler in seiner Medientheorie das typografische Aufschreibesystem vor 1900, das als Zeitspeicher ausschließlich über Texte und Partituren verfügt habe; diese „Zeitspeicher“ waren noch keine unmittelbaren Aufzeichnungen, sondern symbolische Repräsentationen.

Die Gutenberg-Galaxis mit dem so genannten Leitmedium Buch ist nach Kittler im Anschluss an seinen Gewährsmann Marshall McLuhan durch die Prämierung der gedruckten Schrift und seiner Erzeugnisse gekennzeichnet. Diese Sichtweise wird durch die in der Traditionslinie von McLuhan stehenden Medienwissenschaftler allgemein geteilt; so argumentiert beispielsweise in diesem Sinne auch Michael Giesecke in seiner Monografie zum Buchdruck in der frühen Neuzeit (1989) oder der Schüler Kittlers Norbert Bolz in Am Ende der Gutenberg-Galaxis (1993).

Der Buchdruck neigte dazu, die Sprache von einem Mittel der Wahrnehmung zu einer tragbaren Ware zu verändern. Der Buchdruck ist nicht nur eine Technologie, sondern selbst ein natürliches Vorkommen oder Rohmaterial wie Baumwolle oder Holz oder das Radio; und wie jedes Rohmaterial formt es nicht nur die persönlichen Sinnesverhältnisse, sondern auch die Muster gemeinschaftlicher Wechselwirkung.

Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy, 1962

Das alphabetische Monopol begann – nach Kittler – ab etwa 1880 mit der technischen Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift zu zerbröckeln und wurde erst um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert durch die Möglichkeit des direkten Speicherns von akustischen und optischen Daten in ihrem Zeitfluss endgültig gebrochen („Auge und Ohr sind autonom geworden“); die kennzeichnenden Massenmedien bzw. Medienverbünde dieses Umbruchs sind Phonograph und Grammophon, Kinetoskop bzw. Film sowie der Typewriter bzw. die Schreibmaschine, die Kittler zusammenfassend als Aufschreibesystem 1900 charakterisiert.

Kittler sieht – als prominentester Vertreter der „Technizität des Textes“ – die Ursachen des alphabetischen Monopols im Medium des Buchdrucks selbst begründet, also im jeweiligen Aufschreibesystem. Dieses determiniert nicht nur das jeweilige Bewusstsein und die gesellschaftlichen Wirkungen, sondern sogar den Menschen an sich: „Was Mensch heißt, bestimmen […] technische Standards“ (Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine 1989, in: Draculas Vermächtnis, Leipzig 1993, S. 61)

Als wohl wichtigste Auswirkung des alphabetischen Monopols sieht Kittler das Konzept des Subjekts, welches wiederum mit dem Bruch des alphabetischen Monopols zerfällt; als Gewährsmann führt er hierzu Lacan an (Grammophon Film Typewriter 1986, S. 248)

Medien zu verstehen, ist eine Unmöglichkeit, weil gerade umgekehrt die jeweils herrschenden Nachrichtentechniken alles Verstehen fernsteuern und seine Illusionen hervorrufen.

Friedrich Kittler

Eine der Auswirkungen des Bruchs mit dem alphabetischen Monopol beschreibt Walter Jackson Ong als sekundäre Oralität der Medienakustik, also als eine Wiederkehr oraler Traditionen (mündliche Überlieferung) unter dem Vorzeichen moderner Medientechnologien wie Hörfunk und Fernsehen.

Der Begriff alphabetisches Monopol bezieht sich explizit auf das Alphabet, also eigentlich auch auf die mediengenealogische Epoche der Literalität; die Terminologie bezieht sich also möglicherweise auf zwei distinkte Phasen der Medienentwicklung, da er die Schrift an sich und nicht den Buchdruck im Speziellen als Universalmedium betrachtet; diesen Aspekt führt Kittler jedoch nicht im Detail aus.

Kittlers Sichtweise blendet auch Speicher- und Reproduktionstechnologien wie die ab 1839 etablierte Fotografie aus, ohne dies schlüssig zu begründen oder überhaupt dazu Stellung zu beziehen.

Überhaupt bieten die Medienhistoriker sehr unterschiedliche und recht inhomogene Anschlüsse an die Gutenberg-Galaxis an; das Ende der Gutenberg-Galaxis setzt beispielsweise Marshall McLuhan mit der Entdeckung und Anwendung der Elektrizität an, während Norbert Bolz die Wende an die Entwicklung neuer Speicher- und Übertragungsmedien koppelt; weitere Angebote sind Manuel Castells‘ McLuhan-Galaxis, die durch das Leitmedium Fernsehen gekennzeichnet ist und durch die so genannte Internet-Galaxis abgelöst wird.

Wir können die Identität dieses Autors nicht überprüfen, es ist möglich, dass es sich um keine berühmte Person handelt.

Friedrich Kittler

Kittlers zentrales Projekt war es, „den Menschenwissenschaften […] ihr medientechnisches Apriori nachzuweisen“ (Hartmut Winkler), oder, mit seinen eigenen Worten, die „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“, so der gleichnamige Titel einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1980.

Kittler lehnte Marshall McLuhans Lesart der Medien als “extensions of man” ab: „Medien sind keine Pseudopodien, die der Menschenkörper ausfahren würde. Sie folgen der Logik der Eskalation, die uns und die Schrift-Geschichte hinter sich läßt.“ Medien aber sind nie autonom, vielmehr ist ihre Nutzung immer historisch.

Vereinfachend könnte man Kittlers Thesen dahingehend zusammenfassen, dass unser Wissen (und das, was wir für wahr halten) entscheidend von den Kulturtechniken abhängt, die wir benutzen.

Folglich sieht er im Schreiben von Literatur, dem Schreiben von Computerprogrammen und dem Einbrennen von Strukturen in Silizium-Chips ein Kontinuum:

Wie wir wissen und nur nicht sagen, schreibt kein Mensch mehr. […] Heute läuft menschliches Schreiben durch Inschriften, die […] mittels Elektronenlithographie in Silizium eingebrannt ist […]. Letzter historischer Schreibakt mag es folglich gewesen sein, als in den späten Siebzigern ein Team von Intel-Ingenieuren […] die Hardware-Architektur ihres ersten integrierten Mikroprozessors [aufzeichneten].

Kittlers technologisch-materialistischer Blick auf alle Hervorbringungen der Kultur wurde in den 1980er Jahren Mode unter Studenten und jungen Geisteswissenschaftlern, die man spöttisch „Kittler-Jugend“ nannte. Kittlers als elektrisierender Mittelpunkt der Zusammenkünfte scharte Schüler wie Norbert Bolz, Knut Ebeling, Bernhard Siegert, Wolfgang Ernst, Claus Pias und Christian Jendreiko um sich.

Kittler prägte in seinen Aufsätzen verschiedene, häufig zitierte Bonmots, etwa die These, Rockmusik sei der „Missbrauch von Heeresgerät“ und die Überschrift eines gleichnamigen Aufsatzes „Es gibt keine Software“.

Sein gesammeltes Schaffen überließ Kittler schon zu Lebzeiten dem Literaturarchiv Marbach. Darunter befinden sich neben ungedruckten Manuskripten, Vorarbeiten zu veröffentlichten Werken und ausgewählten Exemplaren seiner Bibliothek auch Briefwechsel zwischen ihm und befreundeten Wissenschaftlern wie Michel Foucault oder Jacques Derrida. Zu seinem Nachlass gehört ein ab Ende der 1970er Jahre von ihm gebauter Synthesizer. Ihn und weitere Stücke zeigt die Dauerausstellung des Literaturmuseums der Moderne.

Das Internet begann am 29. Oktober 1969 als Arpanet. Es wurde zur Vernetzung der Großrechner von Universitäten und Forschungseinrichtungen genutzt.

Was in den großen Medientheorien und dem damit verbundenen avisierten Aufbruch in die Utopie angekündigt wurde, ist kläglich gescheitert. Utopie bedeutet schließlich auch nur „Kein Ort nirgends“. Die Begriffe „Gegenöffentlichkeit“, „proletarische Öffentlichkeit“, „alternative Öffentlichkeit“ klingen angestaubt. Vertraut man auf Habermas, so findet ein weiterer „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ statt, doch sein „ zwanglose Zwang des besseren Argumentes“ ist längst zu einer eine idealisierten Intellektuellenidee geworden. Nach der Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit im Gutenbergzeitalter betrachten wir im Internet ihren rapiden Verfall, der durch globale Medienkonzerne und Manipulationen, Kennwort Fakenews befördert wird. Die Integrationskraft des öffentlichen Diskurses hat ihre Kraft eingebüßt, ohne herrschaftsfreien Diskurs ist eine rationale Selbstverständigung der Gesellschaft nicht möglich, Demokratie wird zur Fassade. Die so genannten „sozialen Medien“ bringen einen Medienwandel mit sich, bedauerlicherweise nicht in aufklärerischen Absicht, wie es einst Friedrich Kittler vermutet hat. Es scheint so, als würde die liberale Gesellschaft das Regellose rechter „Inforkrieger“ überschätzten. Dieser Typus bleibt Spießer und Streber, Konservativ und Karrierist, auch die neueste Ausgabe des Konservativen, der Nerd, steht vor seinem baldigen Verschwinden. Vielleicht wird es langsam Zeit den Stecker zu ziehen und sich in eine Hütte im Wald zurückzuziehen.

 

***

Friedrich Kittler: Werkausgabe – Zu Lebzeiten veröffentlichtes, Aufsätze, Artikel, Rezensionen, Miszellen 1981-1983 – Erschienen bei Merve, 2022

Herausgeber: Dr. Moritz Hiller und Prof. Dr. Martin Stingelin.

Herausgeberinnen: Luisa Drews und Prof. Dr. Eva Horn.

Formant Synthesizer (1983) von Friedrich Kittler, Literaturmuseum der Moderne, Marbach. Photo: ChickSR

In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, gefördert durch die Hubert Burda Stiftung. Das Vorhaben umfasst sowohl die Publikation sämtlicher Schriften und Reden Friedrich Kittlers, in gedruckter und digitaler Form, und darüber hinaus die Zurverfügungstellung sämtlicher veröffentlichbarer Materialien aus dem Nachlass in digitaler Form. Zu diesem Behuf wird die gesamte Produktion der Edition von Beginn an in einer eigens für die Edition geschaffenen digitalen Umgebung vorgenommen. Die Publikation des Kittler’schen Werkes stellt die Herausgeber vor besondere Herausforderungen, da es neben den Druckschriften und Vorlesungen auch eine Vielzahl von Schaltungsnotationen und insbesondere Programmcode umfasst. Das macht eine vollkommen neue Herangehensweise nötig, bei der Kittlers eigene Überlegungen zur Orientierung dienen. Die Werkausgabe verfolgt daher auch das Ziel, exemplarisch zu zeigen, in welcher Form eine Werkausgabe im 21. Jahrhundert – in der Turing-Galaxis – dauerhaft gelingen kann.

 

Weiterführend Ein Blick in das Laboratorium der Poesie

Margaretha Schnarhelt erkennt in der real virtuality eine hybride Prosa. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.